Ein Brief - Zwischen den Zeiten

Hey, mein lieber Freund,
na, wie ist die Lage so auf der anderen Seite des Regenbogens…? Wie erlebst Du diese Wiederholung der Katastrophe? Was denkst Du, hätten wir anders machen können, um ein anderes – und Besseres – Ergebnis zu bekommen?

Heute vor einem Jahr habe ich mit einer damaligen Freundin das letzte Mal am Fluss gesessen. Ich weiß es noch genau. Als wäre es gestern. Als müsse sich diese Erinnerung tief in meinem Hirn eingraben, als hätte ich geahnt, dass das ein Ende und damit eine Erinnerung ist, die bleiben muss.

Ich war so ahnungslos.
Dass genau das das Ende meiner Ausflüge in die Studienstadt war. Dass ich in wenigen Tagen den besten Freund, die treuste Seele in meinem Leben, so viele Zukunftspläne, Freundschaften und ein Stück Heimat verlieren würde. 

Ein Jahr nicht mehr dort gesessen. Und wer weiß, wann ich zurück kommen werde. Ob ich zurück kommen werde...

Ich saß gestern Nachmittag bei meiner neuen Therapeutin. Wir hätten Gesprächsstoff über diese Frau; ich sag’s Dir. Ich kann sie halt überhaupt nicht einordnen und ob ich sie je zum Helfersystem zählen werde, weiß ich nicht. Sie wollte dann irgendwann wissen, wann letztes Jahr Pfingsten war. Keine Ahnung ehrlich gesagt; auf jeden Fall nicht in der Woche, in der ich da war. Und dann meinte sie, dass sich an Pfingsten die meisten Menschen das Leben nehmen und ob Dein Suizid wohl in die Statistik gepasst hätte.
Und was soll mir das sagen?! Hätte ich jetzt anhand von Statistiken wissen sollen, was passiert??? Und dann hat sie über Suizide im Zusammenhang von Corona sinniert und dass es da ja noch keine Erkenntnisse gäbe. Was auch falsch ist. Es gibt Studien. Und dann habe ich ihr erstmal erklärt, dass die Suizidrate in den ersten Monaten der Krise tatsächlich gesunken ist, man aber davon ausgeht, dass man im Verlauf einen Anstieg beobachten wird, wenn die Auswirkungen der Pandemie in den Monaten nach dem Beginn deutlich werden. Und damit verhält es sich dann mit der Dynamik der Suizidraten wie in jeder globalen Krise oder im Krieg.
Nur sitze ich für solche Abhandlungen eigentlich nicht in der Therapie. (Obwohl es schon fast beängstigend ist, wie sehr ich mich mit dem Thema im letzten Jahr nochmal mehr, als davor schon beschäftigt habe).
Aber weißt Du, was an der ganzen Geschichte am Schwersten war? Genau ein Jahr davor saß ich im Rahmen meiner Stippvisite in der Studienstadt das letzte Mal unter den alten Umständen bei Herrn Kliniktherapeuten. Und das war sicher auch nicht unsere beste Stunde, aber dieser Mann konnte Zuhören, Auffangen, Dasein und den inneren Kindern ein Ohr und ein bisschen Aufmerksamkeit schenken. Ich habe ihm eine Karte mitgebracht vor einem Jahr. Es war einer der letzten Texte, den Du noch gegen gelesen hattest. 

Warten auf Herrn Therapeuten. Und die Bluse, die ich getragen habe, war übrigens lila - kariert. Die Insider wissen, warum...

Weißt Du, was immer so eine meiner größten Ängste war… ?
Dass es irgendwann mal so richtig kracht und Keiner mehr hier ist. Deswegen habe ich glaube ich immer versucht alle Menschen, die ich in meinem Leben hatte und die mir Stabilität vermittelt habe, festzuhalten. Aber letzten Endes hat nichts davon so richtig funktioniert.
Ich habe in den letzten Tagen nochmal versucht das Helfersystem für diese Woche zu aktivieren. Aber das ist einfach schwierig. Die Menschen behaupten immer, ich würde ja gar nicht wissen, was mir hilft. Aber ich weiß das ja schon. Es ist nur nicht umsetzbar. Ich brauche – insbesondere abends – einen Menschen, der hier neben mir sitzt. Der mir zwar nichts von dem was geschehen ist abnehmen kann, aber der mir helfen kann, es auszuhalten.
Es klappt nur – natürlich – nicht, wenn seit letztem Jahr fast alle Menschen verschwunden sind. Ich habe fast alle Menschen nochmal angeschrieben. Bis zu Herrn Kliniktherapeuten, obwohl die Idee mutmaßlich wenig klug war. Und das hartnäckige Schweigen der Menschen als Beweis dafür, dass meine Zeit vorbei ist aushalten zu müssen, macht es nicht einfacher.
„Auch wenn niemand bei Ihnen ist, aber Sie können sich sicher sein, dass Sie nicht alleine sind“, hat die Therapeutin gestern gesagt. Was… - der größte Schmarrn auf diesem Planeten ist. Ich bin mir sicher, es denkt niemand an das Schicksal einer Mondkind und wenn niemand hier ist, dann ist niemand hier. Dann machen es auch Hirngespinste nicht besser als verzweifelten Versuch irgendetwas zu retten, das man nicht retten kann.

Weißt Du, was ich mir gestern Abend mal überlegt habe. Es gibt wahrscheinlich diese Menschen, die treffen diesen einen Menschen, mit dem sie alt werden wollen. So kommen dann Angehörigentelefonate zu Stande mit „Wir sind schon über 50 Jahre verheiratet, Sie müssen meinem Mann helfen“, die mich tief bewegen. Bei manchen Menschen mag das nicht solange halten; die trennen sich dann. Aber selbst mit einer Trennung kann man – solange der andere Teil der Beziehung lebt und spricht – einen Abschluss schaffen.
Aber wenn sich ein Teil der tiefsten emotionalen Verbindung einfach raus nimmt – das ist kein Ende. Und manchmal glaube ich, jeder Mensch hat hinsichtlich solcher Menschen, wie Du es für mich warst, genau einen Versuch. Manche können diese Verbindung jahrzehntelang haben, andere nur ganz kurz. Aber ich glaube, dass es unmöglich ist, etwas in der Qualität nochmal in einem Menschenleben zu erreichen. Du warst für mich dieser eine Mensch.

Ich denk viel übers Sterben nach. Sicher kann man weiter leben. Siehst Du ja. Ich habe diesen Job ein weiteres Jahr geschafft, die ersten Dienste. Ich bin weiterhin jeden Morgen artig aufgestanden, habe die Beine aus dem Bett geschwungen und getan, was man von mir erwartet hat.
Aber das Glück, von dem es ja ohnehin nur wenig gab (was aber nicht Dir, sondern eben auch meiner psychischen Verfassung geschuldet war und ja, wir hätten mehr davon haben können) – das ist mit Dir unter gegangen. Und ich glaube, ich werde es nie mehr finden. Damit macht aber eben auch das Weiterleben wenig Sinn. Ich könnte es sicher noch ein paar Jahre. Jetzt, wo es keinen festen Endpunkt, aka der ersten Dienste, von denen ich nicht glaubte, sie überstehen zu können, mehr gibt.
Aber man muss es wollen. Und ich will eigentlich nicht. Was für ein Paradox. Wenn wir es beide überlebt hätten, wären wir jetzt endlich freier. Und jetzt gehen wir nacheinander unter.

Ich habe irgendwann mal gesagt, ich werde nie wieder die Mauern der Psychiatrie vermissen. Aber jetzt vermisse ich sie. Einfach nicht alleine mit diesem Kopf sein. Egal wo. Ob eingesperrt oder frei. Hauptsache ein offenes Ohr, und wenn es dafür bezahlt wird und nebenbei an die eigene Familie denkt.

Morgen vor einem Jahr hätten wir uns das letzte Mal sehen können. Wenn ich es geahnt hätte. Und ich werde es mir nie, niemals verzeihen, dass wir das nicht gemacht haben. Sicher gab es damals Gründe. Aber heute kann man begründen wie man will – Keiner davon ist gut genug. Du weißt nicht, was ich dafür geben würde, nochmal zwei Stunden mit Dir im Café zu sitzen, sodass wir zumindest die wichtigsten Fragen beantworten können. Oder – coronakonform  gemeinsam am Fluss sitzen. Oder von mir aus auch in irgendeiner modrigen Ecke stehen. Hauptsache Du wärst da. Kurz nochmal.

Die potentielle Bezugsperson hat Urlaub. Meinte, sie meldet sich vielleicht, wenn ich vorbei kommen kann. Wie oft hat er das schon gesagt und es ist einfach nichts passiert? Aber irgendwie habe ich noch die abstruse Hoffnung, dass er zumindest sehen kann, dass Jahrestage für mich eben nicht wie alle anderen Tage sind. Dass er sich meldet und ich mal kurz rüber fahren kann. Und ich ein bisschen bei den Beiden sitzen darf und unsere Geschichten noch drei Mal im Kreis erzählen darf.
Von seiner ganzen Haltung der Nummer gegenüber, von der geringen Verlässlichkeit, die seine Aussagen hinsichtlich eines Treffens zwischen uns sonst haben, ist das mehr als unwahrscheinlich, dass das passiert. Und er wird keinen plötzlichen Sinneswandel haben und die Schwere dieser Tage für mich nachvollziehen können.
Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich erst kurz vor dem Menschen selbst. So war das schon immer.

Du glaubst nicht, wie sehr ich Dich vermisse. Sonntag habe ich Dienst. Genau zu der Zeit, an der das letzte Mal Deine Stimme am Telefon an mein Ohr gedrungen ist. Kannst Du bitte ein bisschen aufpassen? Damit alle Patienten und ich das gut überstehen?
Und kannst Du bitte ein Auge auf mich haben? Dass mir über diesen Schmerz nicht doch irgendwann die Sicherungen durchbrennen? Sicher werde ich auch irgendwann wieder überzeugt sein jeden guten Moment für Dich miterleben zu müssen. Aber jetzt gerade… - weiß ich es nicht. Wäre es einfach nur schön, wenn dieser Wahnsinn hier aufhört. Es fühlt sich an, als würde ich Dich ein zweites Mal verlieren. Diesmal sehe ich es. Und kann nichts mehr machen. Und ein Jahr ohne Dich überstanden zu haben, reicht doch eigentlich. Ich habe bewiesen, dass ich es kann. Und gespürt, dass ich es nicht will.

Ganz viel Liebe
Mondkind


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