Von Notaufnahme, Gedanken zur Schuld und Warten auf Mails

Erster Tag Notaufnahme vorüber.
Und schon am ersten Tag macht sich wieder die Unberechenbarkeit der ZNA bemerkbar. Heute früh war es erstaunlich ruhig für einen Montag, nach dem Mittagessen kam ein Patient nach dem anderen rein, bald waren wir so voll, dass wir unsere Patienten bei den Internisten parken mussten. Und natürlich musste ich mich da auch noch zu Ende um die Patienten kümmern; im Endeffekt war ich um 19 Uhr zu Hause. Und das ist nicht mal das Problem – das Problem ist, dass absolut nichts planbar ist. Donnerstag habe ich theoretisch einen Termin beim Seelsorger – den haben wir noch vereinbart, als ich eigentlich dachte, ich hätte frei. Aber selbst wenn wir den auf 17 Uhr schieben – ich kann bis 16: 30 Uhr nicht sagen, ob ich das schaffen werde und das machen die Menschen nicht mit; verständlicherweise. Wer etwas will muss in der Lage sein, verbindliche Termine machen zu können. Kann ich gerade situationsbedingt nicht. Und das ist glaube ich einer der wesentlichen Gründe, warum das letztes Jahr – neben der Angst um die Patienten in akut ganz schlimmen Situationen, von denen es heute zum Glück keine gab – so dekompensiert ist.

Einen Alkoholiker mit Entzugskrämpfen hatten wir heute. Ich muss mal irgendwie eine Lanze für diese Menschen brechen. Es ist immer eine ganz schlimme Schieberei zwischen den Internisten und den Neurologen. Die Neurologen sagen, dass der Krampfanfall ja nur Symptom der Intoxikation oder des Entzugs ist; je nachdem und der Patient deswegen internistisch ist. Schließlich würden wir ja auch niemanden mit Meningitis und Fieber in die Innere legen, weil er das Symptom Fieber hat. Die Internisten sagen, dass er halt krampft und deswegen neurologisch ist; sie wüssten ja nicht, was sie tun sollten, wenn der Patient wieder krampft.
Und dann gibt es auch noch den Patienten. Er war noch recht jung mit schon beginnender Leberzirrhose, schon mehrfach bei uns. „Was habe ich jetzt schon wieder gemacht?“, hat er gefragt und mich mit Tränen in den Augen angesehen. „Ich habe es schon so oft versucht ohne den Alkohol und ich schaffe es einfach nicht…“
Und ich frage mich jedes Mal, was diese Seele so sehr verletzt haben muss, dass der Alkohol der einzige Ausweg war. Mir brechen diese Leute ein Stück weit das Herz, ehrlich gesagt. Alkohol ist halt ein Bewältigungsmechanismus, der nicht nur ein Tod auf Raten ist, sondern darüber hinaus gesellschaftlich ein riesiges Problem ist. 

Ist unser Himmel noch derselbe... ? Ich frag's mich jeden Tag...

***
Ich habe heute Morgen die Mail an die Ergotherapeutin von meiner psychiatrischen Station geschickt, auf der ich letzten Sommer war. Eine Ergotherapeutin, die auch der Freund gut kannte. Ich habe so, so sehr gehofft, dass ich heute eine Mail zurückbekomme, aber… - unerträgliche Stille in meinem Mailpostfach.

Und klar beginnt jetzt zu allem dazu noch das Gedankenkreisen um diese Mail. Ich hatte extra dazu geschrieben, dass ich mich über eine erste, kurze Rückmeldung freuen würde, wenn die Mail überhaupt ankommt. Denn da liegt schon der erste Knackpunkt. Stimmt die Mailadresse? Und dann: Ist die Ergotherapeutin überhaupt noch dort? Oder arbeitet sie woanders? Oder vielleicht gerade aus diversen Gründen gar nicht? Oder hat sie Urlaub? Ist sie krank?
Und wenn die Mail angekommen ist: Müssen die sich jetzt erstmal beraten, was sie daraus machen – schließlich ist es ganz trivial alles irgendwie auch nicht? Oder – was ich befürchte – denken die, dass ich jetzt völlig durchgeknallt bin und sitzen das einfach mal aus in der Hoffnung, dass ich den Mund halte? Oder will damit einfach niemand mehr etwas zu tun haben, ist es für das Umfeld einfacher, das Kapitel einfach zu schließen?
Und was mache ich, sollte sich da in den nächsten Tagen und Wochen nichts tun? Versuche ich es dann bei einer anderen Person – es gibt ja noch eine zweite Ergotherapeutin, mit der er glaube ich nicht so viel zu tun hatte?

Klar ist das alles Zukunftsmusik, erstmal abwarten, es ist ja erst der erste Tag und ich habe da auch nicht oberste Priorität. Dass ich so sehr auf Kohlen sitze, wissen die ja nicht. Dennoch; ich habe die Erfahrung gemacht, dass Mails ehestens sofort oder gar nicht beantworten werden. Aber wenn man so dringend auf der Suche nach Puzzleteilen in der Geschichte ist, ist das ziemlich unerträglich.

Ich habe übrigens nochmal eine Broschüre zum Thema Schuldzuweisungen im Trauerprozess nach einem Suizid gelesen und die ist extrem aufschlussreich in Ergänzung zu dem, was ich letztens mit meiner ehemaligen Therapeutin besprochen habe.
Darin wird zu Beginn darauf eingegangen, dass Menschen, die mit einem Schuldprinzip aufgewachsen sind, ohnehin prädestiniert dafür sind, sich die Schuld zu geben. Wenn es in Kindertagen immer einen Schuldigen für alles das schief ging geben musste und man darüber hinaus nicht selten gehört hat, dass man Schuld an Dingen ist, die verschiedensten Menschen widerfahren sind, hat man da schon mal ein gewisses Muster verinnerlicht.
Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Schuld schafft auch – wie die Therapeutin schon angemerkt hatte – Erklärungen. Und schließlich führt ein Suizid immer zum „Erklärungsnotstand“. Und selbst diese unbequeme Ordnung, die durch die Schuldvorwürfe an sich selbst hergestellt wird, ist immer noch besser zu ertragen, als das totale Chaos, in dem es keine Erklärung für das Geschehen gibt oder zumindest keine, die man akzeptieren kann.
Gibt man sich selbst die Schuld an dem was passiert ist, wird aus dem Opferdasein auch ein Täterdasein. Ein Opfer ist ausgeliefert und handlungsunfähig – das ist ein als schrecklich erlebter Zustand. Ein Täter hat Macht und Entscheidungsgewalt – ich muss mich ja nicht mehr so verhalten, ich muss keinen mehr umbringen. Diese Überzeugung, auch wenn sie mit dem Tätersein verknüpft ist, scheint immer noch besser zu sein, als ein Gefühl völliger Ohnmacht.
Und zu guter Letzt ist Schuld natürlich auch ein Bindungsgefühl, das sich länger aufrecht erhalten lässt, als die meisten anderen Gefühle. Solange wie ich also mit dem Freund durch die Schuld verbunden bin und es mir – dadurch, dass dieses Ende noch so präsent ist - nicht so einfach möglich ist, auf all die guten Erinnerungen, verbunden mit Dankbarkeit, Liebe und Sehnsucht zurück zu greifen, ist Schuld das Gefühl, mit dem ich tiefste Verbindung zu ihm habe.

Letzten Endes nennt die Autorin die Schuldzuweisungen, die weniger aus einer wirklichen Schuld heraus rühren "instrumentelle Beschuldigung". (In gewissen einzelnen Punkten kann man dennoch real Schuld sein, aber ein Indikator dafür sei, dass man wirklich einzelne Punkte benennen kann, in denen man etwas falsch gemacht hat und keine generalisierenden Aussagen trifft).
Dahinter stehen Bedürfnisse und die wollen erfüllt werden; erst dann gehen die Schuldgefühle zurück. Und wie wir gesehen haben ist neben ganz viel Aufarbeitung der Beziehung, der Geschehnisse, auch das Füllen der Lücken, das Zusammenpuzzeln der Geschichte ein wesentlicher Faktor. Je mehr ich aus allen Puzzleteilen die ich bekommen kann das Gefühl habe, dass eine in sich stimmige Geschichte entsteht, desto weniger ohnmächtig werde ich mich in der Geschichte fühlen.

Natürlich heißt das nicht, dass ich gedankenlos alle Menschen im Umfeld des Freundes, die ich irgendwie greifen kann, mit Fragen bombardieren muss. Ich muss mir auch überlegen, dass ich eventuell Menschen mit seinem Tod konfrontiere, die davon noch gar nichts wissen und das ist nicht ganz trivial – auch das steht in der Mail, die ich an die Ergotherapeutin geschrieben habe.
Aber mein Gefühl, dass mich eine Geschichte, in die etwas mehr Licht kommt, eines Tages zu ein bisschen mehr Frieden führen wird, ist mit dieser Broschüre ganz gut zu begründen. (Wenn die jemand haben möchte, weil er vielleicht auch betroffen ist, meldet Euch; ich schicke gern den Link).

Und es zeigt irgendwie auch: Ich habe noch viel zu tun in diesem Trauerprozess. Aber ich bewege mich auch endlich mal. Ich bin eben nicht nur Opfer. Ich kann für mich handeln und dafür sorgen, dass es mir trotz und mit dieser Geschichte besser gehen wird und dass ich vielleicht irgendwann doch ganz tiefe Dankbarkeit empfinden kann für alles, was ich mit diesem Menschen teilen und erleben durfte. Denn auch wenn das alles ein blödes Ende hatte – aber unsere Geschichte ist mehr, als ihr Ende.

Ich halte Euch auf dem Laufenden. Und ich hoffe so, so sehr, dass sich da etwas tut.
Erstmal gehe ich gleich schlafen. Ich bin so unglaublich müde...

Mondkind

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