Psychosomatik und Diensterlebnisse

Das Thermometer zeigt zweistellige Minusgrade an, das Fahrrad war am Bahnhof eingefroren und brauchte ein paar Meter um in den Tritt zu kommen. Ich spüre meine Zehen kaum noch und meine Zähne klappern, als ich mit zittrigen Fingern am späten Freitagabend den Schlüssel im Schloss meiner Wohnungstür drehe.
Und trotz der Tatsache, dass ich bei diesen Temperaturen und mit dem konsekutiven Bahnchaos hoffentlich so bald nicht mehr stundenlang durch das Land gurken werde, bin ich zutiefst dankbar, bewegt und berührt von dem, was sich in den letzten Stunden abgespielt hat. Es gibt einen kleinen Funken Hoffnung in der Dunkelheit und ein ganz vorsichtig zuversichtliches Gefühl, dass sich vielleicht das tief verschüttete Vertrauen in das Psychotherapiesystem doch rehabilitieren lässt nach allem, was passiert ist. „Ich habe das erste Mal seit sehr, sehr langer Zeit den Eindruck, dass ich nicht gegen dieses System kämpfen muss, nicht die dumme, unmündige Patientin bin, sondern, dass wir ein Team sind, das gemeinsam für ein bisschen Licht im Leben kämpft“, werde ich der potentiellen Bezugsperson am nächsten Früh zusammen fassen. 


 

Freitagmittag.
Auf der Station steppt der Bär. Die anderen gehen Mittagessen, aber ich habe keine Zeit. Abgesehen davon habe ich so viel Angst vor diesem Termin in der Psychosomatik, dass mein Magen rebelliert. Der für mich zuständige Oberarzt ruft noch mal an: „Sie geht noch ans Telefon…“, fängt er an. Eigentlich hatte ich schon lange weg sein wollen. „Mondkind ich habe keine großen Aufgaben mehr für Dich, ich wollte Dir nur noch schnell eine Info geben…“ Und wenig später. „Ich hab gehört Du musst Deinen Zug kriegen, jetzt verschwinde…“

Bahnchaos. Ausgerechnet dann, wenn es mal so richtig wichtig ist. Ich bin schon zwei Verbindungen eher los gefahren, mehr konnte ich nicht machen. Am Ende gibt es so viel Chaos mit verspäteten und ausfallenden Zügen, und welchen, die dann von einem anderen Gleis fahren, dass der Zugbegleiter, den ich verzweifelt frage, mich in den falschen Zug setzt. Das fällt ihm dann auch auf, aber da fahren wir schon. Hätte er nicht beim Zug in der Gegenrichtung angerufen um denen zu sagen, dass sie am nächsten Bahnhof auf uns warten sollen, hätte ich keine Chance mehr gehabt, es zu schaffen.

Die Stadt in der ich am Ende leicht hyperventilierend aufgrund des ganzen Chaos aus dem Zug falle, habe ich das letzte Mal im Frühling des letzten Jahres gesehen. Da hat der Freund noch gelebt. Ich war hier noch nie im Winter. Das ist so eine Sommer – Stadt, die in den warmen Tagen des Jahres fast etwas von einem südländischen Flair hat.

Mit etwas Herzrasen durchquere ich schnellen Schrittes den Park auf dem Weg zu der privat geführten psychosomatischen Klinik, in der ich mit dem dortigen Chef reden soll. Keine Ahnung, woher die potentielle Bezugsperson ihn kennt. Aber wenn man seinen Lebenslauf liest, wird einem dezent schwindelig und ich habe Sorge dort gleich wieder zu sitzen wie der kleine Assistenzarzt – Patient, der diesem Arztleben einfach auf allen Ebenen nicht gewachsen ist.

Er wartet schon im Foyer auf mich und ich bin schon ein bisschen erstaunt, dass sein Auftreten nicht wie das eines Chefs wirkt. Er ist ganz ungezwungen im Umgang und irgendwie habe ich vom ersten Ton an das Gefühl, dass wir uns trotzdem auf Augenhöhe begegnen.
Er führt mich durch die Klinik zu seinem Büro. Zuerst beginnen wir mit den Formalitäten. „Ach dann fließt vor Ihrer Haustür [der Bach]“, wirft er ein. „Ja…“, sage ich etwas erstaunt. Er wohnt im Nachbardorf, sagt er. Die potentielle Bezugsperson und er haben mal zusammen gearbeitet, treffen sich manchmal auf ihrer Spazierrunde. Aha… - manchmal hat das Landleben so seine Vorteile.

Was mich denn hierher führt, möchte er wissen. Ich habe mir bestimmt in den letzten Tagen eine Milliarden Mal überlegt, wie ich anfangen möchte, aber wie gestalte ich das so, dass er einen schnellen und vollständigen Überblick bekommt?  Ich lege damit los, dass psychische Sorgen jetzt nichts ganz Neues in meinem Leben sind und ich schon seit 2015 an die Ambulanz der Uni angebunden war (wobei er sofort einwirft, dass supportive Gespräche in einer psychiatrischen Ambulanz jetzt mal keine Therapie ersetzen), aber das Offensichtliche und im Vordergrund stehende Thema aktuell eben der Freund ist; alles andere steht dahinter. Vielleicht hatte ich gehofft, dass die potentielle Bezugsperson ihm schon davon berichtet hatte, aber er wusste nichts. Beeindruckend, wie schwer das immer noch ist zu sagen, dass der Freund gestorben ist. Und sich ewig um die Frage zu winden, wie das nun passiert ist. Ich war kurz davor zu sagen: „Es war ein Unfall…“, aber dann habe ich mich erinnert, warum ich da bin und dass es so nichts wird.
Ich erzähle ein bisschen über diese Freundschaft und irgendwann grätscht mein Gegenüber mir ins Wort und merkt an, dass ich mich sehr für alles rechtfertige und ob ich da irgendwie schlechte Erfahrungen gemacht hätte. Ich kann mich gerade noch beherrschen, nicht zu weinen. Ich habe gar nicht so viel über uns erzählt – dazu hatten wir auch einfach keine Zeit – aber er meinte, dass ihm relativ egal ist, wie ich diese Beziehung benenne, es war eine ganz tiefe emotionale Verbindung und das reiche allemal um mich so zu fühlen, wie ich mich fühle.

Als nächstes möchte er ein paar Eckpunkte über die Familie wissen – das wollen Psychosomatiker immer. Aber wie fasst man am Besten die Familie zusammen, ohne einen Roman zu erzählen? Ich erkläre, dass das auf so vielen Ebenen wahrscheinlich nie gepasst hat. Meine Eltern haben mich bestimmt sehr lieb, aber das ist auf einer emotionalen Ebene nie angekommen. Wir waren auf dem Papier eine Familie und haben unter einem Dach gelebt, aber etwas wie Nähe, Zusammenhalt, Unterstützung, bedingungslose Liebe hat es nie gegeben. Wir haben uns nie ungezwungen in den Arm genommen. Was dafür umso wichtiger war: Außenwirkung, Leistung, Perfektionismus. Beim sonntäglichen Gespräch über den Gartenzaun waren die Noten das Wichtigste, Schule und Studium stand vor allem anderen, Freizeit war irgendwie eine verbotene Tätigkeit. Es war ein Aufwachsen sehr weit entfernt vom Leben, von Alltag, von lebenspraktischen Dingen und von einer Welt, wie andere sie hatten. Es gab keine Hobbies, keine Freundschaften, nichts, was für so viele Menschen normal war. Und ich wäre da vermutlich bis heute nicht draußen, wenn ich nicht irgendwann meinen Koffer gepackt hätte und gegangen wäre.
Er fragt noch ein paar Dinge. Was die Eltern so machen, wo sie heute leben, ob sie mich heute immer noch versuchen in ihrer Lebenswelt einzuspannen.

Und dann… - wird es heftig. „Und dann haben Sie ein 1,0 – er Abi gemacht?“, fragt er. Gut, darauf kann man nach der Schilderung noch gut und gerne kommen. „Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber wenn ich mir das anhöre was Sie erzählen, dann bin ich mir sehr sicher, dass es in Ihrer Familie eine Essstörungsproblematik gibt…“ Wow… - ich bin beeindruckt. Hallelujah, der Mensch hat wahrscheinlich schon so viele Geschichten gehört, schon so viel gesehen, dass er es sich trauen kann, das einfach mal als Aussage zu formulieren. Aber vielleicht… - das kommt mir dazu in den Sinn – bin ich dann auch nicht alleine Schuld, dass ich seit fünf Jahren in dieser Psychiatrie – Mühle hänge. Vielleicht war das mit dieser Familie einfach vorprogrammiert. Das heißt nicht, dass ich nicht Verantwortung dafür trage ein gutes Leben zu führen, aber vielleicht steht doch nicht ganz so viel Eigenverschulden auf meinen Schultern, wie die Menschen da gern hinstellen.
Es geht weiter. „Ich glaube, Sie hatten und haben auch sehr viel mit Suizidgedanken zu tun.“ Also so mehr als Aussage, denn als Frage, hat das auch noch niemand formuliert. Ich bin erstmal kurz erstarrt. Wir kennen uns 20 Minuten und dann kommt er mit dem Thema um die Ecke. „Ist es so?“, fragt er nach. Ich gehe kurz in mich. Was ich jetzt sagen will. „Suizidalität beschäftigt mich mindestens mein halbes Leben schon…“, sage ich und er notiert etwas auf seinem Zettel. „Im Moment bin ich da sehr unsicher. Ich hätte gern noch die Freiheit zu sagen, dass ich das alles nicht machen muss, wenn ich es nicht mehr ertragen kann. Aber seitdem der Freund gestorben ist, existieren so viele Erinnerungen, die es zwischen uns beiden gab, nur noch in meinem Kopf. Die einzige Person auf dieser großen Welt, die das weiter tragen kann, bin ich. Und deshalb muss ich versuchen noch ein bisschen zu bleiben – egal wie unerträglich es scheint…“ Die ersten Tränen in meinen Augen. Weil diese Worte so sehr weh tun, weil sie mich in einer Welt fangen, in der ich nicht sein will und von der ich nicht weiß, wie lange ich sie noch aushalte. Und, weil ich erstaunt bin über meine eigenen Worte, über den Wahrheitsgehalt darin, weil ich meine Seele gerade dieser Person öffne und im selben Moment Angst habe, dass er es vielleicht doch wieder gegen mich verwendet. Aber er bleibt ganz ruhig, sagt, dass es okay ist, aber dass wir natürlich aufpassen müssen, dass wir nicht den Punkt verpassen, ab dem das in psychiatrische Hände muss.

Wir kommen zurück auf den Freund. Er selbst sagt, dass dieses Ereignis vor dem familiären Hintergrund natürlich eine andere Brisanz hat. Er war der erste Mensch, an dem mein Herz hing. Ganz zwischenmenschlich gesehen, nicht im Sinn einer Bezugsperson. Er war meine Idee von Zukunft. Und wenn wir zusammen ziehen wollten, dann spreche das für sich, sagt er. Er war mein Ausbruch aus dieser beengten Welt, in der ich groß geworden bin. Er hat mich an die Hand genommen, mir nicht nur die Stadt, in der ich studiert habe gezeigt, sondern auch das Leben. Er war mein Übergang in die Welt, in der ich heute lebe, in die Normalität, in der ich auch nach all den Jahren noch nicht ganz angekommen bin.
Ich bin zutiefst berührt und bewegt von diesen Worten. Ich muss nicht darum kämpfen, dass sie gehört werden, dass das was ich sage, wahrgenommen wird. Er erfasst diese Geschichte innerhalb weniger Minuten.

Kurz schneiden wir noch ein paar andere Themen an. Wie das überdimensional große Schuldthema und er redet noch kurz über Wut. „Wahrscheinlich erlauben Sie sich das nicht und dann versteckt sich die Wut auch gerne mal in anderen Themen. Aber am Ende war das auch ein Beziehungsabbruch von seiner Seite. Ich sage Ihnen das nur schonmal – darüber dürfen sie auch wütend sein. Sie hatten keinen Abschied und keine Aussprache am Ende. Das fehlt ganz viel…“
Er fragt mich, ob ich im Moment ein emotionales zu Hause habe. Ob es einen Ort gibt, an dem ich einfach mal sein kann, willkommen und sicher bin. Und… - naja…??? – eher nicht…?

Es geht um Arbeitsfähigkeit. „Ich habe lange genug gefehlt letztes Jahr“, erkläre ich. „Es lenkt ja auch ab und Ablenkung brauche ich schon. Ich kann mich halt nur absolut nicht konzentrieren. Kann mir keine Patientennamen merken, keine Diagnosen, nichts. Wenn ich nicht überall mein Tablet mit hin schleppe, bin ich verloren.“ Er sagt, er versteht meine Ambition. Aber mir soll klar sein, dass das nicht selbstverständlich ist mit dem, was ich gerade mit mir herum trage, zu arbeiten. Und wenn es nicht geht, dann geht es nicht. (Dann darf er das aber bitte meinem Chef erklären…)

Am Ende klären wir, wie es weiter geht. Er selbst kann die Therapie mit mir nicht machen, weil er keine Zeit hat, was schade ist. (Und ich könnte ihn wahrscheinlich nicht bezahlen…). Aber er bietet an, die Medikamentenüberwachung zu übernehmen. Er findet es nämlich nicht so gut, dass ich meinen Hausarzt noch nie gesehen habe und alles was er macht, das Unterschreiben von Rezepten ist. Dann hätte der Psychosomatiker nämlich – auch wenn wir keine therapeutischen Gespräche führen – einen Überblick darüber wie und ob die Therapie läuft, wenn wir uns in größeren Abständen mal sehen. Außerdem telefoniert er mit dem Ausbildungsinstitut, das er auch leitet und wird dort versuchen, dass ich ganz zeitnah einen Therapeuten bekomme. Ich soll dann nächste Woche auch dort anrufen und dann sollten die Bescheid wissen.

Wir kommen darauf zu sprechen, dass ich mit dem Zug da bin. Ungünstig, sagt er. Weil es eine unfassbare Fahrerei ist. Ich erkläre, dass ein Auto in Planung ist, aber mit dem Lockdown und geschlossenen Fahrschulen ist es schwer aktuell. Er fragt mich nochmal, ob ich in meinem Wohnort wirklich alles abtelefoniert habe, fragt auch nochmal nach, ob die Psychosomatik bei uns nicht etwas tun kann und versteht es nicht so richtig, dass die in so einem akuten Fall nicht helfen konnten.
„Ich verstehe schon, dass Sie jetzt nach sieben Monaten einfach keine Kraft mehr haben – vor allem, weil das ja bisher scheinbar auch noch nicht wirklich bearbeitet wurde“, sagt er. Und wenn es im Heimatort nicht geht, dann müsse das jetzt der Plan sein. Ich soll mit meinen Vorgesetzen sprechen, dass ich es trotzdem zeitlich einrichten kann gelegentlich vorbei zu kommen, bis das Mobilitätsproblem gelöst ist, dann könne man die Frequenz der Termine auch anheben. Wir müssen uns alle um eine schnelle Lösung bemühen sagt er; keiner würde wollen, dass das jetzt noch weiter eskaliert.

Er entlässt mich mit ein paar Telefonnummern. Und ich betone nochmal, dass ich sehr dankbar bin, dass dieser Termin innerhalb von ein paar Tagen zu Stande kommen konnte und dass ich auch ganz berührt bin von so viel Unterstützung und Hilfe.

Im Anschluss durchquere ich die Stadt wieder, mache mich auf den Weg heim.
Zu Hause kann ich das erste Mal an diesem Tag etwas essen. Unfassbar, wie sehr mich dieses Psychotherapie – System eingeschüchtert hat in den letzten sieben Monaten. Ich hoffe und bete einfach, es funktioniert, was der Herr dort gesprochen hat. 

 

So sieht die Welt dort im Sommer aus...

Samstag habe ich Dienst. Ich bin – wie mit der potentiellen Bezugsperson verabredet – schon 15 Minuten früher in der Klinik, damit er mir noch eine kleine Übergabe seine Station machen kann – das hatten wir gestern nicht mehr geschafft. „Mondkind, ich habe mich gestern Abend sehr über Deine Mail gefreut…“, sagt er. Ich frage ihn, ob wir nächste Woche nochmal über die organisatorischen Probleme reden können. Denn ein bisschen Hilfe brauche ich schon – so wäre ich beispielweise sehr dankbar, wenn man jetzt nicht versuchen würde innerhalb von wenigen Wochen alle Überstunden abzubauen, sondern wenn ich die genau dafür nutzen könnte und nicht weiterhin – wie schon viel zu viel geschehen – unnütz frei nehmen müsste. Und jetzt eigentlich wieder Überstunden aufbauen muss, damit es bis in den Frühjahr reicht und wir ja auch immerhin die Wenigsten davon aufschreiben dürfen.
Er sagt wir sprechen darüber und ich hoffe, wir finden Lösungen. Es wäre blöd, wenn es daran scheitert, dass ich jobtechnisch so eingebunden bin, nachdem ich jetzt gefühlt wochenlang ständig frei hatte, dass ich es einfach zeitlich nicht schaffe. Da hätte auch keiner etwas davon, wenn ich in ein paar Wochen nicht mehr arbeiten kann.

Er bietet mir an, dass ich ihn versuchen kann zu Hause anzurufen, wenn die Hütte im Dienst total brennt. Ich glaube… - wir rücken wieder ein bisschen aufeinander zu. Vielleicht sollte ich ihm gegenüber einfach vorsichtiger sein mit Themen, von denen ich weiß, dass sie uns beide überfordern – das führt immer zu Krisen zwischen uns. Aber vielleicht habe ich dafür ja bald auch einen professionellen Ansprechpartner.

Der Dienst ist an diesem Samstag nicht besonders ruhig. Es gibt ein paar Stroke Angel, die meisten davon kommen tatsächlich noch im Lysezeitfenster.
Ein Patient kommt unangemeldet, unter Isolationsbedingungen und fällt wenige Minuten nach der Ankunft theoretisch aus dem Lysezeitfenster. Das ist eine sehr ungünstige Kombination. Am Ende dauert es mit der Diagnostik so lange, dass wir raus sind aus dem Lysezzeitfenster, bis die fertig ist. Dazu bestehen noch einige relative Kontraindikationen, sodass mein Hintergrund beschließt, nicht zu lysieren. Gerade als ich noch ganz aufgelöst bin, ruft eine Kollegin auf dem Diensthandy an, weil sie etwas vergessen hat. Ob ich schnell mal ins System schauen könnte. „Ich bin im Isozimmer und habe keinen PC hier, aber ich mache es gleich“, erkläre ich mit zitternder Stimme. „Mondkind, was ist los?“, fragt sie. Ich schildere den Fall und höre auch ihren Mann im Hintergrund, der auch bei uns arbeitet. Die beiden beruhigen mich ein bisschen und sagen, dass es ein blöder Fall sei und es nicht meine Schuld sei, dass ich es nicht rechtzeitig mit der Diagnostik geschafft habe.

Ich erinnere mich wieder an ein Gespräch mit dem sehr geschätzten Herrn Psychiater im Sommer. Mit dem ich damals genau darüber gesprochen habe, dass ich die Sorge habe, dass die Patienten nicht gut versorgt sind, wenn ich sie betreue.
Er hat mir damals erklärt, dass auch wir nur das tun können, das in unserer Macht steht. Ein Patient mit Verdacht auf Corona kann eben nicht einfach so ins CT geschoben werden. Er kann nicht dahin fliegen. Ich habe Druck und Stress bei allen gemacht, es ging nicht schneller. Ich kann auch nichts für die relativen Kontraindikationen, dass die Angehörigen viele Dinge auf die Schnelle auch nicht genau wussten. Und am Ende treffen wir immer Entscheidungen, so gut wie wir können. Kann sein, dass die Lyse etwas Hirngewebe gerettet hätte, das wir jetzt nicht gerettet haben. Genauso gut hätte es sein können, dass er doch massiv geblutet hätte, wenn wir ihn knapp jenseits des Zeitfensters mit relativen Kontraindikationen lysiert hätten.

Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen entschieden; ob es richtig war, das wissen wir nicht.
Damit muss man lernen zu leben, sagte der sehr geschätzte Herr Psychiater. Es wird nicht immer gut am Ende, Entscheidungen können sich im Nachhinein auch als falsch heraus stellen. Wichtig ist, dass uns bewusst ist, was wir tun und warum wir das tun.

Ich werde erst beruhigt sein, wenn ich am Montag meine Patienten in der Frühbesprechung übergeben haben und keine großen Einwände kamen und ich ein paar Tage später das MRT des Patienten gesehen habe.
Das sind wahrscheinlich die Herausforderungen der Dienste. 

Mein allerliebster Park im Schnee

 

Aber hey: Können wir mal bitte festhalten, dass ich den vierten Dienst überlebt habe… ?
Wer hätte das gedacht…?

Der Nächste folgt schon nächstes Wochenende…

Schönen Sonntag…
Mondkind

Kommentare

  1. Danke fürs Teilen! Ein Herzerwärmender Beitrag, wirklich. Bin stolz auf dich.

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    1. Das ist ein Blogpost, der mir wirklich sehr am Herzen lag und mir seit Freitagabend unter den Nägeln brennt. Ich bin einfach selbst so dankbar und sehr bewegt von diesem Gespräch.

      Naja... - ich selbst habe ja nicht wirklich viel dazu beigetragen, außer dass ich hingegangen bin ;) Diesen Termin habe ich ja der potentiellen Bezugsperson zu verdanken.

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    2. Manchmal könnte ich Teetassen nach dir werfen, Mondkind. Obwohl wir uns gar nicht kennen.

      Du darfst stolz auf dich sein. Psychotherapie ist knallharte Arbeit. Auch von deiner Seite. So tief im Schmerz herumzukramen, um ihn nach außen zu befördern, damit er in Gesprächen bearbeitet werden kann, das verdient Anerkennung. Das haben dir in deinem Leben leider zu wenige Menschen gesagt - wieso auch? Meist waren es ja sie, die diesen Schmerz verursacht haben.

      Ich wünsche dir so sehr, dass es durch Unterstützung des Psychosomatikers mit einer baldigen therapeutischen Anbindung klappt. Du bist auf dem richtigen Weg. Dass du jetzt nach so vielen Monaten noch die Kraft hast, ihn zu gehen, ist unglaublich von dir. Bitte vergegenwärtige dir das.

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    3. Gleich Teetassen... ???
      Wie lieb von Dir; da habe ich doch schon wieder Tränen in den Augen.

      Ich hoffe auch, dass sich da jetzt schnell irgendetwas ergibt. Ich habe noch nie großartig Leute wegen irgendwelcher Bedürfnisse meinerseits terrorisiert und das kostet gerade alle Kraft, die ich habe. Aber ich glaube, wenn ich das jetzt nicht mache, werde ich in ein paar Wochen spätestens nicht mehr arbeiten können.
      Irgendwer hat das mal ganz schön formuliert, ich erinnere mich gerade nicht, aber ich glaube man steht immer noch mal kurz auf, bevor man fällt. Und ich glaube, das ist es gerade

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