Zweite Therapiestunde

Frühs in der Notaufnahme.
Der Famulant sitzt bei mir und wir sinnieren ein bisschen über den Medizinstudiengang.
Plötzlich kommt die potentielle Bezugsperson vorbei und sammelt den Famulanten ein – woanders gibt es etwas Spannendes zu sehen. „Übrigens Mondkind, Dein Kugelschreiber den ich mir letztens geliehen habe, liegt auf meinem Schreibtisch. Da musst Du mal vorbei kommen…“
Ich weiß nicht, ob ich das will. Vielleicht… - irgendwann… - bei Gelegenheit…

Mittagszeit.
In der Notaufnahme war es halbwegs ruhig, ich kann sie pünktlich dem Spätdienst übergeben und radle ein Mal quer durch den Sonnenschein auf die andere Seite des Dorfes. Ich bin ein bisschen aufgeregt, Sympathikus und Parasympathikus können sich gerade nicht ganz entscheiden, wer aktiv sein möchte und mein Körper ist etwas durcheinander.
Ich habe schon so vielen Therapeuten gegenüber gesessen und bin immer noch nervös.

Zweiter Stock eines recht altmodisch eingerichteten Hauses. Holzfußboden, weiße Wände, in der Ecke eine Kommode. Ich sitze auf einem grauen Sessel, die Therapeutin auf einem weißen Stuhl mit so viel Abstand, dass ich lauter reden muss, als ich mag, aber wenigstens nach schriftlicher Vereinbarung ohne Masken.
Meine Augen fixieren ein Marienkäfer auf dem Boden. Marienkäfer? Ist wirklich schon Frühling?

Sie fragt eigentlich so gut wie gar nichts und ich hüpfe irgendwie quer durch die Themen. Mein Kopf ist nicht sortiert, nachdem ich ja erst vor wenigen Minuten die Notaufnahme verlassen habe.
Wir reden über die Belastung auf der Arbeit, insbesondere über diesen katastrophalen Dienst von Sonntag. Über das Rendezvous nach einem Jahr genau zur selben Zeit wieder die Notaufnahme am Hals zu haben – nur dass dieses Jahr alles anders ist. Darüber, dass ich Angst habe. Weil ich genau weiß, in welcher Verfassung ich letztes Jahr Mitte Mai am Fluss in der Studienstadt saß und so herunter gewirtschaftet war, wie noch nie in meinem Leben. Und aktuell fühle ich mich nicht weniger überfordert.
Wir reden über den Freund. Über das letzte „vernünftige“ Telefonat, das fast ein Jahr her ist. Über die Schuldgefühle ihm gegenüber, weil ich in der Zeit auch einfach objektiv nicht so gut für ihn da sein konnte, wie ich es gewollt habe, da die Arbeitssituation mich selbst sehr belastet hat.

Da hakt sie ein und zieht Parallelen. Zwischen dem schrecklichen Dienst von Sonntag und dem Freund. Dass Notfallsituationen in mir wohl sofort wieder die Angst triggern, die Menschen nicht retten zu können. Dass die Menschen sterben und ich nichts machen kann. Dass das Hilflosigkeit und Ohnmacht auslöst und ich im Dienst trotzdem funktionieren muss. Sie redet von erschüttertem Grundvertrauen. In mich. In die Welt.

Zwischendurch verliert sie immer mal den Faden, muss nachfragen und ich spüre innerlich ein bisschen Ungeduld, weil ich es schon so oft erzählt habe und nicht immer und immer wieder dieselben Zusammenhänge erklären mag, aber sie kennt mich noch nicht, ich muss nachsichtig sein.

„Ich konnte auch einfach nicht für ihn da sein…“, erkläre ich. „Das Drama ist eigentlich noch… - ein bisschen umfassender.“ Aber ich kann ihr nicht erzählen, wie es mir letztes Jahr zu der Zeit ging. Dass ich auch geglaubt habe, dass ich das Ende des Jahres nicht erleben werde. Dass ich heute vielleicht nur lebe, weil er tot ist. Dass ich nicht gewusst hätte, was ich ihm angetan hätte. Und dass das Thema bis heute nicht durch ist. Dass ich wünschte, dass es so wäre, aber dass es das einfach nicht ist.
Sie muss es eigentlich wissen, aber…- ich kenne sie einfach nicht.
Ich weiche mir selbst und meinem eben gesagten Satz irgendwie aus und rede von Einsamkeit. Von der sozialen Isolation, die sein Tod gebracht hat. Davon, dass ich seitdem nicht mehr in der Studienstadt war – außer in der Psychiatrie, aber da war ich nie in der Stadt – und von den Freunden, die ich danach nie wieder gesehen habe. Von der Frage, ob ich hier richtig bin. Ob ich wieder zurück sollte. In die Studienstadt. Aber auch davon, dass Veränderungen nach dem Tod des Freundes schwierig sind, weil es mich immer weiter von unserem letzten „wir“ entfernt.

Sie spürt nach zwischen den Zeilen. „Wie Sie in die Neuro gekommen sind – darüber müssen wir auch nochmal reden…“ Und ich frage mich, ob sie die Story erahnt. Mit der potentiellen Bezugsperson. An der ich einfach hängen geblieben bin. Und damit an der Neuro. So einfach war das. Aber ich kann ihr schlecht sagen, dass das einfach nur die verzweifelte Suche nach irgendeinem Halt war und mein Hirn einfach mal sämtliche Grenzen vergessen hat.
Und über die Ansprüche an mich selbst müssen wir auch reden, sagt sie. Die sind wohl viel zu hoch.

Am Ende erklärt sie mir noch, dass wir noch eine Stunde machen können, ehe sie den Antrag für die Krankenkasse stellen muss und davor muss ich erst zum Hausarzt. Na Hallelujah… - noch ein Termin, den ich irgendwie innerhalb der Arbeitszeit erledigen muss.

Wieder zurück möchte ich eigentlich nur schnell im kleinen Arztzimmer meinen Kasack und meine Hose holen, um mich auf der Toilette wieder umzuziehen. Die potentielle Bezugsperson und ein Kollege stehen gerade im Zimmer und diskutieren etwas. Ich schleiche schnell hinein, nehme meine Sachen und verschwinde leise wieder.
Auf dem Rückweg muss ich unweigerlich an seinem Büro vorbei und eigentlich bin ich nicht gewillt, ihn zu sprechen. „Mondkind wo kommst Du her…?“, fragt er fast ein bisschen vorwurfsvoll. „Von der [Frau Therapeutin]“, gebe ich zurück. „Komm mal rein, setz Dich.“ Er will wissen, wie es war und wie der weitere Plan ist. Neugierdskarle in Butter gebraten… Ich habe mich noch nicht ganz wieder sortiert und kann nur ganz wenig berichten. „Für Dich wäre es wohl besser, Du könntest jetzt eine Runde im Park spazieren gehen…“ Er schlägt vor, dass ich doch versuchen sollte, den Nachmittag nach der Therapie frei zu bekommen, wenn ich nächsten Mittwoch die nächste Stunde habe.

Aber ja, organisatorisch ist es nicht einfach. Sie kann mir nicht immer mittags, oder am frühen Nachmittag Termine geben, auch nicht immer am selben Tag, aber nächste Woche klappt es.

„Ach Mondkind, übrigens, Dein Kuli…“ 

 

Mondkind 

P.S. Ja, ich bin heute zu müde zum Bilder suchen. Ich falle jetzt einfach nur noch ins Bett...

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