Von den Fragen der Zukunft
Spätdienstwoche.
Und es ist nicht so, dass ich diese Spätdienstwochen mag – insbesondere
dann, wenn die Notaufnahme nicht besetzt ist und man neben der Station noch die
ZNA am Hals hat und dazu - wenn man Pech
hat – nicht mal einen fest ansprechbaren Oberarzt, was diese Woche auch noch
passieren wird – aber der Vorteil ist eindeutig, dass ich morgens ein bisschen
ausschlafen kann. Das ist Gold wert, wenn der Kopf erst weit nach Mitternacht
zur Ruhe gekommen ist. Und morgens kann ich auch noch in Ruhe frühstücken. Und
genießen sollte ich es auch – ist die Letzte Spätdienstwoche bis November.
Ich habe ein paar Brötchen in den Ofen geschmissen, eine Mango, die
dringend weg muss aufgeschnitten und Kaffee gekocht. Fast ein kleines,
nachträgliches Sonntagsfrühstück.
Im Hintergrund schalte ich ein paar alte Westlife – Lieder an, auf dem
Tisch brennt – wie immer wenn ich mich im Wohnzimmer aufhalte – die Kerze des
Freundes.
Und während ich so da sitze, die Knie angezogen und die Füße auf der Sitzkante abgestellt, ziehen mir ein paar Gedanken durch den Kopf.
Was ist für eine komische Zeit, in der ich hier feststecke?
Mit der Trauer um den Freund habe ich – glaube ich – erst vor wenigen
Wochen angefangen. Zu sehr steckten mir die Kommentare der Mitmenschen in den
Knochen. Ich würde den Tod des Freundes ausschlachten, mich in der
psychiatrischen Hängematte ausruhen und so generell und überhaupt seien wir ja
nicht zehn Jahre verheiratet gewesen – also gibt es auch kein Recht zu trauern.
Ich glaube manchen Menschen ist nicht klar, wie sehr Worte verletzen
können, wie es Sätze gibt, die ich mein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf bekommen
werde.
Ich wollte den Tod des Freundes nicht ausschlachten und ich wollte
nichts Unrechtes tun. Deswegen habe ich es verdrängt, bis es nicht mehr ging.
„I only miss you, when I breathe“, singt Christina Grimmie. Als ich das
Lied das erste Mal in meinen lila gestrichenen Wänden im Studentenwohnheim
gehört habe, habe ich gehofft, einen Menschen niemals so sehr vermissen zu
müssen. Aber ich denke an den Freund und vermisse ihn, sobald ich morgens die
Augen aufschlage.
Und ich vermisse nicht nur den Freund, sondern auch all die Chancen
die wir hatten und nicht genutzt haben. Weil wir nicht wussten, dass uns im
Hintergrund die Zeit abläuft. Weil ich zu jung war. Weil ich die Endlichkeit
des Seins noch nicht verinnerlicht hatte. Ich habe mir manchmal wirklich
Gedanken gemacht und mir überlegt: Er ist ein paar Jahre älter als ich, also
muss er eigentlich auch mal eher sterben. Wie soll mein Leben irgendwann ohne
ihn werden? Aber dass mir das mit meinen 27 Jahren passiert, das hatte ich
nicht auf dem Schirm.
Und so oft sehne ich mich immer noch danach, dass wir einfach mal
wieder quatschen könnten. Ich hatte noch nie so wenige Kontakt, wie aktuell.
Weil ich diese Menschen auch einfach nicht mehr kann.
Ich weiß nicht, wie so viele Menschen so viel Müll reden können. Von
wegen „Aber Mondkind, Du musst doch mal loslassen.“ Und „Du findest schon
wieder Jemanden.“ Und „Das Leben kann doch jetzt nicht vorbei sein.“
Eigentlich nicht, nein. Eigentlich bin ich wirklich zu jung. Aber
Jemand, der den Freund auf seinen Schulter trägt, wo immer auch er hingeht… Und
gleichzeitig dazu noch die Schuld… Wie stellen sich denn die Menschen das vor?
Sein Tod war das Ende unserer Beziehung. „Am Ende hat er nicht mehr daran
geglaubt“, sagte seine Mutter. Und dummerweise sind an solchen Dingen immer
zwei Leute Schuld. Ich kann nicht die Schuld auf ihn abschieben, weil er nicht
mehr lebt.
Und jetzt soll ich sagen: „Okay, ich bin zumindest mal Teilschuld an
dem was passiert ist, aber ist ja alles nicht so schlimm; wir können ja mal mit
der nächsten Beziehung weiter arbeiten…“ Es funktioniert so nicht. Für mich
nicht. Und ja, Freund und Familienplanung – keine Ahnung, ob diese Gedanken
nochmal existieren in meinem Leben, bis die biologische Uhr abgelaufen ist.
Zurück zum Freitag. Zum Büro des Oberarztes. Langer Vortrag. Über all das, was jetzt angebracht wäre und was ich jetzt tun müsste. Ich spüre, wie er die Zügel so eng nimmt, dass ich mich darunter kaum noch bewegen kann und irgendwie richtet sich die Wut – wenn sie schon mal da ist – nicht auf den Freund, sondern auf meine Mitmenschen. Weil die mich in meinen Augen nicht verstehen. Und dann so ganz am Rand, als ich mich schon eingeigelt habe und beschließe überhaupt nichts mehr zu den ganzen Anschuldigungen zu sagen, haut er einen interessanten Satz raus. „Mondkind ich nehme das alles sehr ernst. Sonst haben wir hier irgendwann den ersten Suizidversuch.“
Und damit spricht er etwas an, das ich schon lange fühle, obwohl das Thema Suizidalität ja eigentlich durch sein sollte. Für Jemand,
dem schon vor dem Ereignis die Erschöpfung in den Knochen steckte, war das zu
viel. Und so sehr wie ich auch versuche wenigstens jetzt noch unsere
Vergangenheit in die Zukunft zu tragen – aber ich kann nicht mehr.
Das normale Leben, das es hätte werden sollen, ist Lichtjahre
entfernt. „Nach dem Studium wird es besser. Und bis dahin müssen Sie das
überleben.“ War der Tenor der Klinik, von Psychologen und Psychiatern. Ich habe
mir letztens nochmal einige Einträge quer durchgelesen aus diesem „alten Leben“.
Es konnte keiner wissen, was passiert. Aber wie sollen die nächsten Jahre
aussehen? Mit Trauer und Schuldgefühlen, mit einer Verantwortung, die einfach
so auf meine Schultern gestellt wurde? Ich kann und will nicht nach vorne
gehen, als sei nichts passiert. Denn es ist etwas passiert. Etwas Gravierendes.
Etwas lebensveränderndes.
Und es ist wirklich die Frage, ob ein Leben so noch Sinn haben kann.
Ich versuche stark zu sein. Mich durch jeden Tag zu bewegen. Aber wenn die
Zukunft einfach für unbestimmte Zeit aus dem Nichts besteht, ist es schwierig
nicht irgendwann den Mut, die Hoffnung, die Stärke zu verlieren.
Mondkind
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