Patientenschicksale und ein kleiner Rückblick

Freitag.
Mein Energielevel ist irgendwo unter der Erde.
Das ging ja schon Sonntag mit diesem Dienst los, der drei Stunden – Nacht auf den Montag, die man auch im Lauf der Woche nicht mehr schafft, irgendwie nachzuholen.
Gerade haben wir noch einen Patienten im Schockraum, der zu uns gebracht wurde, nachdem Angehörige ihn auf dem Boden vor seinem Bett liegend gefunden hatten, neben ihm auf dem Tisch sein gerichtetes Abendessen vom Vortag stehend. Das CT zeigt: Eingebluteter, subtotaler Mediainfarkt.
Sein Sohn ist unterwegs. So enden Leben.

Ich habe unterdessen den nächsten Patienten aus dem Herzkatheterlabor dabei. Dort war er plötzlich auffällig geworden. Nachdem die Kollegen von einem Krampfanfall berichtet hatten, der Patient massiv verlangsamt, „durch die Tüte“ ist, keine eindeutige Halbseitensympomatik hat und zudem eine entsprechende Vorgeschichte hat, ist mein erster Verdacht ein epileptischer Anfall. Aber das EEG, in das wir alle Filter rein hauen müssen, um überhaupt etwas zu sehen zwischen all den Artefakten, weil er nicht ruhig ist, zeigt nichts. Weiter geht es ins CT. Ich muss ihm nochmal etwas spritzen, damit wir die Bilder überhaupt machen können und er mal 10 Sekunden still hält.
„M1 – Verschluss“, sagt der Radiologe nach dem ersten Blick auf die Bilder. „Dein Ernst jetzt…?“, frage ich entgeistert. „Ja…“, sagt er, während ich auch die Bilder durchscrolle. Es war doch nur ein Rechtsherzkatheter, da müsste er doch eine paradoxe Embolie haben; wie viel Pech kann ein Mensch haben? Ich wähle die Nummer meines Oberarztes und habe eine Kollegin an der Strippe. „Der ist im Schockraum mit dem anderen Patienten; er hat sein Telefon hier vergessen.“ „Na toll, geh ihn bitte suchen, der Patient hier hat einen M1 – Verschluss; wir brauchen eine Thrombektomie“, sage ich.
Zwei Minuten später stehen gleich zwei meiner Oberärzte in der Tür.

Um noch großartig Herzrasen zu haben, ist mein Körper einfach zu müde nach dieser Woche. Aber ich würde am liebsten nur schreiend weg laufen, mich in irgendeine Ecke setzen und nichts mehr sehen müssen von der Welt. 

 

Heimweg... - im Hintergrund noch die Glaskuppeln der Klinik...

Spätabends.
Ich habe es endlich nach Hause geschafft, dieses Wochenende auch ausnahmsweise frei, weil eine Kollegin unbedingt meinen Visitendienst machen wollte am Sonntag.
Ich habe eine Tasse Tee gekocht – heute muss mal wieder der Therapeutentee erhalten – habe mich auf meinen Stuhl am Tisch gesetzt, auf dem die Kerze des Freundes brennt und sehe nach draußen, wo es langsam dunkel wird.

Wir laufen in die Wiederholung der Katastrophe, ohne irgendetwas tun zu können.
In den letzten beiden Wochen habe ich nochmal ein bisschen die Reste des Helfersystems ausgelotet, ohne dass das einen nennenswerten Erfolg gehabt hätte.

Letztes Jahr um diese Zeit hätten wir jetzt die Dinge ändern müssen.
Es war genau an meinem Geburtstag, der in wenigen Tagen ist, dass ich mich das letzte Mal unter den Bedingungen die ich kannte, auf den Weg in die Studienstadt gemacht habe.
Da kommt jetzt Vieles hoch. Ich vermisse es so unglaublich sehr.

Ich vermisse die Bahnhofstelefonate. In der nächstgrößeren Stadt auf einem Bordstein in der Nähe das Bahnhofs zu sitzen und zu telefonieren, bis der Bus kommt. Wir hätten auch ein paar Stunden später persönlich reden könen, aber wir konnten nicht mehr warten. Und der Freund wollte nicht, dass ich verloren gehe, in diesen Nächten auf den Bahnhöfen.
Genau an meinem Geburtstag vor einem Jahr hatten wir das vorletzte Bahnhofstelefonat. Es war zwar Tag, aber das war egal. Das Bahnhofstelefonat war Ritual.

Am Tag danach habe ich das Klinikgelände besucht und war bei Herrn Kliniktherapeuten. Auch ein Mensch, den ich sehr, sehr vermisse. Den die „kleine Mondkind“ vor allen Dingen sehr vermisst. Mit der kleinen Mondkind hat er immer in der Du – Form geredet. „Wie geht es denn Dir?“ Dass tatsächlich mal die „kleine Mondkind“ sprechen durfte, dass man sich mit ihr auseinander gesetzt hat, während die große Mondkind irgendwo war, nur nicht in diesem Büro – diese Momente gehören sicherlich auch mit zu den Bewegendsten meines Lebens.
So etwas wird es mit der neuen Therapeutin nicht geben. Die kleine Mondkind trägt die Momente immer noch im Herzen, wünscht sich so sehr, dass sich das noch ein Mal wiederholen könnte und weiß dennoch, dass sie diesen Menschen, der ihr ermöglicht hat gesehen zu werden, wahrscheinlich nie wieder treffen wird.
Dieses Klinikgelände wird immer ein hochemotionaler Ort bleiben. Ein Ort, der am Ende so bedrohlich und voller Schrecken war; vielleicht war es das einzige Mal, dass die erwachsene Mondkind und die kleine Mondkind am Ende des Klinikaufenthaltes gemeinsam um die Freiheit gekämpft haben. Denn obwohl die kleine Mondkind den Schutz des Klinikgeländes gerne noch gehabt hätte, war die geschlossene Psychiatrie zu schrecklich. Und gleichzeitig wird es immer ein Ort bleiben, an dem es in mir ein bisschen weniger rebelliert hat. Die „kleine Mondkind“ wurde gehört, gesehen und die große Mondkind hat es zähneknirschend toleriert, solange der Job nicht gefährdet schien. 

 

Warten auf Herrn Kliniktherapeuten im letzten Mai. 12. Mai war das...
 

Auch in diesen Tagen habe ich das letzte Mal am Fluss in der Studienstadt gesessen. Eine damalige Freundin und ich. Wir haben den Containerschiffen zugeschaut, wie sie den Fluss hinab fuhren, die Sonne hat geschienen; es war recht warm, obwohl mir wahninnig kalt war, weil ich auch damals sehr müde war.
Ich mochte die Altstadt. Und fast war es seit dem Umzug in die Studienstadt doch noch ein Zipfelchen zu Hause geworden.

Das letzte Mal, dass in dieser Stadt am Fluss saß. 13. Mai

Und dann war ich noch einen Tag an der Uni. Im Labor, einen Kaffee mit dem MTA trinken, den ich sehr gern hatte und nebenbei darüber sinnieren, wie ich die Doktorarbeit noch retten können, die jetzt wohl nicht mehr rettbar ist. Und danach war ich bei meiner ehemaligen Therapeutin, die ich seitdem auch nicht mehr gesehen habe. Der Termin war glaube ich nicht besonders gut. Damals war das mit den Masken in der Therapie alles noch sehr neu und irgendwie hat mich das so gestört, dass ich nicht so richtig gut reden konnte. 

Mein altes Fahrrad, das letztes Jahr noch an der Uni stand, weil eine Freundin es da nie abgeholt hatte. Ob es da wohl noch steht... ?

 

Und dann kam jener Donnerstag, an dem der Freund und ich sich noch mal hätten sehen können. Er wurde an dem Nachmittag überraschend aus der Klinik entlassen, aber der Abend war anders verplant und jetzt noch in die Stadt zu fahren, in der er damals gewohnt hat, wenn ich auch am nächsten Tag würde früh aufstehen müssen, um den Bus zurück in den Ort in der Ferne zu nehmen... - es war mir einfach zu anstrengend. Und ich wusste ja, dass ich zwei Wochen später schon wieder Urlaub haben würde. Wir würden uns sehen. Und wir konnten die Tage an zwei Händen abzählen. Ich konnte nicht wissen, dass das sein drittletzter oder vorletzer Abend war, dass die Stunden die wir noch hatten gezählt waren, dass wir uns nie wieder sehen würden.
Ich wusste es einfach nicht. Und nein, ich werde mir das nicht verzeihen. Niemals. Und vielleicht… - vielleicht wäre es für ihn genug Hoffung gewesen mich zu sehen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen.

Am Freitag war unser letzes Bahnhofstelefonat. Und unser vorletztes Telefonat überhaupt. Wir waren circa 24 Stunden von der Katastrophe entfernt. Glaube ich zumindest. Wenn die nächste Nacht diejenige war, in der er gestorben ist; anders als der Obduktionsbericht das behauptet.

Dieses Foto ist vom letzen Bahnhofstelefonat. Ich sitze auf einem Bordstein unweit vom Bahnhof der nächstgrößeren Stadt. Ich weiß genau, wo es war... 15. Mai...

Es hat niemand nachgefragt, aber falls jemandem der Gedanke kommt, was eine Mondkind sich so zum Geburtstag wünschen würde… - lese man sich die letzten Absätze nochmal durch.
Ich verstehe nicht, wieso das Funktionieren fast immer funktioniert hat. Nur das Leben, die wirklich wichtigen Menschen, die Erfahrungen, die ich so gern nochmal wiederholen würde, rinnen mir immer wieder durch die Finger. Seit einem Jahr hat es diese Touren nicht mehr gegeben, von den oben beschriebenen Menschlein ist nicht Einer übrig geblieben. Ich habe überlebt, ich habe funktioniert. Das ist alles.
Und ich spüre die kleine Mondkind in mir. Ich habe nie ein Wesen gekannt, das gleichzeitig so zerbrechlich und so rebellisch sein kann. Das spürt, dass es nur gehört wird, wenn es so sehr gegen das Leben rebelliert, dass die erwachsene Mondkind es hören muss, weil die kleine Mondkind die Existenz der erwachsenen Mondkind mit auslöscht, wenn sie nicht mehr haltbar ist.
Ich spüre, dass die kleine Mondkind sich vor lauter Verzweiflung schon wieder die Hände an den Wänden blutig schlägt, an denen sie sich versucht abzureagieren. Es kann nicht sein. Dass es das gewesen ist. Dass wir das alles verloren haben. Dass es nicht absehbar ist, wann dieser Alptraum endet. Denn dafür müsste ich erstmal bereit sein, den Freund loszulassen. Einzusehen, dass es ein Leben ohne ihn geben kann. Das trotzdem wieder bunt werden kann. Und allein der Gedanke daran, zerreißt mir das Herz. Das würde ein bisschen die Bedeutung raus nehmen, die diese Beziehung hatte. Wir beide gegen die Welt. Wie viel Bestand kann das haben, wenn man einen Teil von „wir beide“ scheinbar einfach austauschen kann?

Ich glaube, ich werde in den nächsten Tagen diese Tage von Damals nochmal ein bisschen miterleben. Nicht aufhören zu hoffen, dass irgendeiner der Menschis von Damals mich vielleicht nicht vergessen hat. Und… - wie ich mich kenne – irgendwann begreifen, dass es doch so ist. Dass es Vergangenheit ist. Dass es nie wieder zurück kommt.

Ich weiß noch nicht, wie ich die nächste Woche schaffen soll. Und nebenbei auch noch arbeiten. Nächste Woche gibt es auch eine oberärztliche Vertretungssituation in der ZNA, das ist immer chaotisch... Ich weiß es einfach nicht.
Und falls irgendwem ein schlaues Konzept einfällt… - ich bitte um Ideen…

 

Mondkind

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