Vom Umtopfen aus der ZNA und der Einjahres - Realität
Die Mondkind wird umgetopft.
So heimlich und leise.
Eigentlich sollte ich nur einen Tag auf der Stroke Unit aushelfen. Und
weil am Dienstag Chefarztvisite war und ich ja nun mal viele Patienten der
Station vom Montag kannte, sollte ich noch bleiben. Aus zwei Tagen wurde dann
eine Woche. Und laut der gestern verschickten Stationsplanung wird aus einer
Woche zumindest mal ein Monat.
Wie ich das finden soll… ? Die Arbeit ist mein soziales Umfeld. Ich
kenne die SU, habe schon vier Monate zu Beginn meiner Assistenzarztzeit
gearbeitet und dazwischen immer mal wieder ein paar Tage ausgeholfen. Die SU
ist ein bisschen etwas wie meine „Home Base“, wenn man so etwas im Krankenhaus
haben kann. Aber ich war eben gerade gut in die ZNA eingebunden, trotz aller
Anstrengung und habe mein Leben mit diesem Umfeld organisiert.
Von daher fühle ich mich wirklich wie eine Pflanze, die vorerst mal
auf die andere Seite des Balkons gestellt wurde.
Zurück auf der SU zu sein bedeutet auch, dass das Hirn im Hintergrund
kramt. Und dann aus irgendwelchen Hirnwindungen in der hintersten Ecke
Erinnerungen fischt. Ich bin den Berg vom Krankenhaus nach der Arbeit so oft
hinab gelaufen. Und ausgerechnet gestern fällt mir ein, dass ich so oft –
sobald es außerhalb des Krankenhauses Empfang hatte – das Handy aus dem
Flugmodus geholt habe und der Freund und ich schon telefoniert haben, während ich noch auf dem
Heimweg war.
Eine kleine Sache. Damals eher zweckmäßig. Da konnte ich den Heimweg
gleich gut nutzen. Ein kleines Ritual von früher, das mir eine schlaflose Nacht
und viele Tränen beschert. Ich hatte nie viel im Leben. Aber er war der Mensch
der da war. Und der bleiben sollte.
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Eigentlich sollte ich die nicht pflanzen... - aber ich war neugierig... |
***
Therapiestunde von Mittwoch.
Heftig.
Immer wieder dieselben Kamellen aufzuwärmen, die dann jedes Mal noch
ein bisschen mehr weh tun. Wir reden über die Familie; eigentlich rede ich im
Rahmen von Therapie nicht mehr viel darüber, aber sie weiß noch wenig. Ich rede
über meine Sehnsucht nach einem zu Hause. Und jedes Mal höre ich, dass das
alles tragisch ist, wie ich aufgewachsen bin. Und immer wieder höre ich: „Man
sieht und fühlt Ihre Not. Und ich würde Ihnen so gern ein bisschen von dem
geben, das Ihnen so sehr fehlt. Aber es geht nicht.“
Das ist mein Leben seit Jahren. Ich bin so viel durchs Land gezogen.
Das waren alles emotionale Entscheidungen. Das war alles immer eine stille
Hoffnung. Die nie Realität geworden ist. Mit der potentiellen Bezugsperson noch
am Meisten. Ich war lang nicht mehr da. Und auch das war natürlich nicht real.
Aber wenn man die ganzen Umstände mal für zwei Stunden ausgeblendet hat, dann
hat auch eine Mondkind sich mal zwei Stunden aufgehoben gefühlt in einem
familienähnlichen Gefüge. Ich weiß wenn ich gehe nie, ob es das nochmal geben
wird. Ob ich nochmal hinradeln werde. Weil das ja auch so nicht sein sollte…
Aber so eine Therapiestunde macht auch klar: Es ist ein Kämpfen gegen
Windmühlen. Die Sehnsucht, der Wunsch nach einem Rückhalt wird immer bleiben.
Und meine Aufgabe wird sein, das auszuhalten. Auch, wenn ich temporär an diesem
Schmerz fast zerbreche.
***
Dunkles Büro. Ich auf dem blauen Stuhl. Er übereck.
Er redet. Weil ich keine Worte mehr habe. Nicht mehr viele zumindest.
Und ich lange bräuchte, um etwas Sinnvolles zu sagen.
Und irgendwann kommt dieses gefürchtete Kommentar. „Also Mondkind, es
ist jetzt schon ein Jahr. Über ein Jahr. Und im Normalfall… - wendet man sich
dann mal wieder dem Leben zu.“ Es ist der Moment, der mir das Herz bricht.
Ich möchte keine Vorträge mehr. Nicht mehr hören, wie es sein müsste.
Was ich alles tun müsste und offensichtlich nicht auf die Kette kriege.
Vielleicht könnte man nach einem Jahr zu Ruhe kommen. Mit diesem
Thema. Und diesem Verlust. Wenn man in diesem Jahr je irgendwo gut damit
aufgehoben gewesen wäre. Das Gefühl hatte ich nicht. Und was ich mir wünschen
würde wäre, einfach irgendwo damit aufgehoben zu sein. Jemanden zu haben, der
zuhört. Der mich mal in den Arm nimmt. Der bleibt. Auch, wenn es mal schwierig
ist.
Wir sehen uns jetzt auf jeden Fall mal zwei Wochen nicht. Schwer. Aber
so ist es mit vertikalen Beziehungen und Urlaub.
***
Heimweg. Heute. Ich laufe dem Seelsorger in die Arme. Lange nicht gesehen. Er
hat gute Laune.
„Wie geht es?“, fragt er. „Man kommt irgendwie klar“, entgegne ich und
ich frage mich, ob meine Augen im Licht glitzern. Ich glaube nicht. „Sie melden
sich, wenn Sie mal wieder etwas brauchen“, sagt er und geht weiter.
Ich weiß nicht, ob ich noch etwas brauche. Ob es noch Sinn hat. Ob ich noch kann. Wir
geben uns täglich so viel Mühe für die Patienten. Kommen so vielen
Sonderwünschen hinterher wie möglich. Und manchmal frage ich mich, wieso es für
die Patienten immer Lösungen gibt aber für die Menschen, die sie täglich
suchen, nicht. Es ist schwer vorwärts zu gehen. Einen Fuß vor den Anderen. Tag für Tag. Und schwer zu akzeptieren, dass der Verständnis für mich fast exponentiell sinkt, je schlechter es mir geht. Wenn ich nicht mehr bräuchte, als eine Hand, die ich mal kurz nehmen kann, die mich über den Krater hebt, mir hilft auf der anderen Seite wohlbehalten wieder anzukommen. Es bleibt nie für immer. Diese Schwere. Aber sie alleine tragen zu müssen ist wirklich temporär kaum noch aushaltbar.
Heute Abend ist noch Sommerfest in der Neuro. Eigentlich läuft es
schon lange. Mein Oberarzt erwartet mich dort, sagte er. Aber ich brauchte erstmal
Raum für mich. Vielleicht fahre ich noch. Vielleicht auch nicht. Die Kraft ist
verbraucht. Und warum soll ich sie in etwas investieren, wozu ich eigentlich
nicht verpflichtet bin?
Mondkind
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