Über Patientenverfügung und Wut

Das Osterwochenende sollte eigentlich ruhig werden.
Spazieren gehen, Mandalas ausmalen, ein paar Haushaltsdinge machen, die man sonst nicht oft schafft, wie Staubsaugerfilter reinigen oder den Kühlschrank putzen. Und ein bisschen Kochen; vielleicht das Ostergericht vom letzten Jahr, in dem der Freund und ich zum getrennt – gemeinsamen Kochen verabredet waren.

Was daraus wurde: Ich bin bis zum Kühlschrank putzen heute Vormittag gekommen. Nach einer 11 – Stunden – Nacht, in der ich geträumt habe, dass unser Haus abgebrannt wäre; keine Ahnung, wie ich darauf kam. Und immer noch müde war.
Nur irgendetwas in der hintersten Ecke meines Hirns; das war wach. Ich weiß nicht, wieso ich über Patientenverfügungen nachgedacht habe und ich weiß nicht, warum mir etwas eingefallen ist, das fast vergessen schien. Der Freund kam letztes Jahr im März auf die Idee, dass er eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht brauche. Ich habe damals gedacht, dass ich vielleicht ein bisschen zu viel von der Arbeit erzählt habe und er Angst bekommen hat. Er wollte, dass ich in diesen Dokumenten drin stehe. Das ist auf der einen Seite eine große Verantwortung, auf der anderen Seite aber auch eine große Ehre, weil das bedeutet, dass er mir im wahrsten Sinne des Wortes sein Leben anvertraut. Ich hatte vorgeschlagen, dass wir das ja machen könnten, wenn wir uns das nächste Mal sehen, aber er wollte es so schnell wie möglich fertig haben, sodass wir das letzten Endes auf dem Postweg gelöst haben.

Nur jetzt nach seinem Tod steht die Sache halt in einem anderen Licht da. Während ich schon auf dem Boden meiner Küche sitze, weil mich die Erkenntnis etwas erschlägt, wird mir klar: Ich kann ihm das nicht beweisen, vielleicht ist es auch einer der vielen „dummen Zufälle“ in dieser Geschichte, aber vielleicht wollte er, dass jemand den Stecker ziehen kann – und auch mehr oder weniger verpflichtet wird, das zu tun – wenn es schief geht. Wenn er es doch überlebt.
Das kann nicht wirklich sein Ernst gewesen sein. Das hätte er mir nicht wirklich antun wollen, oder? Ich wäre durch diese Verfügung ja vollkommen instrumentalisiert gewesen und zum ausführenden Opfer seines Plans geworden. Ich hätte diesen Menschen im schlimmsten Fall sterben lassen müssen.

Wenig später schaue ich mal auf mein Handy. Der Seelsorger hat geschrieben. Er ist heute an der Klinik und wenn ich frei habe, könnte ich vorbei kommen. Wie lieb, dass er an mich denkt. Ich hatte ihm schon letztens erklärt, dass das mit Terminen in der Notaufnahmezeit eine ganz schwierige Kiste ist. Und wie passend das jetzt einfach ist. 

Das ist übrigens der Ausblick von einem der Seelsorge - Zimmer der Klinik. Wenn man vom Balkon absieht, echt hübsch...

 

Einige Stunden später sitze ich beim Seelsorger.
Zuerst reden wir einige Zeit über den vergeigten ersten Dienst, der im Endeffekt gar nicht so vergeigt war. Zumindest für die Patientin, um die es ging. Am Ende kommen wir darauf: Ich nehme mir etwas zu Herzen, was eine Kollegin letztens gesagt hat: „Du solltest aus dem Fall sicherlich einiges für Dich und die Optimierung Deiner Abläufe lernen, aber was die Patientin anbelangt: Ihr hast Du vielleicht noch ein paar schöne Jahre geschenkt.“ Und das ist doch eigentlich das, was uns als Mediziner wirklich interessieren sollte.

Dann kommen wir auf den Freund zu sprechen und ich erzähle von der Patientenverfügung. „Und jetzt sind Sie wütend, weil Sie sich instrumentalisiert fühlen“, schlussfolgert der Seelsorger. „Naja nein“, entgegne ich. „Wieso nicht?“, fragt er. Und dann erkläre ich, dass ich nicht weiß, ob er damals noch zurechnungsfähig war. Ob er noch der Mensch war, den ich fünf Jahre kannte. Ob er überhaupt noch in der Lage war, an andere zu denken. „Aber deswegen dürften Sie doch trotzdem wütend sein“, sagt der Seelsorger. „Naja… - ich kann ihn doch jetzt dafür nicht verurteilen“, erkläre ich.

Und dann führend wir eine interessante Diskussion über Wut. Und am Ende kommt raus: Auf jemanden wütend zu sein, bedeutet erstmal nur, dass da eine Grenze verletzt wurde. Das heißt nicht, dass ich auf den Menschen wütend bin, es heißt, dass ich auf die Grenzverletzung wütend bin. Und ob das eine negative Bewertung desjenigen Menschen nach sich zieht, der die Grenze verletzt hat, ist eine ganz andere Frage. „Grenzen müssen ständig verletzt werden – damit Sie spüren, dass Sie Grenzen haben und um auch zu spüren, dass andere die Grenzen haben.“ Wut sei letzten Endes auch ein Bindungsgefühl, aber keinesfalls so negativ besetzt, wie ich glaube.

In dem Zusammenhang reden wir auch nochmal über die Nachricht von der Ergotherapeutin von letztens, die nicht bereit war mit mir über den Freund zu reden. „ Da waren Sie sehr wütend. Die Grenzverletzung in dem Fall ist, dass Sie den Eindruck haben, dass Ihre Bedürfnisse nicht gehört werden. Und darauf dürfen Sie wütend sein. Das heißt aber nicht gleich, dass Sie die Ergotherapeutin – die Sie ja doch auch geschätzt haben, wie es scheint – abwerten.“

Ich glaube, was wir da in den zwei Stunden erarbeiten, ist ein ganz wichtiger Schlüssel. Es ermöglicht mir erstmals überhaupt wütend sein zu können, weil Wut für mich sonst „Das Gefühl mit dem Rotstift“ war. Aber so ist es nicht. Wut ist ein sehr starkes, intuitives und kraftvolles Gefühl, das erstmal nur alarmiert: Hey, da ist eine Grenze. Ich spüre, die wird übertreten.

Übrigens ist das auch das, was Therapie meiner Meinung nach sein sollte (auch wenn er natürlich eigentlich kein Therapeut ist...). Interaktion, produktives Arbeiten miteinander. Stunden mit dem Seelsorger bringen auch häufiger mal nicht so viel, das ist mutmaßlich normal; aber er versucht auf mich einzugehen und ist auch lösungsorientiert. Hinsichtlich weiterer Termine bietet er an, dass wir das – wenn es in der Notaufnahme eben nicht anders geht – auch kurzfristig machen können. Sprich: Wenn ich 16:15 Uhr wirklich den Funk abgebe und keine Patienten mehr habe, kann ich ihn anrufen; vielleicht hat er dann spontan Zeit. „Ich glaube nämlich schlimm an der Notaufnahme ist auch, dass sie das Helfernetzwerk sprengt. Hinsichtlich der Arbeitseinstellung… - muss man vielleicht jeden Tag mit der Einstellung hingehen: Ob heute eine Katastrophe passiert weiß ich nicht… - aber eigentlich: Warum soll sie nicht morgen passieren? Ich kann mich nicht jeden Morgen verrückt machen, das schaffe ich nicht bis November.“ Findet er gut.

Und dann gehe ich noch eine Runde im Park spazieren. Fühle ein bisschen Frieden. Wenn das schon die perfekt abgefangene Oster – Katastrophe war… - wäre es sehr gut. 

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen