Zehn Monate

Hey mein lieber Freund,
Zehn Monate. Zweistellig. Nicht mehr so weit von einem Jahr entfernt. Und das macht mir Angst, ehrlich gesagt.
Vor zehn Monaten kurz nach sechs Uhr in der Früh; ich saß auf dem Sofa, als sich die Welt für immer änderte. Das habe ich auch letztens nochmal in einem Vortrag gehört, den ich mir angeschaut habe. Wenn man glaubt, dass das Ende der Trauer  der Anfang des alten Lebens ist, hat man schon verloren.

Ich bin sehr eingespannt im Moment. Es gibt viel zu tun auf der Arbeit und wenn ich nach Hause komme, bin ich meistens so platt, dass ich einfach ins Bett falle.
Ich habe meinen ersten Nachtdienst geschafft an Deinem Geburtstag. Irgendwann um kurz vor 12 war ich noch mal draußen vor der Klinik und habe in den Sternenhimmel geschaut, den es in dieser Nacht gab. Und irgendwie war ich mir plötzlich ganz sicher, dass die Nacht nur so schlimm wird, wie ich sie aushalten kann.

Mai.
Das wird ein ganz schwieriger Monat. Es jährt sich die Woche, in der ich das letzte Mal in der Studienstadt war. Unsere letzten beiden Bahnhofstelefonate auf dem Hin- und Rückweg. Der Tag, an dem ich das letzte Mal so halb illegal bei Herrn Kliniktherapeuten im Büro herum saß, es mir so schlecht ging, dass ich kaum etwas Sinnvolles erzählen konnte und ich einfach noch keine Ahnung hatte, dass das der Anfang vom Ende ist.
Es jährt sich der letzte Besuch in der Uni, dass sich eine gute Freundin und ich am Fluss getroffen haben und es jährt sich der Tag, an dem ich die Dinge definitiv falsch eingeschätzt habe. Der Abend, an dem ich lieber hätte zu Dir fahren sollen, statt einer anderen Freundin ihre lange versprochenen DVDs zurück zu geben, die ich nie geschaut habe. Die hätte man auch mit der Post schicken können.
Sechs Tage nach diesem Tag bist Du gestorben; ziemlich sicher jedenfalls.

Und dieses Jahr… - werde Dienst haben an jenem Nachmittag, während wir ein Jahr zuvor unser letztes Telefonat geführt haben, ich auf der Bank im Park sitzend; Du… - weiß ich nicht, wo. Und wenn ich irgendwann spät an diesem Abend, vermutlich nach 24 Uhr auf dem Weg nach Hause bin, dann weiß ich nicht, ob Dein Herz an diesem Zeitpunkt vor einem Jahr schon aufgehört hatte zu schlagen.
Die potentielle Bezugsperson hat glaube ich übrigens gerade Urlaub in diesen Tagen. Ungünstig…

***

In den letzten Tagen sind gute Dinge passiert, von denen ich Dir gern noch erzählen möchte.

Die potentielle Bezugsperson kam am späten Samstagabend noch vorbei und hat Begrünung für meinen Wintergarten mitgebracht. Kannst Du Dich noch erinnern, irgendwann vor drei Wochen war ich am Wochenende mal bei ihm und da haben wir Pflanzen umgetopft. Von denen habe ich jetzt ein Paar bekommen. Also wachsen auf meinem Wintergarten jetzt ein paar Tomaten, eine Gurke und ein Basilikum.
Und damals, als wir sie umgetopft haben, waren die vielleicht so… - zwei, oder drei Zentimeter groß und man hatte fast Angst, dass das zarte Grün umknickt und irreparabel geschädigt wird, wenn man ein kleines bisschen zu unvorsichtig ist. Ich habe nie im Leben damit gerechnet, wie viel diese Pflanzen innerhalb weniger Tage wachsen können. Meine Aufgabe war es Blumentöpfe zu besorgen und joa… - die potentielle Bezugsperson hat sie nur sehr belustigt angeschaut und meinte, dass ich wohl größere Töpfe brauche. Mh… ja, stimmt wohl.
Aber es ist so, so wunderschön endlich mal ein bisschen Grün im WinterGARTEN zu haben; wirklich ich freue mich, wann immer ich da hinaus schaue. Und ich wünschte, Du könntest das auch sehen. 

😍

 

Gestern hatte ich übrigens Dienst. Eigentlich nur 12 Stunden. Mein großes Problem beginnt ja immer dann, wenn Schlaganfallpatienten im potentiellen Lysezeitfenster auftauchen. Oder Wake – up – Strokes. So, wie mein erster Patient einer war. Wir haben wirklich alles gemacht mit diesem Patienten bis zum Missmatch – MRT. Der Rest des Tages war dann einfach nur unendlich viel. Schlaganfälle außerhalb des Zeitfensters, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Epilepsie, periphere Fazialisparese und davon jeweils mehrere und am Ende des Abends noch ein Patient, der auf Station gestürzt war und bei dem sich im Röntgen eine Schenkelhalsfraktur darstellte. Da musste ich noch eine OP für den nächsten Morgen organisieren. Ich war bis 22 Uhr nur am Rennen und habe danach noch bis gegen halb 2 dokumentiert, weil ich das einfach nicht geschafft habe zwischendurch. Die Anzahl meiner Patienten war über den Tag verteilt schon an der Obergrenze des Machbaren.

Eigentlich wollte ich heute Früh noch zwei Briefe fertig schreiben, aber da trudelten schon wieder die ersten Kandidaten in der Notaufnahme ein. Und in der Übergabe, während ich berichtete, ging natürlich der Stroke – Alarm. Nach der Frühbesprechung – ich hatte sie schon früher verlassen müssen und war schon längst mit dem ersten Stroke Patienten im CT, kam nochmal mein Oberarzt. „Mondkind, komm mal mit“, hat er gesagt und mich vor die Tür der Radiologie gezogen. Ich habe augenblicklich Herzrasen bekommen und hatte Angst, in all dem Stress gestern etwas übersehen zu haben. „Was hast Du denn da gestern für einen Dienst hingelegt…?“, hat er gefragt. Mein Herzrasen war noch nicht weniger. „Ich habe Deinen Hintergrund gefragt, wie er Dich fand und er hat gesagt, dass Du das sehr gut gemacht hast. Und jetzt bin ich extra hierher gekommen, um Dir das zu sagen…“
Weißt Du, es gibt so Momente, da könntest Du die Welt umarmen. Und das ist Einer davon. Hätte mir vor einem Jahr Jemand erzählt, dass ich das eines Tages schaffen könnte – und ehrlich gesagt, es gab schon Dienste an denen ich persönlich mehr verzweifelt bin – ich hätte es nicht geglaubt. Aber heute haben alle so getan, als sei das gestern eine super krasse Leistung gewesen und wie gesagt – obwohl ich finde, dass ich schon schlimmere Dienste hatte – habe ich das doch sehr genossen.

Und weißt Du was… - ich weiß nicht, ob ich das nur gerne glauben möchte, oder ob das so ist – aber manchmal hoffe ich so sehr, dass Deine Seele noch hier ist und wir alle Momente teilen können, die ich gern mit Dir teilen würde.

Und jetzt… - nachdem mich meine Oberärzte nach der Drei – Stunden – Nacht heute pünktlich  heim geschickt haben, gehe ich auch gleich sehr, sehr müde ins Bett. Müde, aber doch glücklich.
Ganz viel Liebe.
Mondkind

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