Der Freund und ich beim Seelsorger

Zehnter Stock der Rehaklinik.
Ich bin ein bisschen zu früh.
Setze mich schon mal an den runden Holztisch. Blättere ein wenig durch die Prospekte auf dem Tisch, in denen Gebete abgedruckt sind. Ich kann damit ja nichts anfangen…

Wenige Minuten später kommt der Seelsorger.
„Wie sind Sie denn jetzt hierher gekommen? Ja wohl nicht mit dem Fahrrad…?“
„Ich bin gelaufen…“, entgegne ich.
„Das war aber sicher mühsam. Sie hätten den Termin auch absagen können…“
„Ich glaube nicht, dass das ne gute Idee gewesen wäre…“

Dass zwischendurch die potentielle Bezugsperson als Ansprechpartner gefehlt hat, macht sich deutlich bemerkbar. All die Überlegungen, Sorgen, Fragen, die in den letzten drei Wochen kein Gehör gefunden haben, hallen jetzt durch den Raum.
Die Resignation auch. „Das ist seit sieben Monaten Sillstand und das wird auch nicht besser, wenn ich mir das wünsche oder einrede. Ich weiß nicht, wie ich jemals wieder ein vernünftiges Leben führen soll, wie ich je einen Partner finden soll, wie ich je wieder morgens aufstehen soll ohne Schuldgefühle. Ja, er war derjenige, der sich umgebracht hat, aber hätte er nicht eine Freundin wie mich gehabt, die mit sich selbst und ihrem Leben einfach nicht klar gekommen ist, wäre das auch nicht passiert. Vermutlich wissen die Menschen schon, warum Klapsen – Freundschaften so kritisch beäugt werden. Und bei uns… - ist es halt voll schief gegangen…“

Er hat die glorreiche Idee vom Stühle rücken. Ich soll mir vorstellen, dass der Freund dort auf dem leeren Stuhl mir gegenüber sitzt und mir meine Fragen beantwortet. Das funktioniert eher weniger. Also setzt der Seelsorger sich irgendwann dahin. Und weil mein Gehirn im Moment sowieso voll abdreht und in Jedem, der nur eine minimale Ähnlichkeit mit dem Freund hat, den Freund sieht ist das nicht schwer mir vorzustellen, dass der Freund dort sitzt. 

Mein allerliebster Park im Schnee...⛄ Übrigens ist mir zum Schneechaos auch eine schöne Metapher eingefallen; kommt die Tage noch...

 

Ich dachte zwischendurch er bringt mich um, weil es so weh tut.
Eine der wichtigsten Zusammenfassungen am Ende ist: Er hat mich geliebt, vielleicht mehr als ich das je geglaubt habe. Und ich… - ich habe ihn auch geliebt. Vielleicht auch mehr, als ich geglaubt habe. Aber weil meine verqueren Vorstellungen wie eine Beziehung zu laufen hat dazwischen kamen, habe ich es vielleicht nicht so wahr genommen. Konnte es ihm deshalb nicht so vermitteln.
Also haben wir uns beide geliebt. Aber irgendwie… - vielleicht zu wenig über das Wesentliche geredet. Nicht rechtzeitig zueinander gefunden. Und dann nahm es die bekannte Tragik.

Dann nimmt er mich in den Arm. Der Herr Seelsorger, stellvertretend als der Freund hält eine seit zwei Stunden, die es statt der einen geplanten Stunde geworden sind, schluchzende Mondkind im Arm.
Ich glaube, das ist die heftigste Stunde, die ich seit der Stunde mit dem Ergotherapeuten hatte.

Aber am Ende fühle ich mich ein bisschen verstanden, getragen und gehalten und es gibt kaum etwas beruhigenderes als in Momenten von völliger Zerbrechlichkeit ein fremdes Herz schlagen zu spüren. Ich habe die Worte nicht mehr alleine in mir, ich konnte sie teilen. Ich habe den Freund ein bisschen gespürt; nicht auf so erschreckende Weise wie sonst, wenn er mir quasi ganz unpassend im Krankenhaus auf dem Gang entgegen kommt, das Herz einmal kurz stehen bleibt und ich trotzdem weiter arbeiten muss. Ich konnte ihn spüren. Uns spüren. Ein ganz kleines Bisschen der längst vergangenen Zeiten ins Jetzt holen.

Ich habe mich mindestens fünf Mal bei dem Herrn Seelsorger bedankt. Für seine Zeit, sein Engagement, dafür, dass er das ausgehalten hat. Eine zerbrechliche Mondkind. Die fast alle Beziehungen in den letzten sieben Monaten kaputt gemacht hat.
Und jetzt genieße ich es heute nicht mehr arbeiten zu müssen, morgen auch nicht und einfach noch ein bisschen mit einem Tee chillen zu können. Ich muss jetzt nicht funktionieren. Es ist alles okay. Ich muss nicht fliehen. Ich darf bleiben und er auch. Für den Moment.

Mondkind

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