Vom Schlüpftag und der Retrospektive

Es ist ein Jahr her.
Seitdem ich das letzte Mal bewusst am Hauptbahnhof in der Studienstadt stand.
Ich kann mich genau an dieses Bild erinnern.
(Ehrlich gesagt… - wie ich im Juli in die Klinik gekommen bin, weiß ich nicht mehr… Ob ich da auch über den Hauptbahnhof gefahren bin oder über eine Nachbarstadt, weil ich es einfach nicht konnte, ich weiß es nicht).

Ich habe mir heute Morgen Deinen Geburtstagsgruß aus dem letzten Jahr angehört. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ohne Dich ein Jahr älter werden muss. Dass ich die ersten Dienste schaffen muss ohne Jemanden zu haben, der sich mehr darüber freut, als ich selbst. Ich hätte nicht gedacht, dass Du den Frühling nicht mehr siehst. Dass so Vieles vor einem Jahr, all die Tage die jetzt kommen bis zum 16. Mai – nur aus letzten Malen bestand. Wir wussten damals nicht, dass es die letzten fünf Tage vor der Katastrophe waren. Und wie gerne würde ich die Zeit zurück drehen, erkennen was da läuft, um es anders zu machen
Ich kann mir noch nicht vorstellen, am Sonntagnachmittag sagen zu müssen: „Ich habe Deine Stimme ein Jahr nicht mehr gehört.“ Zumindest nicht mehr live, die alten Sprachnachrichten habe ich ja zum Glück alle noch. Und wenn ich genau darüber nachdenke, dann hat sich so Vieles verändert seitdem. Auch, wenn ich mich gegen alle Änderungen wehre, aber ganz verhindern kann man es nicht. 

Hauptbahnhof in der Studienstadt. Vor exakt einem Jahr. Es war eine andere Welt, ein andere Leben damals...

Wenn ich einen Geburtstagswunsch heute hätte haben dürfen, dann wäre es gewesen, hier nicht alleine zu sitzen. Ich kann verstehen, dass mir keiner abnehmen kann, dass mein Herz gefühlt zerfällt. Es kann niemand diese Mischung aus Traurigkeit, Sehnsucht, Schuldgefühlen und Verzweiflung in mir relativieren. Aber es könnte Jemand neben mir sitzen, mir sein Ohr leihen, mir den Raum geben, den ich gerade brauche.
Aber… - wir sind ja nicht bei Wünsch Dir was…

Ich bin gespannt, wie ich die restliche Woche schaffe. Ich bin heute schon mit Tränen in den Augen über die ZNA gerannt und hätte über die nicht enden wollende Aneinanderreihungen von Schlaganfällen verzweifeln können. „Wir sind schon über 50 Jahre verheiratet. Ich kann nicht ohne meinen Mann. Sie müssen ihm helfen.“ „Die Situation ist kritisch, das muss ich Ihnen leider sagen. Aber ich verspreche Ihnen, dass wir alles tun was wir können, damit er da gut raus kommt.“ Am Abend schaue ich nach Lyse und Thrombektomie nochmal bei ihm vorbei. „Heben Sie mal Ihre Arme hoch“, fordere ich ihn auf. Und schon sind die Arme in der Luft. Und dann meckert er über das Abendessen. Ich wünschte, jede Geschichte würde so gut ausgehen.

Morgen vor einem Jahr durfte ich bei Herrn Kliniktherapeuten sitzen. Und wie viel würde ich darum geben, mir eine Stunde morgen sein Ohr leihen zu dürfen.

Und manchmal stelle ich mir vor, wie sich die Mondkind von heute neben die Mondkind von Damals setzt. Sie einfach ein Mal ganz fest in den Arm nimmt. Als wollte sie irgendetwas sagen. Als hätte die Mondkind von damals ahnen sollen, was passiert.
Geburtstage werden fortan immer der Beginn der Katastrophe sein.
Und wann ich wieder auf dem Hauptbahnhof der Studienstadt stehen werde... - wer weiß das schon...
Ich habe keine Worte mehr für diesen Wahnsinn.

Mondkind

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