Von Wanderung und Therapiegespräch
Und dann stehen wir da.
Schauen über die Hügel.
Sehen die Wolken ziehen.
Meine Schwester und ich.
Das letzte Mal, als ich hier stand, habe ich Dich auch schon vermisst.
Da wusste ich noch nichts von der bitteren Realität.
Die alten Fotos sind beinahe ein Jahr alt. Acht Tage weniger als ein
Jahr.
Irgendwie habe ich damals gehofft, dass es gut wird. Denn was man sich
nicht vorstellen kann, das kann auch nicht passiert sein, war meine Devise.
Ich finde ein altes Foto mit einem Lächeln in die Kamera. „Ich muss
Dich mal mit hier hoch nehmen, wenn Du wieder hier bist“, habe ich mir damals
gedacht. Es fällt mir ein da oben, als der Blick über die Landschaft streift,
es sich anfühlt wie in einer anderen Welt und ich dem Himmel ein bisschen näher bin.
Die Dinge das zweite Mal ohne Dich zu tun, zerreißt mir seltsam das Herz. Es sollte nicht so sein.
Ich sitze an meinem Tisch. Mit einem Kaffee. Auf dem Tisch Deine Kerze und Dein Bild daneben.
Ich war schon lange nicht mehr aufgeregt vor Gesprächen mit Therapeuten, aber heute bin ich es. Wenn ich meine alte Therapeutin aus der Studienstadt frage, ob wir mal telefonieren können, kommt meist ein Terminvorschlag. Solange wie ich in der Notaufnahme bin, geht das nur, wenn ich Urlaub habe. Da kann ich zwischen halb 8 Uhr frühs und 17 Uhr nachmittags halt einfach keine Termine machen. Aber dadurch sind die Telefonate auf „gelegentlich, wenn ich Urlaub habe und sie gerade etwas Zeit über hat“, begrenzt, was eine Art stilles Übereinkommen zwischen uns ist, wofür ich sehr, sehr dankbar bin.
Altbekannte Stimme an meinem Ohr. Die mich seit sechs Jahren kennt. Und, die ich seit sechs Jahren kenne. Die mich vor meiner Zeit mit dem Freund kannte, in meiner Zeit mit dem Freund und in der Zeit danach.
Ich rede. Von der Zeit jetzt. Von den Jahrestagen, von den vielen „Warums?“,
„Was wäre gewesen, wenns…“ Von dem unaufhörlichen Kreiseln in meinem Kopf. Und
ich schließe mit: „Manchmal habe ich Angst. Ich habe in dem AGUS – Verein Menschen
kennen gelernt, die noch 10 Jahre danach aufgehört haben, ihr Leben zu leben.
Und ich habe jahrelang so sehr für eine Zukunft gekämpft. Und einfach wäre es
sicher auch ohne den Tod des Freundes nicht geworden. Aber das… - hat die Sache
echt gekillt irgendwo. Das hätte ich jetzt nicht mehr gebraucht. Und ich möchte
nicht, dass das bei mir so endet. Ich möchte ein Leben.“
Und dann redet sie. Erklärt, dass es für mich mutmaßlich unglaublich
schwierig ist ein realistisches Bild von dieser Beziehung zu entwickeln, die
noch in den Kinderschuhen steckte. Ja, es gab den Plan, dass der Freund hierher
zieht, er hat sich um einen Job bemüht, wir meinten das ernst. Aber wir konnten
es nie ausprobieren, konnten nie die Problemfelder, die das mit sich gebracht
hätte, wahrnehmen. Und eine andere Beziehung, an der ich vergleichen kann, habe
ich auch nicht. Ich bin in der Hinsicht komplett naiv. Es ist okay, dass ich
überzeugt bin, dass es gut geworden wäre. Das wäre ja auch wünschenswert
gewesen. Aber dieses verzerrte Bild macht das Akzeptieren des Verlustes noch
schwieriger, weil es immer die Idee aufrecht erhält, um etwas betrogen worden
zu sein. Und abgesehen davon behauptet sie, dass ich mich sehr schwer auf eine gewisse Nähe von Menschen einlasse, aber wenn es einmal so weit ist - dann würde ich zwischenemenschliche Beziehungen doch sehr intensiv führen.
Und dann redet sie über Akzeptanz. Radikale Akzeptanz. Und dass das am
Ende der einzige Weg sei. „Es bringt Ihnen nichts, wenn Sie das noch 1000 Mal
umdrehen. Ich verstehe das Bedürfnis und ich verstehe, dass das kurzzeitig
hilft, die Erinnerungen lebendig hält, aber damit kommen Sie nicht weiter. Das
Einzige, was Sie langfristig tun können, ist zu sagen: Nein, das war nicht der
Plan, aber ich kann nichts mehr anderes tun, als zu akzeptieren, dass es
passiert ist.“ „Ich merke, dass ich innerlich mit den Zähnen knirsche“, merke
ich an. Versteht sie. Sagt, dass das noch ein ganz langer Weg wird. Dass ich
noch hunderte Male sagen werde: „Ich kann es nicht akzeptieren“, aber dass man
daran arbeiten müsse. Aber Akzeptieren hieße auch, die Situation jetzt zu
akzeptieren. Sich keinen Druck zu machen. Es muss nach einem Jahr nicht okay
sein, ich muss noch keine neuen Freunde haben, ich darf mir die Zeit nehmen,
die es braucht. Ich bin niemandem etwas schuldig, was die Geschwindigkeit der
Verarbeitung angeht.
Ich rede über das Vergessen. Dass die Erinnerungen ja auch blasser
werden, wenn ich es nicht mehr täglich umdrehe. Und wenn ich schonmal dabei
bin, berichte ich, dass es mir sehr viel Angst macht generell so viel vergessen
zu haben. Ganze Monate aus dem letzten Jahr und viel von unserem „wir“ davor. Und
dann erklärt sie, dass es schon ein Trauma gewesen sein könnte. Dass es okay
ist und vielleicht irgendwann wieder kommt, wenn es mir besser geht. Und dass
die Idee den Erinnerungen in der Studienstadt auf die Sprünge zu helfen, gar
nicht so schlecht ist, wenn ich das wirklich möchte.
Und irgendwie weine ich am Ende. Jedem anderen würde ich in der
Verzweiflung über die Situation vorwerfen, dass ich nicht verstanden werde. Mit
vielen anderen Menschen wäre ein Gespräch über die Thematik ein Schuss in den
Ofen geworden. Es kann nicht sein, dass man so etwas einfach nur noch
akzeptieren kann. Das kann einfach nicht sein. Das kann nicht richtig sein.
Ich weiß, dass die Therapeutin Recht hat. Und dass sie das nicht so
sagt um mich zu ärgern, sondern, dass es einfach so ist. Auch wenn ich
wünschte, dass es nicht so ist. Vielleicht machen das sechs Jahre gemeinsames
Arbeiten aus. Und es ist nicht so, als
hätten mir das nicht schon so viele Menschen, verschieden formuliert, erklärt.
Aber heute begreife ich das glaube ich zum ersten Mal.
Und dann komme ich mir manchmal vor wie ein kleines Kind, das
verzweifelt auf eine Wand einschlägt in der Hoffnung, dass das irgendetwas
bringt. Aber es bringt nichts. Man verletzt sich nur selbst daran. Den Kampf
gegen die Zeit kann man nicht mehr gewinnen.
Und irgendwie wünsche ich mir in den Moment sehr, dass sie nicht 400
Kilometer weit weg in der Ambulanz sitzt, sondern dass ich dort in diesem Raum
bin und noch ein bisschen im Schutz des Foyers sitzen darf, bis ich wieder raus
in die Welt gehe.
Radikale Akezeptanz. Vielleicht ist das ne Art Therapieziel. Also eins
von Vielen. Irgendwie wächst uns das ja gerade etwas über den Kopf, der neuen
Therapeutin und mir, weil es so viele Baustellen gibt.
Es wäre
vielleicht der Ansatz einer Antwort auf die Frage: „Was soll ich jetzt damit?“
Akzeptieren. Fertig.
Und trotzdem. Irgendwie haben diese Tage jetzt doch wieder viel
Sehnsucht hoch geholt. Ich schaue mir das Bild an und könnte einfach nur
weinen. Es kann nicht sein, dass es vorbei ist. „Es tut so gut, dass es Dich
gibt. Worte können das nicht ausdrücken. Ich bin auf Deinen Wegen gerne für
Dich da.“ Aus einer alten Nachricht von 2017.“
Es kann nicht sein. Es kann einfach nicht so sein.
Vielleicht fange ich mal an mit Aktezptieren. Aber noch… - noch nicht.
Mondkind
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