Stille

Abends.
Feierabend.
Schon als ich den Campus verlasse, vom Berg oben hinab ins Tal schaue sehe ich, dass sich das Licht der Laternen unten im Tal spiegelt. Dort unten steht also immer noch alles unter Wasser und ich muss über das Nachbardorf radeln.
Der kalte Fahrtwind pustet den Kopf einmal durch. Trägt aber nicht die Gedanken mit.

Die Tage sind kaum noch aushaltbar. Ich hoffe von jedem, dass ich ihn irgendwie überstehe. Liege jeden Tag halb 9 im Bett, schlafe fünf Minuten später und am nächsten Morgen reißt mich der Wecker aus dem Koma.

Die Gedanken an die „alten Zeiten“ haben viel Schmerz hoch geholt. Viele Erinnerungen. Haben so Vieles, das ein bisschen vergraben war, präsent werden lassen. So oft sehe ich den Freund. Bei jedem Menschen im Krankenhaus, der nur eine minimale Ähnlichkeit hat, bleibt ein Mal ganz kurz das Herz fast stehen.
Manchmal kann ich dankbar für die Erinnerungen sein. Aber so oft tut es einfach nur weh.

Ich habe mir vorgenommen, nicht mehr viel über ihn zu sprechen. Nicht mehr mit der potentiellen Bezugsperson, die gerade ohnehin nicht mehr mit mir spricht. Und nicht mehr mit den anderen Menschen um mich herum, von denen es nur noch wenige gibt. Ich kann das nicht mehr. Ich kann mir nicht mehr anhören: „Mondkind, wenn er Dir wichtig gewesen wäre, hättest Du…“ Ich kann mich nicht mehr so lange invalidieren lassen, bis ich selbst nicht mehr weiß, was wahr ist.
Das wird dazu führen, dass mich die Leute vielleicht in ein paar Wochen wieder für "normal" halten werden - obwohl es in mir drin nur lauter statt leiser wird. Es wird nicht ruhiger werden, bis dieses Thema irgendwo sicher ist.

Ich glaube, in den „alten Zeiten“ wäre dieser Zustand hier Grund genug für eine suizidale Krise. Wenn das Herz permanent weh tut, der Wintergarten nicht kalt genug sein kann, um abends dort zu liegen und zu spüren, wie das Leben und der Schmerz in mir gefühlt mal kurz erfrieren. Wenn die Erschöpfung so hoch ist, dass ich mir schon in den ersten Minuten des Tages die schützende Dunkelheit der Nacht wünsche. Wenn Arbeiten kaum noch möglich ist und ich nur hoffe, nicht gesehen zu werden. Wenn all die Worte in mir keinen Empfänger finden; wenn es niemanden mehr gibt, der seine Fußspuren ganz eng neben meinen hinterlässt. Wenn jegliches Tun hochgradig sinnlos erscheint und ich nicht weiß, ob und wann es besser wird – dann wären das Gründe genug gewesen.
Das sieht nur leider anders aus, wenn ich ein „wir“ auf meinen Schultern trage. Wenn etwas geblieben ist, das nicht mehr existiert. Wenn wir nicht mehr für uns gegenseitig da sein können, sondern wenn ich für uns beide da sein muss. Wenn es so viele Erinnerungen zwischen uns beiden gibt, für die ich jetzt Verantwortung tragen muss. 

Vielleicht schaffe ich es ja nochmal Fotos machen zu gehen... - schon beeindruckend...

Nächste Woche habe ich wieder drei Tage zwangsfrei bekommen. Eigentlich regt mich diese Politik im Krankenhaus sehr auf – man kann ja nichts planen, wenn das alles immer so kurzfristig entschieden wird. Abgesehen davon werde ich dann die letzten beiden Tage der Woche die Springerin sein und da ist man nach zwei Tagen ausgelaugter, als nach fünf Tagen regulärer Arbeit. Und ob wir im Sommer wohl alle noch Urlaubstage übrig haben... ? Man weiß es nicht...

Aber gerade bin ich sehr dankbar dafür. Wie ich die beiden Arbeitstage der nächsten Woche schaffe und die beiden ersten Dienste an zwei Wochenenden hintereinander, das überlegen wir uns irgendwann. Das muss die Mondkind von heute noch nicht wissen.
Aber es war so arg grenzwertig auf der Arbeit die letzten beiden Tage, dass ich einfach nur froh bin, dort mit diesem Kopf nicht mehr sein zu müssen.

Ich bin heute dem Chefarzt der Psychosomatik über den Weg gelaufen. Keine Ahnung, ob er mich noch kennt. Das hat mich erinnert an mein Gespräch mit ihm. Anfang Oktober war das. Damals meinte er eine zeitnahe therapeutische Anbindung sei wichtig; vielleicht sogar ein Klinikaufenthalt, wenn es nicht geht.
Ich weiß nicht, ob sich seitdem irgendetwas geändert hat. Man atmet und überlebt irgendwie. Und hofft still, obwohl wir ja alles durchtelefoniert und abgeklappert haben. Aber die Kraft ist am Ende. Ich weiß nicht, wie es weiter gehen soll. Ich weiß es einfach nicht.

Wie singt Lotte das so schön:

Wenn das alles vorbei ist, wenn hier von nichts mehr steht,
wenn niemand mehr fragt, ob Kaffee oder Tee
Wenn an keiner Tür mein Name mehr klebt
Dann soll da Liebe sein, wo ich war soll dann Liebe sein
Wo wir waren soll dann Liebe sein

Der Freund hat genau das geschafft. Es gibt keine Café – Dates mehr, es gibt keine Tür, an der sein Name noch steht. Aber was geblieben ist, ist ganz viel Liebe. 

Mondkind

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