Brief - ein Jahr nach dem letzten Kontakt

 Hey mein lieber Freund,
„Guten Morgen, wie geht es Dir so?“
Und dahinter eine Sonne
17. Mai 2020.
Ein Jahr her.
Der erste Satz des morgens. Damals nicht ganz unbesorgt nach dem Telefonat vom Vortag. Aber noch unwissend.

Und jetzt sag, wie geht es Dir eigentlich?

Ein Jahr ist Deine Stimme jetzt schon verstummt. Haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Unser Leben nicht mehr geteilt. Es zerreißt mir das Herz heute sagen zu müssen: Keine Ahnung, wann genau Du gestorben bist. Ich glaube, das weißt nur Du selbst. Irgendwann zwischen gestern Abend und dem 22. Mai. Aber genau ab heute habe ich Dich ein Jahr nicht mehr gehört.

Und trotz allem was passiert ist, all dem Leid, all den Tränen, der Verzweiflung, der Sehnsucht und den Schuldgefühlen, wollte ich die Gelegenheit nochmal nutzen, um Danke zu sagen.
Danke für die Zeit, die wir gemeinsam hatten. Für das Leben, das wir geteilt haben. Dafür, dass Du mir die Stadt gezeigt hast, in der ich damals gewohnt habe, bis sie ein Teil zu Hause geworden ist. Dass wir unser Leben geteilt haben, Du mir die ersten Schritte hinaus in eine neue Normalität ermöglicht hast, mich bis dahin an die Hand genommen hast. Danke fürs Abholen vom Bahnhof, für unsere Café  - Dates, zum Bringen und Abholen von der Therapie, für die Unterstützung bei allen Plänen, die ich so hatte. Egal, ob es um Umzüge, Klinikorganisation oder was auch immer ging.
Danke dafür, dass Du mir ermöglicht hast in Dir einen unverrückbaren Anker zu haben, dass ich mit Dir über alles reden konnte, dass ich wusste, dass ich bei Dir uneingeschränkt ehrlich sein konnte.
Danke, dass Du mir ein Stück Zukunft ermöglicht hast, ein verloren geglaubtes Vertrauen für die Zeit in der wir uns kannten wiederherstellen konntest.
Danke, dass ich Dich meinen besten Freund nennen durfte. 

Während des letzten Telefonats mit Dir am 16. Mai 2020 entstanden...

 

Ich muss Dir noch etwas erzählen.
Ich hatte gestern ersten Dienst. Es war sogar ganz okay. Keine Vollkatastrophen, wenn auch viel zu tun. Ich hatte abends sogar Zeit, um nochmal durch die Zimmer der Stroke Unit zu hüpfen. Eigentlich muss man abends nochmal nach allen Patienten schauen, aber wie oft habe ich das schon nicht geschafft und habe darauf vertraut, dass die Pflege sich meldet, wenn etwas nicht passt…

Und da stand ich dann in einem Zimmer bei einem recht jungen Schlaganfall – Patienten, dem es zum Glück recht gut ging. Und dann erzählte er mir, dass er eigentlich in der Studienstadt wohnt und hier nur gerade in der Gegend war, als der Schlaganfall ihn ereilte. Er berichtet, wo er wohnt. „Und in dem Studentenwohnheim in der Nähe habe ich gewohnt“, erzähle ich.
Er berichtet, wo er arbeitet. Auf dem Psychiatriegelände. Das wir beide so gut kennen. Und dann erzählt er, dass der Neubau endlich fertig ist und die Kliniken in den nächsten fünf Wochen in den Neubau ziehen. Er erzählt von seiner Arbeit dort, von den verschiedenen Stationen. Ich tarne die Sache gut und berichte, dass ich dort einige Zeit ein Praktikum gemacht habe (und das habe ich ja im Rahmen vom Studium auch, nur nicht so lange…). Wir reden über die blühenden Kirschbäume im Frühling, über den neusten Tratsch und Klatsch der Klinik.

Du warst auch regelmäßig da oben an der Klinik. Und ich weiß nicht, woher Du immer Deine Quellen hattest, aber Du wusstest immer, was dort oben gerade abgeht. Ich musste mich so bemühen, nicht zu weinen. Es hatte ein mini – bisschen etwas von längst verlorenen Zeiten.
Und ich hab mich gefragt, ob Du irgendwo da oben sitzt und mir zuschaust. Vor Dich hin geschmunzelt hast, als Du gesehen hast, wie bewegt ich war.
Es gibt Zufälle, die gibt es überhaupt nicht. Da reden wir in der Nacht in der Du vor einem Jahr mutmaßlich gestorben bist über das Leben in der Studienstadt, über die Psychiatrie dort, über die kleine Welt, die uns beide so sehr verbunden hat.
 

Und wenn wir schon bei Zufällen sind… 16. Mais…
Am 16. Mai 2019 habe ich mein letztes Staatsexamen bestanden. Hatte ich vergessen, habe ich die Tage zufällig gelesen.
Am 16. Mai 2020 haben wir beide das letzte Telefonat geführt.
Und am 16. Mai 2021 rocke ich im ersten Dienst die Notaufnahme.
Und hätte mich damals, 2019 mal wer jeweils eine Minute durch die nächsten beiden Jahre springen lassen… - ich hätte es nicht geglaubt.

Du fehlst…
Und heute brennt hier nur noch Dein Licht.
Ich verspreche Dir, ich werde Dich nicht vergessen. Du warst dieser eine Mensch für mich. Den man vielleicht nur ein Mal im Leben trifft.

 
Ganz, ganz viel Liebe
Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen