Von Momenten und Erinnerungen

Es gibt Momente, die wie ein Katapult durch die Zeit sind.
Heute Morgen.
Bevor ich zur Arbeit gehen möchte, drehe ich noch eine Runde durch die Wohnung. Und was sehe ich da? Die Sonne scheint herein und hinterlässt Spuren von Licht an der Wand. Sicher ist das schon seit ein paar Tagen so, dass die Sonne schon bevor ich gehe wieder in die Wohnung scheint, aber jetzt, genau in diesem Moment, realisiere ich das.

Und plötzlich ist Mai. Letztes Jahr. Es war ein anderes Leben.
Es war der Monat, in dem es die letzten Momente gab, die das Licht in meinem Leben von damals waren. Die letzte Reise in die Studienstadt, in der der Freund und ich uns leider nicht gesehen haben, weil er in der Klinik war. Aber das letzte Mal, dass ich ihn am Bahnhof in der Leitung hatte. Es hatte geschüttet wie aus Eimern, meine Füße waren nass und er hatte mich gefragt, ob ich nicht noch ein bisschen durch die Stadt laufen möchte. „Du Pappnase, es schüttet so richtig. Da stellt man doch keinen Hund vor die Tür“, habe ich entgegnet. Als wäre es gestern.
Es war das letzte Mal, dass ich die Freunde von damals gesehen habe, dass ich am Fluss in der Studienstadt saß, dass ich die Frau Therapeutin gesehen habe, dass ich – mit dem alten Leben im Gepäck, bevor der Tod des Freundes auch uns auf verschiedene Standpunkte gestellt habe – bei Herrn Therapeuten saß.

Und vor einem Jahr um diese Zeit dachten der Freund und ich, wir sind auf der Zielgeraden. Von dem, was werden sollte. Zumindest in den Momenten, in denen ich nicht selbst suizidal war. Heute weiß ich, dass wir - oder zumindest ich - keine Ahnung hatten, in was wir da hinein laufen.

Heute gibt es das alles nicht mehr. Ich weiß, ich muss leben. Aber ich weiß auch, dass es diese Auszeiten zwischendurch nicht mehr gibt, diese Zipfelchen von Leben. Nicht mehr gemeinsam durch die Uni laufen, nicht mehr in den Cafés sitzen, auch wenn es wieder erlaubt ist.  Nicht mehr mit den Freunden von damals am Fluss sitzen.
Es war ein Leben, das ich mir so mühevoll aufgebaut habe und das innerhalb von so wenigen Tagen zerbrochen ist. Und seitdem kriecht die unendliche Erschöpfung durch mein Leben. Gefühlt bin ich nie wach. Und es hat ja auch – ehrlich gesagt – alles keinen Sinn mehr. Ich könnte von vorne anfangen. All die Aufaben der letzten Jahre nochmal wiederholen. Die Menschen erwarten das, relativieren mein Leid mit ihrem eigenen, um mir zu zeigen, dass das ja mal alles gar nicht bereichtigt ist.
Aber ich möchte es einfach nicht. Ich bin noch nicht bereit das, was längst verloren ist, loszulassen.

 


Erinnerungen.
Mir ist mal aufgefallen, ich kann mich kaum noch an etwas erinnern. Und damit meine ich jetzt nicht mal die rationalen Erinnerungen – obwohl ich auch da viel vergessen habe, gemessen an dem, was der Freund und ich über die Jahre geteilt haben.
Aber ich meine das emotionale Erleben. Wie hat sich das angefühlt, wenn er mich in den Arm genommen hat? Was habe ich gedacht und gefühlt wenn ich wusste, dass ich auf dem Weg an die Uni war, um ihn dort zu treffen? Was hat mein Herz dazu gesagt, wenn ich seine Nummer auf meinem Handydisplay gesehen habe? Wie war das, wenn wir uns auf den Bahnhöfen getroffen haben? Ich weiß, dass es schön war. Rational weiß ich das noch. Aber ich fühle es nicht mehr. Sehe mich nicht mehr in der Situation der Handelnden. Sehe es nur noch wie einen Film, der vor mir abgespielt wird und davon auch höchstens ein bis zwei Sekunden.
Ich habe Angst. Dass das die ersten Erinnerungen werden, die verblassen. Und ich das nie wieder wissen werde. Wie es war. Kommt das wieder, oder bleibt das für immer verloren… ?

 

Mondkind

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