Neun Monate
Hey mein lieber Freund,
na, wie geht es Dir so?
Neun Monate. Neun Monate ist dieser Moment her, der alles verändert
hat, alles in den Stillstand gebracht hat. Mir war das monatelang nicht klar,
was das wirklich heißt - dass ich nicht nur Dich verloren habe, auf den ich
mich immer und überall verlassen konnte. Sondern auch das Leben, das ich davor
hatte. Das nicht so viel war. Aber das ich mir in mühevoller Kleinarbeit seit
dem ersten Klinikaufenthalt aufgebaut hatte. Eine Handvoll Freunde, die
Studienstadt, die ich nicht loslassen konnte, weil ich am Ende doch auch gute
Erfahrungen dort gemacht habe. Das Helfernetzwerk, das diesen Knall nicht
überstanden hat.
Ich war seit jenem Tag nicht ein Mal mehr in der Studienstadt. Habe
die Freunde nicht mehr gesehen, den Fluss nicht mehr. Habe die Frau Therapeutin
nicht mehr gesehen und den Herrn Therapeuten wenige Wochen später verloren. Wir
haben das noch versucht, aber es ging nicht. Und – so das überhaupt noch
möglich war – haben auch meine Eltern und ich sich noch weiter voneinander
entfernt.
Heute kann ich das zumindest nachvollziehen. Die
Überforderungssituation, in die uns Dein Tod katapultiert hat und die Folgen,
die das hatte. Ich bin traurig darüber, aber ich klage niemanden mehr an.
Ich bin arbeitstechnisch gesehen wieder in der Neuro - Notaufnahme
gelandet. Zum größten Teil zumindest. Ich muss wohl nicht sagen, wie es mir damit
geht. Man überlebt halt.
Aber diese Woche, Mittwoch und Donnerstag, gab es Personalknappheit
auf der Kurzliegerstation, deshalb wurde ich dorthin versetzt. Die Station war
schon halb leer kurz vor Ostern, die Kollegin hat immer gute Laune und lacht
viel, was ein bisschen ansteckend ist und obwohl ich so müde bin, dass ich kaum
noch etwas aufnehmen kann, war es ganz nett.
Sie mag es auch immer das Radio laufen zu lassen nebenbei; genau den
Sender, den ich früher immer im Labor gehört habe. Ein bisschen erinnert es
mich an diese Zeiten, an das damalige Leben, an uns, an meine kleine Welt dort,
die zerbrochen ist und die ich doch sehr vermisse. Und dann kam ein neues Lied
von Wincent Weiß: „Wer, wenn nicht wir? Geh'n zusamm'n durch alle Zeiten, was
auch passiert, wir beide bleiben, wir bleiben.“ Das hätte ich Dir vor einem
Jahr noch so unterschrieben.
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Na, wo ist das... ? |
Ansonsten war es ein schwieriger Monat. Mit den bislang schwersten und
schönsten Momenten des Jahres und manchmal hätte ich Dich hier zum Trösten
gebraucht und ein anderes Mal, um die Freude zu teilen, weil sie definitiv für
Zwei gereicht hätte.
Nachdem ich mich in den ersten Diensten ja zuletzt ein kleines
bisschen sicherer gefühlt habe, ist der letzte Dienst voll vor den Baum
gefahren. Für den Oberarzt im Hintergrund habe ich es so vergeigt, dass dieser
Dienst eigentlich Konsequenzen haben sollte, aber bislang hat niemand etwas
gesagt. Es ist auch keiner gestorben – im Gegenteil, meine Thrombektomie –
Patientin ist am Ende in die AHB gegangen. „Du hast ihr vielleicht noch ein
paar schöne Jahre geschenkt“, hat meine Kollegin letztens über die betagte Dame
gesagt und mich angehalten, mich eher an dem medizinischen Outcome und weniger
an dem politischen Streit zu orientieren, der an dem Dienst - Tag Gegenstand der
erhitzen Gemüter war. Jedenfalls… - Du kannst Dir wahrscheinlich vorstellen,
dass mir vor dem nächsten Dienst die Knie ziemlich schlackern. Der kommt schon
nächste Woche. Mein erster Nachtdienst fällt übrigens auf Deinen Geburtstag.
Ich weiß noch nicht, wie meine Patienten an dem Tag und ich das wohlbehalten
überleben sollen.
Ein sehr schöner Moment war letztes Wochenende. Die potentielle
Bezugsperson hatte ganz spontan die Idee, dass ich ja Samstag vorbei schneien
könnte. Eigentlich wollten wir Gartenarbeit machen, aber weil das Wetter so
schlecht war, haben wir dann im Wohnzimmer Blumen umgetopft. Naja… - Blumen… -
also eher Nutzpflanzen… ? Oder wie soll ich das jetzt nennen… ? Jedenfalls
meinte er, dass ich auch ein paar Tomatenpflanzen bekomme, wenn sie in seinem
Büro noch ein bisschen wachsen durften. Und ich würde mir eigentlich sehr
wünschen, dass Du auch sehen könntest, wie endlich mal Pflanzen auf den
Wintergarten kommen.
Weißt Du, das sind diese Momente, in dieses zersplitterte Herz mal
kurz im Takt schlägt. Trotz allem was passiert ist, trotz all dieser Schuld und
dem Versagen der letzten Monate, nehmen Dich zwei Menschen mit so viel
Vorsicht, Achtung und Wertschätzung in ihre Mitte, dass es einfach, trotz all
der Müdigkeit die auf mir liegt, berührt.
Hinsichtlich Therapie und Helfernetzwerk – es ist eine schwierige
Geschichte.
Erstmal muss ich Dir etwas beichten. Erinnerst Du Dich an Deine
Lieblings – Ergotherapie – Kollegin? Weißt Du… - ich bin nach all den Monaten
[natürlich] immer noch auf der Suche nach Antworten. Ich möchte wissen wer Du
warst, wenn ich nicht dabei war. Worüber hast Du geredet, hast Du über uns
geredet, hast Du irgendetwas über unseren Plan verlauten lassen, zusammen zu
ziehen? Warst Du vielleicht unzufrieden mit einigen Dingen und hast es nicht
deutlich gemacht? Ich kann mir nicht vorstellen, mit all den Ungewissheiten bis
ans Ende meiner Zeit leben zu müssen. Und ich weiß, dass niemand alle Antworten
und alle Wahrheiten kennen wird – der einzige Mensch, der mir das vollumfänglich
beantworten könnte, ist schließlich tot. Jedenfalls habe ich der
Ergotherapeutin eine Mail geschrieben und naja… - auch wenn Haus 10 und ich
nicht unbedingt friedlich auseinander gegangen sind, aber irgendwie dachte ich
schon, dass das eine gute Quelle sein könnte, weil Du Dich da in Deiner
beruflichen Situation so wohl gefühlt hast, sicher ein bisschen was erzählt
hast und weil man mich da ja auch lange ernst genommen hat und unterstützen
wollte. Es hatte nur alles leider gar keinen Sinn. Die haben mir nichts
erzählt. Vielleicht findest Du das gut? Dass Deine Ansichten für immer irgendwo
bei den Menschen, aber nicht bei mir bleiben? Die schützen Dich dort sehr.
Schlecht für mich, aber vielleicht zeigt es auch die Wertschätzung gegenüber
Dir. Durchgeknallte Patienten bekommen keine Infos; da könnte ja jeder ankommen
und irgendetwas behaupten.
Aber natürlich wissen sie auch spätestens jetzt, was passiert ist. Und
das heißt natürlich auch, dass ich da nie wieder hin kann.
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Ich lieb's, wenn ich Dich fast fühlen kann... |
Der Aufbau eines neuen Helfernetzwerks klappt indes sehr schleppend.
So wie früher wird das nicht mehr. Das ist auch unmöglich. Die Menschen haben
all die turbulenten Jahre, die ständigen Umzüge, den Kampf mit meinen Eltern um
die Autonomie nicht miterlebt. Die hören das nur aus Erzählungen.
Ein Psychosomatiker zwischendurch war richtig gut. So sehr gesehen,
gehalten und ernst genommen habe ich mich selten gefühlt. Deshalb dachte ich,
dass es bei seiner Frau, bei der ich jetzt gelandet bin, auch gut klappen
könnte, aber… - nein. Ich weiß nicht mal, was das Problem ist. Klar, nach dem
Herrn Kliniktherapeuten ist die Messlatte so hoch, dass man die kaum erreichen
kann. „Ich glaube, ich bin die stabilste therapeutische Beziehung, die Frau
[Mondkind] je hatte.“ Letzter Sommer. Seine Worte. Und vielleicht auch je haben
wird. Vielleicht ist Tiefenpsychologie auch nicht das, was jetzt in der
Akutsituation angebracht ist. Ein paar Wochen, bevor sich hier alle
Katastrophen wiederholen, Dein Geburtstag, der Mai, der letzte Besuch in der
Studienstadt, dein Todestag, die lange Stille – da brauche ich Resonanz und
konkrete Pläne, wie ich das schaffen soll und weniger, eine Stunde ohne
Resonanz vor mich hin gegen die Wand zu sinnieren. Und zuletzt… - sie geht
nächstes Jahr in Rente. Ich kann nicht in einem Jahr schon wieder dem nächsten
Therapeuten hinterher trauern. Das geht einfach nicht, ich habe immer noch sehr
an dem Herrn Kliniktherapeuten zu knacken und das ist jetzt schon eine Weile
her. Vielleicht mag ich mich auf solche Leute auch nicht mehr einlassen, weil
das immer mit Verlust endet. Klar, ist ja so vorprogrammiert.
Jedenfalls… - fehlen mir unsere „Post – Therapie – Cafe – Dates“ sehr.
Aktuell missbrauche ich dafür die potentielle Bezugsperson etwas; sie bekommt
jedes Mal danach eine lange Mail, auch wenn das bei der neuen Therapeutin sehr
nichtssagend ist. Aber er sagt dazu eben auch einfach… - nichts. Außer, dass
ich mich jetzt um die Beantragung der Therapie kümmern soll (was sicher alleine
bis Mai dauert) und dass er nicht bereit ist mich weiter zu unterstützen, wenn
ich nicht zur Therapie gehe. ( Ehrlich gesagt ist diese Kombi aber auch
interessant; die gab es so noch nie; sonst musste ich den Therapiekrempel immer
überall vor der „Obrigkeit“ verstecken). Also erübrigt sich die Frage, ob ich
das weiter mache oder nicht – hauptsächlich, weil ich ihn nicht auch
noch verlieren kann; weniger, weil mir das wirklich etwas bringt.
Ansonsten steht ja jetzt Ostern vor der Tür.
Wie Deine Mutter gestern treffend feststellte, muss natürlich auch das
„Nesthäkchen der Neuro“ arbeiten gehen, aber es ist ehrlich gesagt recht
moderat. Nur am Sonntag. Gut okay, das ist schließlich DER Feiertag in diesen
ganzen Ostertagen, aber vor habe ich ohnehin nichts.
Ich habe mir überlegt, ob ich vielleicht unser Ostergericht vom
letzten Jahr nochmal kochen möchte.
Ein bisschen Sorgen mache ich mir auch um diesen Monat und die
kommenden Beiden. Diesen Monat hast Du Geburtstag, genau an meinem ersten
Nachtdienst und es ist ja nicht mal erlaubt, eine Kerze im Krankenhaus
anzuzünden. Jeden Tag brennt hier Deine Kerze nur an diesem wichtigen Tag
nicht. Um im Monat danach… - reden wir mal nicht drüber. Mein letzter Besuch in
der Studienstadt, Dein Todestag. Keine Ahnung, wie ich das schaffen soll. „Es
wäre schon ein Erfolg, wenn dieser Sommer nicht in der Psychiatrie endet“,
habe ich letztens dem Oberarzt geschrieben. (Obwohl ich auch nicht wüsste wo. Hier
im Umkreis geht wegen der beruflichen Situation nicht, in die Studienstadt kann
ich nicht mehr).
Und manchmal wäre mir schon ganz viel geholfen, wenn die Menschen
einfach nur sagen würden: „Mondkind, ich denk an Dich“, an solchen Tagen.
Wir hören uns… - halt die Ohren steif. Ich hoffe, es geht Dir gut, wo immer Du auch bist.
Ganz viel Liebe
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