Ich könnte...

Am Ende beschließen wir, keinen neuen Termin zu machen. Weil das Leben in der Notaufnahme zu unberechenbar für feste Termin ist und das nur geht, wenn ich mal frei habe. „Schreiben Sie. Sie schreiben doch so viel“, sagt er. „Ich schreibe nicht mehr – zumindest nicht mehr viel“, entgegne ich. „Wenn Sie nicht mehr schreiben, dann muss es aber wirklich schwierig geworden sein…“, sagt er. „Ist es auch“, sage ich und fast bricht mir in der letzten Minute noch die Stimme weg und ich fange an zu weinen. Aber nur fast. So typisch Mondkind. Je schwieriger es wird, desto mehr schweigt sie. Lächelt über den Schmerz hinweg. Weil es zu sehr weh tun würde, wenn die Menschen sie in Ihrer Zerbrechlichkeit noch weiter überfahren würden.
„Sie melden sich, wenn die Hütte brennt. Möglichst bevor sie brennt“, sagt er. „Mache ich“, entgegne ich. „Dann wäre genau jetzt der richtige Zeitpunkt“, füge ich in Gedanken hinzu. Wir ziehen die Tür hinter uns zu und jeder zieht seines Weges.

Ich könnte so viel sagen, aber ich finde keine Worte mehr. Wie damals. Als ich in der Notaufnahme neben dem Herrn Kliniktherapeut saß, so viel zu sagen hatte und am Ende nichts gesagt habe. Weil zu müde. Zu viel Chaos im Kopf. Zu viele Gedanken, die kein Ende finden.

Ich könnte so viel reden. Über den Job, der alle verbleibende Energie aus mir heraus gesaugt hat mit den vielen 24 – Stunden – Diensten und Nachtdiensten. Über die „krassen“ Fälle der Notaufnahme. Wo Leute sich nicht bei ihrem Nachbarn gemeldet haben, die die Polizei gerufen haben, die die Tür aufgebrochen haben und den Patienten auf den Boden liegend vorgefunden haben. Schlaganfall oder Suizidversuch? Hätte eine aufmerksame Freundin den Freund retten können?
Ich könnte darüber reden, wie unzufrieden ich mit dem Job bin, wie sehr ich im Moment mit dem Gedanken spiele zurück an die Uni zu gehen und mir immer wieder die Erzählung von Herrn Kliniktherapeuten in den Sinn kam, wo er uns erzählt hat, wie glücklich er in seiner ersten Psychologievorlesung war – und ich darüber sinniert habe, als welch großen Fehler und Niederlage gegen meine Eltern ich die erste Medizinvorlesung empfunden habe.
Ich könnte mich darüber auslassen, wie anstrengend das sein kann eine magersüchtige Schwester zu beherbergen, die auch keine Überlegungen anstellt, wie verletzend das ist, dass sie die Verteidigung ihrer Doktorarbeit demonstrativ im Wohnzimmer vorbereitet, was mich in meinem Wert in dieser Familie bald endgültig abhängen wird. Ich habe keine reale Chance das Ding fertig zu kriegen. Und ich weiß, dass ich deshalb als Mensch nicht weniger wert bin, aber wir wurden so erzogen. Und mein eigener Weg vom Leben ist bekanntlich in der Katastrophe geendet, also hätte man mal lieber auf die Eltern gehört, sich von zwischenmenschlichen Kontakten fern gehalten und brav die Uni gemacht.
Ich könnte über Ignoranz reden. Gegenüber dem Tod des Freundes. Je näher der Jahrestag rückt. Aber das kennen wir fast. Letztes Jahr hielt man das für eine gute Idee, mich am zweiten Monatstag aus der Klinik zu entlassen, was katastrophal schief gegangen ist. Heute hält man es für eine gute Idee am Morgen des Todestages eine Abreise zu planen. Entweder Freitag oder Sonntag, aber doch nicht in den Stunden, als ich vor einem Jahr von seinem Tod erfahren habe. Wer plant so eine Scheiße? Und manche Menschen… - melden sich seit zwei Wochen einfach nicht mehr und werden das erst tun, wenns durch ist.
Ich könnte über eine tiefe Traurigkeit und Verzweiflung reden. Über Verluste, die mehr als „nur“ der Freund sind. Über das Zipfelchen Leben, das ich hatte, den Glauben an eine Zukunft, dass auch eine Mondkind es schaffen kann, Beziehungen zu leben. Über die Verzweiflung, dass jeder vorsichtige Versuch einen Schritt zurück ins Leben zu setzen, am Ende doch scheitert. Weil einfach etwas fehlt und weil ich ohne das nicht will. Ich könnte reden über den Verlust von therapeutischen Sicherheiten, darüber, dass ich bis zum Ende gehofft hatte, dass man manche Dinge einfach nochmal wiederholen könnte, weil sie in all dem Leid so wunderbar tragend waren. Aber, weil auch die „stabilste therapeutische Beziehung“ (das war nicht meine Erfindung) das nicht überlebt hat, gibt es das nicht.
Ich könnte von Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit schreiben, vom Grau über und in den Tagen, davon, dass es sich aktuell anfühlt, als würde jeden Tag ein Backstein mehr in meinen imaginären Rucksack gelegt werden und das vermutlich noch mindestens so lange bleiben wird, bis letztes Jahr Ruhe eingekehrt ist. Also circa Mitte des Monats. Ich könnte darüber schreiben, dass ich die Klinik vermisse (obwohl man das vermutlich eigentlich nicht sagen darf), dass ich damals keine Parallelwelten mehr leben musste, dass meine Welt so groß wie die Station war und ich erst recht keine Patienten betreuen musste, während der Kopf Amok läuft.
Ich könnte darüber reden, dass ich seit Tagen versuche den Brief für den Jahrestag des Freundes fertig zu schreiben und immer wieder darüber absterbe.


Und weil ich weiß, dass jeder gute Argumente auf Lager hat um mir doch wieder durch die Blume zu vermitteln, dass ich mich doch bitte einfach nicht so anstellen soll, lasse ich es einfach. Fast wie in der Klinik letztes Jahr. Plötzlich spricht die Mondkind einfach nicht mehr. Nicht mehr als nötig. Und wenn, dann auch nur ganz leise.

„Warum bist Du überhaupt gekommen Mondkind? Was wolltest Du besprechen?“, fragt mein Gegenüber. „Nichts eigentlich. Ich wollte nur fragen, ob die Mail angekommen ist.“ „Ist sie“, entgegnet das Gegenüber. „Okay, dann bin ich schon wieder weg“, sage ich und ziehe die Tür leise hinter mir zu. "Vielleicht darf ich einfach kurz hier sitzen bleiben. Sie tun, was Sie zu tun haben und ich sitze einfach hier", wollte ich sagen. Aber das denke ich mir nur.

Mondkind

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