Von Leben und Trauern und Therapievorbereitung
Verrückte Zeiten.
Leben und Trauern in ganz viel Intensität.
Sonne trifft auf nasse Augen. Blick über die Saalewiesen. Gedankliche
Zusammenfassung der letzten Woche.
„Du fehlst mir immer am Meisten, wenn der Tod so nah erscheint, oder
das Leben am Schönsten.“
Das ist nicht von mir. Zugegeben. Habe ich auf Instagram gefunden.
Aber man könnte es nicht besser ausdrücken.
![]() |
Exakt vor einem Jahr... Du am Telefon, ich auf der Bank hinter der Stadtmauer |
***
Manchmal tut man Dinge, weil man sie eben so tut.
Wie zum Friseur gehen zum Beispiel. Weil man mal einen Sonntag in fünf Wochen
frei hat, ein bisschen Entzerrung im Wochenende und die Friseure haben gerade
geöffnet; es ist eher eine pragmatische Entscheidung, aber sechs Monate nach
dem letzten Besuch dort, darf man sich das ja mal gönnen.
Und dann... - ja, dann hat man nicht bedacht, dass der Freund immer nach dem
Friseurbesuch ein Foto bekommen hat und ich immer Ecken gefunden habe, die ich
an der neuen Frisur nicht so gut gelungen fand und erst beruhigt war, wenn er
gesagt hat, dass es schön aussieht und dass er mich jetzt gern in den Arm
nehmen würde.
Ich war schon ein paar Mal beim Friseur, seitdem er tot ist. Und irgendwie
dachte ich, vielleicht wird es leichter. Aber jetzt sitze ich hier und weine,
weil es nicht dasselbe wäre, wenn irgendwer anders sagen würde, dass es okay
aussieht.
Verrückt, oder?
***
„Mondkind, ich bräuchte am Wochenende Hilfe im Garten…“
Aha… - und darauf kommt er jetzt nach diesem katastrophalen Dienst am
Wochenende…?
Irgendwie ist er manchmal ein interessantes Übungsfeld. Vielleicht
will er mir klar machen, dass Leistung und der Wert einer Person nicht bei
allen Menschen unmittelbar verknüpft sind? Vielleicht ist es auch nur ein
blöder Zufall.
Ein Blick ins Wetterradar verrät, dass zwar gerade noch die Sonne
scheint, ich aber nicht trockenen Fußes im Nachbarort ankommen werde. Auf den
Feldern zwischen den Dörfern, auf denen der Kuhlstall ungefähr auf der Mitte
des Weges das einzige Zeichen von Leben ist, ist es schon windig und Wolken
ziehen auf. Als ich fast das Ortseingangsschild passiert habe, sehe ich in der
Ferne ein Auto, das aussieht wie seins. „Was machen Sie hier, so mitten auf dem
Weg?“, begrüße ich ihn. „Ich habe gerade noch leere Flaschen zum Glasmüll
gebracht und dachte mir, ich nehme Dich mit. Es sieht nach Regen aus.“ Wir
laden das Fahrrad ins Auto und kaum sitzen wir, fängt es an zu schütten. „Mondkind…
- hatten wir eigentlich schon mal über das Thema Auto geredet…?“, fragt er. „Ja…“,
entgegne ich kleinlaut. „Ich habe halt total Angst zur Fahrschule zu gehen und
ich habe ja schon einen Führerschein und wenn es dann gar nicht mehr
funktioniert…“ „Jetzt verstehe ich langsam Mondkind…“, sagt er.
Wir sind angekommen; ich sitze am Tisch im Wohnzimmer, neben mir ein
Tee und zwischen den Beinen streift die Katze durch. Seine Frau backt Kuchen
und er stolcht durchs Haus und sucht irgendetwas. „Mondkind, eigentlich hatte
ich vor den Rasen zu vertikutieren mit Dir…“, erklärt mein Gegenüber.
Mittlerweile scheint zwar wieder die Sonne, aber der Rasen dürfte schwimmen. „Dafür
ist das Wetter aber denkbar ungünstig“, erkläre ich. „Mein Vater hat früher
immer gesagt, dafür müsse es trocken sein…“ Aber es ist ja nicht so, als dass
es nichts zu tun gäbe. Er hat allerhand Tomaten, Chilis und Paprika
angepflanzt, die sich aktuell noch die Töpfe teilen. Die müssen wir trennen und
in eigene Töpfe pflanzen. (Das Ganze hat auch einen Namen, aber ich habe es
vergessen).
Damit sind wir die nächsten drei Stunden beschäftigt. Zwischendurch
geht die Sonne über den Feldern unter, auf die man vom Wohnzimmerfenster aus
schauen kann. Diese schräg stehende Sonne; irgendwie kann ich den Freund dann
immer fast fühlen. „Nicht böse sein“, denke ich mir. „Aber so zwischendurch
muss ich auch einfach mal glücklich sein dürfen. Aber ich vergess Dich nicht.
Und ich vergesse unseren Tag morgen nicht.“ (Passend läuft dazu im Hintergrund gerade "Blinding lights" im Radio).
Und dann erklärt mein Gegenüber mir, dass ich auch ein paar von den
Tomatenpflanzen bekomme und er sie mir vorbei bringt, wenn ich Übertöpfe
besorgt habe. Tomaten auf dem Wintergarten. Davon habe ich neben meiner Idee
mit einem Zitronenbäumchen immer dem Freund erzählt. Ich wünschte, er könnte
das sehen dieses Jahr.
Am Abend machen wir noch Pizza und quatschen ein bisschen am Tisch.
Es ist spät und ich muss nach Hause. „Mondkind, ich glaube fahre Dich schnell. Das Fahrrad ist eh noch im Kofferraum.“ „Ich kann auch selbst fahren, das ist kein Problem“, gebe ich zurück. „Nein Mondkind, Du mit Deiner dünnen Regenjacke da…“
Als ich wieder zurück in meiner Wohnung bin, spüre ich ganz viel
Dankbarkeit, Geborgenheit und Wärme in meinem Herz. Wie kann es zwei Menschen
geben, die mich von Zeit zu Zeit so unkompliziert in ihrer Mitte aufnehmen? Die
mich als Menschen respektieren, die so fürsorglich sind, dass es mich schon
fast überfordert. Ich kenne so etwas nicht, aber ich bin unglaublich dankbar,
dass sie mir diese Momente ermöglichen, die ich in meinem Herzen speichern
kann, auf die ich zurück greifen kann, wenn das Leben sich zu schwer anfühlt.
Es hat noch nie ein Problem gegeben mit meinem Vegetarierdasein. Die
lösen das immer so geschickt, dass niemand eingeschränkt ist. Das habe ich nie
erlebt zu Hause. Und auch, dass ich abends nach Hause gebracht werde. Was war
das immer ein Theater bei uns, wenn man mal irgendwo hin wollte. Das sind
solche Dinge, da könnte ich weinen, weil es mich so sehr berührt, dass ich
anderen Menschen offenbar wichtig genug bin, damit sie das für mich tun.
***
Sonntag.
Der erste Jahrestag von ganz Vielen, die kommen werden. Nicht nur Monatstage, sondern auch unsere beiden Geburtstage (sein Geburtstag fällt auf meinen ersten Nachtdienst...) und Tage, von denen wir nicht wussten, dass sie mal besonders werden, weil wir Dinge da zum letzen Mal erlebt haben.
Heute vor einem Jahr. Da habe ich auf der Bank hinter der Stadtmauer gelegen
und wir haben geredet. Es war schon Lockdown und irgendwann habe ich mich etwas
panisch gefragt, ob das überhaupt aktuell erlaubt ist, draußen auf einer Bank
zu liegen. Es war schönes Wetter, Sonnenschein, die Sträucher haben schon
geblüht, die Bäume waren im Inbegriff grün zu werden. Es war eines der letzten vernünftigen Telefonate.
![]() |
Heute auf der Bank hinter der Stadtmauer... |
Jetzt liege ich dort und weine. Spüre das Handy in meiner
Jackentasche. Habe Deine Stimme im Ohr. Und nichts würde ich mir mehr wünschen,
als dass Du gerade hier wärst, dass ich noch ein Mal Deine Stimme hören kann,
noch einmal Deine Hand in meiner spüren kann, dass ich Dich noch ein Mal fühlen
kann.
Ich wünschte, Du könntest die Welt sehen, mich sehen, einen neuen
Frühling. Ich wünschte, all das wäre nur ein Alptraum. Ich wünschte, ich würde
irgendwann Antworten auf meine Fragen bekommen, ich wünschte irgendwer könnte
irgendwann für mich rekonstruieren, was da passiert ist und ich wünschte, ich
würde wissen, ob Du sehr gelitten hast, oder ob Du einfach ruhig eingeschlafen
bist. Ich wünschte, ich könnte noch ein Mal planen in die Studienstadt zu fahren;
ich wünschte ich könnte Dir noch ein Mal sagen, dass ich die Tickets endlich
habe; ich wünschte ich könnte noch ein Mal fragen, ob Du mich zur Therapie
bringst und ob wir hinterher einen Kaffee trinken gehen.
Wer hätte damals gedacht, wie viel sich geändert hat in dem einen
Jahr?
Beziehung. Das war immer das Thema zwischen uns. Letztes Jahr um die
Zeit war ich 26 Jahre alt und hatte im Prinzip keine Ahnung, wie Beziehungen funktionieren.
Ich wollte die Nähe zu Dir und gleichzeitig hatte ich Angst. Ich hasse meinen
Körper und ich wollte nicht, dass Du zu viel davon fühlst. Und was ist, wenn
wir uns über zu viel Nähe verlieren? Was ist, wenn wir es nicht aushalten?
Denn eines wollte ich auf gar keinen Fall – Dich verlieren. Und am Ende
habe ich es doch.
***
Therapie.
Die Therapeutin hat mir gestern auf den Anrufbeantworter gesprochen,
dass sie den Termin nächsten Mittwoch verschieben muss, hat mir aber drei
Alternativtermine nächste Woche vorgeschlagen. Einen davon Montag um 17 Uhr.
Ich habe es gestern direkt besprochen, es geht laut Oberarzt.
Wir sitzen im Auto. „Vielleicht kriegen Sie hinterher ein Update.“ „Ich
bitte darum.“ „Ich will ja nicht, dass es nervt…“ „Nein Mondkind, ich finde das
doch auch interessant…“
Jetzt muss ich nur noch überlegen, worüber ich rede. Ich habe keine Ahnung von tiefenpsychologischer Therapie. Ich weiß nicht, was sie von mir will. Es ist ein fragiler Tanz. Zwischen Job, Erinnerungen, Jahrestagen. Und manchmal fühle ich mich sehr überfordert davon. Aber was soll sie damit? Es muss irgendwie konstruktiv sein. Aber was ist hier schon konstruktiv seit Januar?
Ideen? Von Euch?
Mondkind
Kommentare
Kommentar veröffentlichen