Ein paar Erinnerungen

Donnerstag. 16 Uhr.
Die Notaufnahme ist leer und ich denke, dass ich heute pünktlich nach Hause gehen kann. Und dann… - kommen innerhalb der nächsten 20 Minuten sechs neue Patienten. Die Dienstärztin kommt und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Komm, ich mach Dir noch schnell Einen“, sage ich. „Ja, Danke Mondkind, ich schaffe das nicht alleine…“ Wenig später kommen noch zwei neue Patienten, eine davon mit Kopfschmerzen nach Impfung. „Mondkind, was habt ihr mit diesen Patienten die Woche gemacht? Gibt es da jetzt ein standardisiertes Vorgehen…?“, fragt die Kollegin. „Ja gibt es. Lass sie mir übrig, ich mache es.“ Zwischendurch kommt der Mann der Kollegin, der auch bei uns arbeitet vorbei und hilft uns noch bei ein paar Ultraschalluntersuchungen.
Irgendwann halb acht ist das größte Chaos unter Kontrolle.
„Mondkind komm, ich nehme Dich mit nach Hause“, bietet der Mann der diensthabenden Kollegin an. „Ist schon okay, ich laufe…“, entgegne ich. „Mondkind, es ist dunkel. Du kannst jetzt nicht laufen. Außerdem ist es spät, Du musst morgen früh wieder fit sein. Ich fahre Dich und hole Dich auch morgen früh wieder ab, weil Du ja dann Dein Fahrrad nicht bei Dir hast…“ Protestieren nützt nichts mehr und ein paar Minuten später finde ich mich auf seinem Beifahrersitz wieder. Und bin ein bisschen gerührt von so viel Fürsorge.
„Mondkind, man muss sich doch etwas dabei denken, wenn man von einem Kollegen nach Hause gefahren wird…“, kommen mir die Worte des Freundes in den Sinn. Ich hatte ihm mal irgendwann erzählt, dass mich ein anderer Kollege spät abends im Schnee mitgenommen hat; damals lag meine Wohnung sogar auf seinem Weg. „Er ist verheiratet, mach Dir keine Sorgen…“, denke ich mir. „Das sagt gar nichts Mondkind…“, tönt es aus dem Off. Und während ich da so sitze und fast ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Freund bekomme fällt mir auf, dass ich in den letzten Stunden mal wirklich gar nicht an den Freund gedacht habe. Die Notaufnahme mit anderen Kollegen, mit denen ich mich absprechen kann wenn ich unsicher bin, in den Griff zu bekommen, macht sogar Spaß.

Erst zu Hause stelle ich fest, wie müde ich bin und bin dankbar am nächsten Morgen länger schlafen zu können, weil der Kollege mich ja abholt. Und am nächsten Morgen bin ich froh, weil es geschneit hat (war das angekündigt…???) und ich mit dem Fahrrad nicht durch den Schnee radeln muss, sondern mir aus dem Auto die wunderschöne, weiße Landschaft anschauen kann. 

***

Es ist bald ein Jahr. Seitdem das alles mit dem Freund los ging.
Es gibt so ein paar Momente, die immer und immer wieder durch meinen Kopf springen. Ein paar davon möchte ich aufschreiben.

Irgendwann im Februar.
Es ist kalt. Wir telefonieren und ich laufe durch die Stadt. Ich kann mich erinnern, es war genau auf Höhe der Sparkasse, dass Du mir erzählt hast, dass Du Deinen Job verloren hattest. Und Dich nicht getraut hast, es mir zu sagen. Und es war auch der Spaziergang, auf dem die Entscheidung fiel, dass Du hier her kommst.

März. 28. März. Ich glaube, es war unser letztes, vernünftiges Telefonat.
Frühling, es war recht warm. Ich bin um die Stadtmauer gelaufen, habe mich hinter der Mauer auf eine Bank gelegt, gegenüber des Friedhofes. Der Lockdown lief schon, Du hattest viele Sorgen, ich war auch recht müde von der Notaufnahme, aber wir haben sehr lange geredet. Das weiß ich noch. 

 

Ich erinnere mich, als sei es gestern...

Irgendwann im April. Eines der vielen Telefonate.
Ich war gerade auf den Saalewiesen angekommen. Maximal sieben Minuten von meiner Haustür entfernt. Bis dahin hatte ich mir nur angehört, dass Du glaubst dement zu werden und ich dann ja nichts mehr mit Dir zu tun haben möchte. Und dann hast Du gesagt, dass Du Dich nicht mehr auf mich konzentrieren kannst und wir Schluss mit Telefonieren machen müssen.
Ich hatte Tränen in den Augen. Wo war dieser Mensch, den ich kannte?

Ein anderes Mal im April.
Ich habe Dich erst angerufen, als ich schon im Park war. Es ging um Deinen ganzen Medikamenten – Cocktail und ich hatte mich gebildet, wie man das abdosieren und ausschleichen soll. Du hattest Sorge, dass die Ärzte das falsch machen und ich habe Dir erklärt, dass es leitliniengerecht ist und Dir zum Beweis ein paar Tabellen geschickt in denen das genauso stand, wie sie es gemacht haben. Du warst ein bisschen beruhigt.

Mai. Eine Woche, bevor Du gestorben bist.
„Hey, ich wollte Dich bitten nicht zu Besuch zu kommen…“ Bitte was… ? Ich habe die Nachricht unzählige Mal gelesen. So förmlich. So gar nicht Du. Seit wann sehen wir uns nicht, wenn ich in der Stadt bin? Wo wir doch manchmal hunderte Kilometer durch das Land fahren, um uns irgendwo in der Mitte zu treffen...
Ich habe es respektiert. Es war auch für Dich eine schwere Zeit. Und Du hast mir versprochen, dass wir uns bald sehen.

Mai. Jener verhängnisvolle Tag.
Die Notaufnahme ist voll, ich renne gerade durch die Radiologie zum CT, als ich an einem Wartebereich in der Radiologie vorbei komme. Ich weiß bis heute nicht warum, aber ich setze mich im größten Stress kurz und denke an Dich.
Spätestens abends erwarte ich eine Nachricht von Dir. Ich mache mir ein bisschen Sorgen. Und plötzlich rast mein Herz ein Mal kurz.
Ich zwinge mich zu konzentrieren. Mache weiter. 

 

Foto, das bei unserem letzten Telefonat entstanden ist

Der restliche Mai und der komplette Juni verschwimmt im Nebel. Ich kann mich an nichts erinnern. An nichts.

Juli. Der dritte des Monats.
Ich sitze mit dem Handy am Ohr im Blutabnahmezimmer und glaube, ich werde dort gleich kollabieren. Weinend, zitternd, völlig fassungslos. Am anderen Ende der Leitung der ehemalige Herr Kliniktherapeut. Die Ruhe in Person. Im Hintergrund zwitschern die Vögel, obwohl über mir gerade der Tod schwebt. Paradoxen gibt es.
Ich wünschte, er würde nie auflegen. Der Anfang von etwas, das vielleicht nie enden wird. 

Juli. Ein paar Tage später
Ich auf dem Weg in die Studienstadt. Am Bahnhof, auf dem wir immer miteinander telefoniert haben. Immer. Ich weiß bis heute nicht, wie ich das überlebt habe.

 

Ob ich dort nochmal sitzen werde... ? Und wenn ja - was wird das Ziel sein?

Juli. Mittlerweile schon der Neunte.
„Gehen wir?“, wie bei einer normalen Verabredung. Die blauen Schuhe des Herrn Kliniktherapeuten, die sich schnellen Schrittes in Richtung Notaufnahme bewegen. Mir ist nicht klar, was hier gerade abgeht. Lila Shirt. Ob das wohl Absicht ist, Herr Therapeut…?
Ein warmer Sommerabend. Der auf der geschlossenen Psychiatrie endet.
Wahnsinn. Kompletter Wahnsinn. Meine Zimmernachbarin erzählt mir, wie sie versucht hat, sich umzubringen. Und ich glaube, ich drehe durch dort.

Die Mitte des Monats ist schon eine Weile überschritten.
Erster Morgen auf der offenen Station. Auf meiner „alten Station.“ Ein winziges Bisschen Privatsphäre nach der Geschlossenen. Ich sehe von meinem Bett aus die Baumspitzen, die sich im Wind wiegen. Und ich frage mich, was Du siehst.
Ich mache die Augen wieder zu. Ich ertrage das nicht.
Es ist nach 10 Uhr, als ich den ersten Fuß auf den Flur setze.
Und das erste Mal spüre: Ich bin sicher. Fest überzeugt, dass man mir hier helfen kann. Dass es keinen Ort gibt, an dem ich sicherer sein könnte. Ich habe mich nicht ohne Grund für diese Psychiatrie entschieden, obwohl der Freund hier mal gearbeitet hat.

Telefonat mit dem Seelsorger. Irgendwann mal abends. Die Sonne scheint noch und ich sitze gegenüber des Gebäudes bei der Turnhalle. Er sagt, dass er jetzt Urlaub hat. Gerade habe ich ihm erklärt, wie ich jetzt langsam alle Themen gut im Helfersystem verteilt habe. „Ich glaube, ich kann Sie dort erstmal ruhigen Gewissens in guten Händen wissen und in den Urlaub gehen…“
Ein bisschen beunruhigt hat es mich, aber ich habe geglaubt, dass ich sicher genug bin.
Bis wenige Tage danach alles auseinander fiel.

Jeden Morgen. Entweder Katze kuscheln. Oder Mandalas malen. Mit Musik in den Ohren. Johannes Oerding – blinde Passagiere. Silbermond – in meiner Erinnerung. Christina Stürmer – Du fehlst hier. Westlife – I’ll see you again. Nochmal Johannes Oerding – Wenn Du gehst. Revolverheld – Liebe auf Distanz. Und unsere Geschichte ist erzählt.
Diese Lieder liefen auf Dauerschleife. 

 

Das vermisse ich auch sehr...

Letztes Gespräch bei Herrn Kliniktherapeuten. „Sehen wir uns nochmal wieder…?“ Ich hab’s gehofft. Heute ist die Frage mit „nein“ zu beantworten.
Klar darf man darüber im therapeutischen Setting niemals reden, aber ich vermisse diesen Menschen unglaublich. So sehr, dass es so oft weh tut. Ich vermisse es, gesehen zu werden. Ich vermisse es, dass mir jemand das Gefühl gibt, wichtig zu sein. Das Gefühl, ein Auge auf mich zu haben. Das Gefühl, nicht vergessen zu werden, am Ende des Tages.
Ich vermisse diese Klinik als einen Ort, der ein zu Hause war, als es kein anderer Ort mehr sein konnte. Ich vermisse es, mit diesem Schmerz irgendwo hin zu können. Irgendein Gegenüber zu haben, das mich kennt, das spiegelt, das Resonanz geben kann. 

 

Die Frage nach den Fußspuren und dem Leuchten habe ich mich sehr oft gefragt, während ich in der Tagesklinik auf den Therapeuten gewartet habe.

 

Letzte Musikstunde. Ich liege vor dem Klavier. Ein magischer Moment. Der Schmerz kann nicht mehr in mir bleiben. Ich liege auf diesem grauen Teppich und weine, bis der letzte Ton im Raum verhallt. Fühle mich von der Musik in all dem Schmerz in den Arm genommen.
Es ist wunderschön.

Wenige Stunden später. Geschlossene 2.0
Ein minikleiner Teil ist sogar dankbar. Der, der nicht wusste, wie wir das überleben sollen.

Wir leben noch. Bis heute. Haben diese Woche mal ziemlich erfolgreich ohne die Antworten zu bekommen, die wir gesucht haben, die Klinik als allerletzte Option abgeschossen. Jetzt nimmt mich da keiner mehr, wo die Verbindungen zwischen dem Freund und mir bekannt sind.

Ich hätte nie gedacht, dass man das überleben kann. Jeden Morgen reißt mich der Wecker aus dem Koma, in das ich irgendwann unter Tränen gefallen bin. Den ganzen Tag hüpfe ich durch die Notaufnahme in Wellen zwischen Aufmerksamkeit und absoluter Übermüdung. Manchmal schlafe ich fast im Stehen ein und manchmal, ganz selten, gibt es solche Situationen wie eingangs beschrieben. In denen ich plötzlich mitten drin bin, das Chaos jongliere, dazu gehöre, trotz allem etwas schaffe, für das die anderen hinterher dankbar sind. Ganz kurzzeitig habe ich einen Platz.
Ehe mich zu Hause die Wohnung erschlägt, in der wir heute gemeinsam hätten leben sollen.

Wie sehr wünschte ich, ich könnte die Zeit noch ein Mal zurück drehen.
Noch ein Mal mit dem Freund am Fluss stehen. Noch ein Mal seine Hand in meiner fühlen und dabei die störenden Ringe wahr nehmen. Noch ein Mal seine Arme auf meinem Rücken fühlen. Noch ein Mal spüren, wie ich mich auf Zehenspitzen stelle, um ihn besser umarmen zu können, bevor wir fast umkippen.
Wie gerne würde ich noch ein Mal durch die Uni streifen. Noch einmal mit dem Freund dort im Café sitzen, in dem wir immer saßen.
Wie gerne würde ich noch ein Mal in der Ambulanz an der Uni sitzen, spüren, wie sich die Ruhe über meine Schultern legt, bis ich die Therapeutin mit ihren Absätzen den Gang hinab klappern höre, um dann ein „Frau Mondkind“ zu vernehmen. Wie gern würde ich ihr noch ein Mal gegenüber sitzen.
Wie gerne würde ich noch ein Mal in der Tagesklinik sitzen. Während ich auf Herrn Therapeuten warte mich fragen, wie bunt der Boden jetzt wohl wäre, wenn Deine Fußspuren nochmal leuchten können. Um ihm dann gegenüber zu sitzen. Rechts von mir das Bild an der Wand, das die Schematherapie in Form eines Baumes visualisiert. Noch ein Mal seine Aufmerksamkeit auf mir spüren. Noch ein Mal kurz das Gefühl haben, dass ich – egal was passiert – nicht alleine bin. Dass er am anderen Ende von dem Seil steht, das er mir am letzten Morgen auf der Station mit gegeben hat. „Ziehen Sie mal dran“, hat er mich aufgefordert und mir das Ende hin gehalten. Ich habe gezogen. Und er auch. „Ich werde immer da sein“, hat er gesagt. Ich wusste, dass das nicht wahr ist.

So viele Momente von Gold und Schmerz nebeneinander.
Und vielleicht sind Erinnerungen manchmal alles was bleibt. Und die völlig unrealistische Hoffnung, dass sich vielleicht zumindest mit denen, die noch leben, nochmal etwas ergibt. Dass ich noch ein Mal irgendwo einen Platz finde, gesehen werde, einen Ort habe, an dem ich sein darf.
Obwohl auch das Hoffnungen sein werden, die sich nicht erfüllen werden.
Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich ganz am Ende. Und so lange, wie die noch nicht aufgegeben hat, schleppen wir uns durch jeden Tag. Und hoffen, dass sich irgendetwas noch ein einziges Mal wiederholt.
Heute kann ich nicht glauben, dass ich ein Leben leben soll, das ohne die Goldmomente von damals auskommen soll. In dem einfach nichts mehr übrig ist. Außer das Funktionieren, das Vorwärts gehen, das Nicht - stehenbleiben.

Deine Kerze ist erloschen. Auf dem Tisch vor mir.
Ich sollte aufhören zu schreiben. Und ins Bett huschen. Mich erholen. Am Sonntag habe ich was… ? - ersten Dienst. Und nach einer sehr kurzen Nacht geht es in den Montag.

 

Mondkind

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