Von zu Hause, Familie und Klinik
Freitagabend.
Es ist nach halb 9, als ich den letzten Brief speichere, die Programme
schließe, mein „externes Gehirn“ anschnappe und die ZNA verlasse. Es steppt
immer noch der Bär. Der Dienstarzt hat mit dem Hintergrund zusammen alle Hände
voll zu tun.
Telefon. „Mondkind, ich hab Dich nicht vergessen. Gib mir noch ein paar Minuten, bis es hier ruhiger wird.“
Einstieg. Meine Tomatenpflanzen und die Gurkenpflanze. Gestern wollte er ein Bild haben. Wie es da jetzt aussieht. „Mondkind, die brauchen alle größere Töpfe. Und Dünger…“ „Ich habe sie doch erst umgepflanzt…“, erwidere ich entgeistert. „Ja aber Mondkind, die Tomaten werden zwei Meter hoch. Die müssen ihr Wurzelgeflecht entfalten können. Bei Dir können sie das nicht…“ Aha… - na dann wartet wohl die nächste Umpflanzaktion…
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Meine erste eigene Gurke... 🌱- ob ich wohl etwas stolz auf mich bin? |
Wir reden über „zu Hause“. „Ich glaube…“, erkläre ich, „nach all den
Jahren das Herumirrens, nach den vielen Stationen nach dem Elternhaus, manche
waren nur sehr kurz, hatte ich dann – als das 2017 alles in der Psychiatrie
geendet ist – das erste Mal wieder ein Heimatgefühl. Ich hatte da das erste Mal
das Gefühl irgendwo anzukommen, irgendwo dazu zu gehören, einen festen Platz zu
haben, einen Ansprechpartner zu haben, Menschen, die zumindest versuchen mich
zu verstehen und mir Raum geben. Ich meine ja, das ist etwas krank, schließlich war das eine Klinik und kein "zu Hause"...“ Und nach einer kurzen Pause füge ich hinzu: „Ich
würde niemals auf die Idee kommen, bei irgendeinem Problem meine Eltern um Rat
zu fragen. Ich würde nie zu denen gehen und sagen: „Mama ich brauche mal Deinen
Rat.“ Und manchmal ist das schwierig zu akzeptieren. Auch als der Freund damals
gestorben ist. Irgendwer hat mich mal gefragt, warum ich nicht als erstes meine
Eltern angerufen habe. Auf die Idee kam ich gar nicht…“
„Aber dann hast Du doch mich und kannst mich fragen“, sagt mein
Gegenüber.
Ich erkläre, dass ich das sehr schätze. „Ich weiß nicht, ob nur ich
das so sehe, aber eine Familie ist auch eine gewisse interne Verpflichtung, die
man irgendwo hat. Meine Mutter und ich haben kein gutes Verhältnis, aber in
letzter Instanz und bevor alles eskaliert, würden meine Schwester und ich
natürlich für unsere Eltern einspringen. Das ist bei Menschen wie uns beiden
natürlich anders. Und ich möchte damit nicht sagen, dass ich Ihnen zutraue mich
unmittelbar hängen zu lassen nach allem, was Sie für mich getan haben, aber Sie
könnten sagen: „Mondkind, ich habe da keinen Bock mehr drauf.“ Und dann müsste
ich das akzeptieren. Dann bliebe mir nichts anderes übrig. Und ich habe das zu
oft erlebt, dass Menschen, die mir viel bedeutet haben, plötzlich einfach weg
waren. Ich halte das nicht mehr aus.“
Und dann kann man fast meine Angst und dieses verloren gegangene Vertrauen im Raum spüren. Mir fehlt die Nähe zu Menschen unglaublich und gleichzeitig bedeutet Nähe immer Angst. Denn plötzlich gibt es viel zu verlieren. Sehr viel.
Und irgendetwas ändert sich zwischen uns. Er meint, ich hätte mich
geändert. Ich finde nicht, dass ich mich geändert habe. Er meint, ich fange an
konkrete Fragen zu stellen. Ich stecke nicht mehr auf der Metaebene fest. Er
sagt, er spürt das erste Mal, dass ich um mich kämpfe.
Und ich habe das Gefühl, dass er das erste Mal sieht, wie verzweifelt
ich versuche, stark zu sein. Und irgendwie sieht er das erste Mal die
Zerbrechlichkeit dazwischen.
Wir reden über Klinik. Noch einen stationären Aufenthalt. Diesmal möchte er es tatsächlich. Das ist schon
strange. Dass wir diese Diskussion das erste Mal anders herum führen. Dass ich
sage, ich kann es nicht mehr. Die Abstände werden immer kürzer, ich habe Angst,
dass das in eine „Klinikkarriere“ mündet und ich da irgendwann gar nicht mehr
raus komme. Ich habe Angst wieder im Job auszufallen, wieder den recht guten
Stand im Kollegium zu verlieren, den ich mir mühsam erarbeite, mich wieder an
einen Therapeuten zu binden, den ich wieder verliere. Ich habe Angst, wieder an
den falschen Orten ein „zu Hause“ zu finden, ich habe Angst vor den Wochen nach
der Entlassung, die jedes Mal irre anstrengend sind und in denen man sich
fragt, wie man den Alltag je geschafft hat.
Lässt er alles nicht gelten. Er möchte sich überlegen, wie wir aus
Überstunden und Urlaub eine ausreichend lange Zeit basteln und dem Chef ein
Konzept vorlegen können, wie sich das realisieren lässt. Er sagt, er macht sich Sorgen.
Und irgendwie ist es eine seltsame Mischung. Ein bisschen Sorge habe
ich schon, dass wir uns gerade auf eine Bergspitze dieser Beziehung bewegen,
die im letzten Jahr eine Achterbahnfahrt war. Und ein winziges Bisschen habe
ich die Hoffnung, dass wir langsam den Sturm, den der Freund ausgelöst hat,
überstanden haben. Dass er tatsächlich der einzige Mensch sein wird, der aus
dem Leben von davor bleibt. Dass wir ein anderes, neues Miteinander mit einer
Mondkind finden können, die jetzt ganz anders geprägt, aber im Kern doch ein Stück
weit dieselbe geblieben ist.
Ein winziges Bisschen hoffe ich, dass dieser Mensch mir – wie er das
einst mal sagte – ein bisschen von diesem völlig erschütterten Urvertrauen
zurück geben kann.
Und jetzt sitze ich hier und weine ganz viel, weil dieses Potpourri aus Emotionen gerade ein bisschen zu viel ist.
Mondkind
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