Acht Monate

Hey mein lieber Freund,
wie geht es Dir? Komisch, dass ich diese Frage immer an den Anfang jedes Briefes schreibe und doch nie wieder eine Antwort bekommen werde.

Genau acht Monate ist der erste Brief an Dich her. Genau acht Monate, dass ich morgens um kurz nach sechs völlig erstarrt auf meinem Sofa saß. Gespürt habe, wie diese Welt innerhalb von Sekunden zerfiel, aber was genau das bedeutete… - war mir nicht klar. Wie hätte es das sein sollen? Damals war mir nicht klar, dass ich auch acht Monate danach noch um einen Zipfel Normalität kämpfe und vielleicht noch immer nicht in vollem Umfang begriffen habe, dass ich dieses Leben, das wir hatten, nie wieder zurückbekommen werde. Ohne Dich ist es nicht mehr dasselbe. Ohne Dich fehlt das Licht in meinen Tagen.

Frühling. Frühling bedeutete: Bahnhofsmomente. Endlich war der lange Winter vorbei, endlich hatten wir wieder die Möglichkeit uns mehr zu sehen, weil wir nicht mehr erfroren sind auf der Reise oder, weil ich Sorge hatte, dass aufgrund eines möglichen Verkehrschaos die Fernbusse nicht fahren und ich dann um Mitternacht verloren auf dem Bahnhof der nächsten Großstadt stehe.
Ich werde das nie vergessen. Niemals. Wie einer von uns beiden aus dem Zug gepurzelt ist, Du immer mit Deinem Rucksack über der Schulter, wie Du mir mit einem breiten Lachen entgegen kamst und wir uns dann so fest in den Arm genommen haben, dass ich manchmal fast das Gleichgewicht verloren habe und dachte, wir würden beide zusammen umkippen. Und wenn ein Treffen nur aus diesem Moment bestanden hätte, dann hätte es sich dafür schon gelohnt. Ich habe das so sehr gemocht, Deine Arme auf meinem Rücken zu fühlen, Dein schlagendes Herz zu spüren – am liebsten hätte ich Dich in diesen Momenten nie mehr los gelassen.
Revolverheld – Liebe auf Distanz. Ich höre dieses Lied immer noch jeden Tag. Dann kann ich Dich fast fühlen.
Ehrlich gesagt… - ich weiß nicht wo der Sinn in einem Leben sein soll, in dem diese Momente mit uns fehlen. Wofür arbeitet man den ganzen Tag, springt in diesen Diensten über seinen Schatten, versucht auf der Arbeit konzentriert bei der Sache sein und erst abends über Dich nachzudenken? Warum so viel Bemühen, wenn so Vieles das gut war, nicht mehr da ist, wenn so viel Zukunft irgendwo zwischen einem Sonnenuntergang und einem Morgengrauen verschwunden ist?

Bahnhofsmomente... - lang ist es her. Und gerade jetzt im Frühling fehlt es so sehr.

Weißt Du, Tage wie heute sind schwierig. Ich muss heute in die Notaufnahme – das bedeutet, acht Stunden höchste Konzentration. Zeit ist Hirn – ist einfach so. Da müssen die Abläufe passen. Und im Hinterkopf spule ich immer wieder diesen Tag vor acht Monaten ab und den Tag, an dem Du gestorben bist. An dem ich im Dienst über die Notaufnahme gerannt bin, die Soldaten, die bei uns nach einer Schießübung mit Kopf- und Augenschmerzen waren versorgt habe und mich nicht um Dich gekümmert habe.
Und weißt Du… - ich würde mir manchmal so sehr wünschen, dass irgendwer mir eine kurze Nachricht schreiben würde, um das einfach mal zu würdigen und auch um zu zeigen, dass Du und wir nicht vergessen werden. So ein „Hey Mondkind, ich weiß nicht, was ich sagen soll, außer das Übliche „es tut mir leid“, das Du auch nicht mehr hören kannst. Aber ich denke heute einen Augenblick besonders fest an Dich.“ Das würde mich schon sehr freuen. Aber auf so etwas warte ich seit acht Monaten. Das ist nicht mal im ersten Monat passiert.

Ich höre gerade einen Podcast, in dem Angehörige von Suizidopfern ihre Geschichte erzählen. Es hilft mir irgendwie zu hören, wie andere Menschen mit der Situation umgegangen sind und dass ich auch nicht völlig durchgeknallt bin, weil ich teilweise genau dasselbe denke und fühle, wie die Sprecher im Podcast. Aber weißt Du, was mir aufgefallen ist: Viele Teilfamilien sind nach dem Ereignis näher zusammen gerückt. Und bei mir ist genau das Gegenteil passiert. Das macht mich schon sehr traurig. Der einzige Mensch, mit dem ich über alles reden konnte und mit dem ich auch darüber unbedarft hätte reden können, ist einfach nicht mehr da. Ich weiß, wenn Du nicht der Betroffene gewesen wärst, hätten wir wahrscheinlich nächtelang geredet. Und ich weiß, dass Du Dich in den nächsten Zug gesetzt hättest und zu mir gekommen wärst, wenn es zu schwer geworden wäre.

Übrigens bin ich nochmal dabei, eine neue Therapeutin zu suchen. Irgendwie stellte sich das Problem zwischenzeitlich als fast gelöst dar; mittlerweile haben sich da doch viele Schwierigkeiten ergeben, sodass – na was wohl in diesem System – Geduld gefragt ist. Ob es am Ende etwas wird, kann ich gerade nicht genau sagen.
Jedenfalls… - als ich mit dem Fahrrad von dieser Frau, mit der ich gestern geredet habe wieder weg gefahren bin, ist mir so schmerzlich bewusst geworden, dass Du der erste Mensch gewesen wärst, den ich angerufen hätte. Wie oft haben wir uns nach einem Termin bei Frau Therapeutin an der Uni getroffen, sind Kaffee trinken gegangen und haben die Stunde besprochen? Ich brauchte das einfach, das mit irgendwem zu reflektieren.

Ich habe heute übrigens etwas sehr Schönes über Dich gesagt: „Ich glaube, er war - nach dem Chaos in meiner eigenen Familie - der erste Mensch, der mir gezeigt hat, dass Wertschätzung nicht an Leistung geknüpft ist. Und, dass es möglich ist, dass ich - einfach weil ich ich selbst bin - zum wichtigsten Menschen im Leben eines Anderen werden kann.“
Und auch, wenn all das Vergangenheit ist und die Trauer im Moment so sehr die guten Momente überwiegt, möchte ich mich auch bei Dir bedanken, dass Du mir diese Erfahrungen ermöglicht hast.
Ich verteidige Dich übrigens wie eine Löwin gegenüber allen. Sowohl der Oberarzt, als auch der Psychosomatiker und die Therapeutin von gestern kamen mir damit um die Ecke, dass ich ja eigentlich auch mal ziemlich wütend sein dürfte, dass Du mich hier mit diesem riesigen Paket hast stehen lassen. Und dann sage ich immer: „Ich glaube, wenn er gewusst hätte, dass dieser Mensch, den er so sehr schätzt so sehr darunter leidet, hätte er es nicht getan.“ Ich glaube einfach, dass das wahr ist.

Du sag mal… - ich wollte Dich noch etwas fragen: Hattest Du eigentlich jemals das Gefühl, dass ich mich für Dich geschämt habe? Der Herr Oberarzt hat letztens die Theorie aufgestellt, weil ich ja nie über Dich geredet habe. „Mondkind, wie kann das sein, dass Du jahrelang in Therapie warst, aber nicht über den wichtigsten Menschen in Deinem Leben gesprochen hast. Über was hast Du denn da geredet?“
Und dann habe ich mir Gedanken gemacht, wie das wohl auf Dich gewirkt haben muss. Weißt Du… - ich bin ja so groß geworden, dass alles was Spaß gemacht hat, irgendwie eine verbotene Tätigkeit war. Und bis man nicht alles was mit Leistung zu tun hatte perfekt im Griff hatte, war weder Freizeit erlaubt, noch durfte ich einen Freund haben. Und naja… - man konnte nicht behaupten, dass ich die Dinge sonderlich gut im Griff hatte. Der Doktortitel ist immer noch nicht da und ein halbes Semester länger habe ich auch fürs Studium gebraucht und auf der Arbeit bin ich immer noch die Unerfahrenste – aber auch deshalb, weil nach mir kein neuer Kollege mehr kam. Jedenfalls… - was niemand weiß, macht ihn nicht heiß… Ich habe es nie erwähnt. Ich habe befürchtet, Angriffsfläche zu produzieren und dass mir die Menschen dann sagen: „Pass mal auf Mondkind. Bevor Du meinst Zeit für einen Freund zu haben, sieh mal lieber zu, dass Du dieses oder jenes besser schaffst.“
Wahrscheinlich war das alles ziemlich dumm. Es tut mir sehr, sehr leid, wenn ich Dich irgendwie gekränkt habe. Ich weiß es nicht. Man sucht ja nun nach den Gründen für das alles.

Übrigens habe ich ja mal einen Blogpost mit der Überschrift „Fußspuren zwischen den Zeiten“ geschrieben. Und irgendwann ist mir aufgefallen, dass Du an der Klinik so gut vernetzt warst als Patient, Mitglied in Arbeitsgruppen und als Praktikant zum „Ex – in – Mitarbeiter“, dass das Gelände eine Fundgrube sein könnte. Und irgendwie… - hatte ich das Bedürfnis nach Spurensuche. Ich habe gestern mal meiner ehemaligen Therapeutin eine Mail geschrieben und sie gefragt, ob man da ein paar Kontakte herstellen könnte. Und keine Sorge, die Schweigepflicht wird beachtet. Nur, weil Du es mir nicht mehr sagen kannst, möchte ich wissen, ob Du über uns gesprochen hast und was Du gesagt hast; so grob. Und, wie Du diese Beziehung wahrgenommen hast. Ob Du irgendetwas über Zukunftspläne erzählt hast.
Ich hoffe, es ist okay für Dich. Und egal was dabei raus kommt – es ändert nichts zwischen uns. Es ist nur für meinen persönlichen Frieden.

So… - ich schließe für heute; ich muss auf die Arbeit. Notaufnahme. Ich hoffe, Du passt ein bisschen auf mich auf heute, damit es nicht zu viel wird.

Ganz, ganz viel Liebe
Mondkind

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