Zeit in der Suizidtrauer
Gestern haben wir gehört, was nach diesem Jahr passiert. Man wird ganz explizit darauf hingewiesen, dass es ja jetzt schon ein Jahr sei. Über ein Jahr. Und es dann wohl eindeutig ich sei, die nicht wollen würde, wenn es mir immer noch so schlecht ginge.
Da viele Menschen von dem Thema scheinbar keine Ahnung haben – schließlich mussten sie sich nicht schon ein Jahr damit auseinander setzen – zitiere ich mal ein paar Absätze aus einer der AGUS – Broschüren. (ich verlinke sie komplett unten, wer sie lesen mag…)
„Es ist aber ein Grundgefühl geblieben, das sagt: nach einem Jahr „muss es aber wieder gut sein“! Die meisten Trauernden sagen jedoch, dass dieses erste Trauerjahr nach einem Tod nicht das letzte und oft nicht mal das intensivste ist.
[…]
Was ist Zeit?
Zeit ist einerseits eine objektive Größe, die auf der Uhr und im Kalender angezeigt wird. Doch gleichzeitig ist das
Zeiterleben ganz und gar subjektiv. Langweilige
und traurige Momente ziehen sich oft ins scheinbar Unendliche. Andere Zeitabschnitte, besonders die unbeschwerten
und glücklichen, vergehen wie im Flug. So ist das auch im Trauerprozess: ich
weiß zwar, es sind drei Jahre vergangen,
aber es fühlt sich an wie gestern. Ich kann auf dem Kalender nachvollziehen,
dass die Zeit vergangen ist, aber ich spüre es nicht. Die Zeit ist in meinem
Innern buchstäblich stehengeblieben.
Viele Suizidtrauernde empfinden die Zeitspanne von drei bis fünf Jahren noch als zu kurz und nennen bis zu zehn Jahre als den Zeitraum, den sie gebraucht haben, um einen inneren Frieden zu finden. Für frisch Betroffene ist das allerdings eine erschreckende Vorstellung. Menschen, die wenige Tage, Wochen oder Monate nach einem Tod bei mir sitzen, gehen davon aus, dass in allerspätestens einem Jahr das Leben wieder genauso sein wird wie zuvor.“
Und noch viel erschreckender als diese Zeitspanne ist einfach die Erwartungshaltung der Gesellschaft, dass man doch bitte nach einem Jahr wieder okay zu sein hat. Dass man offen mit dieser Erwartung konfrontiert wird und ein „so oft fühlt es sich an, als sei es gestern gewesen“, nicht akzeptiert wird.
Ich glaube Trauer ist nicht nur ein höchstindividueller Prozess; ich
befürchte wie man da raus kommt hängt auch davon ab, wer gestorben ist, wie nah
man diesem Menschen stand, wie er gestorben ist, wie die Umstände des Todes
waren und wie viel Unterstützung man danach hatte.
Ich habe die treuste Seele verloren die ich kannte, kurz bevor er zu
mir ziehen wollte. Wir haben wenige Stunden bevor er gestorben ist zuletzt
telefoniert, ich habe ihn nicht nochmal gesehen, ich hatte keine Möglichkeit
mich in irgendeiner Form von ihm zu verabschieden und ich war das ganze Jahr
über meistens komplett alleine mit dieser Geschichte – und ich finde ganz
alleine kann man es auch nicht schaffen. Und irgendwo haben wir nicht nur
unsere Vergangenheit verloren, sondern auch ganz viel Zukunft.
Und ich finde… - dafür habe ich es nicht so schlecht gemacht. Ich bin
so schnell es für mich ging wieder arbeiten gegangen, ich verdiene mein Geld,
habe mich so einigermaßen im Neuro – Team integriert und bin trotz dieses
Schicksalsschlages und der Tatsache, dass das Leben schon vorher holprig war,
ein eigenständiger Mensch geblieben. Und zwischendurch gab es sogar wenige
Momente von Licht, die sofort eingefangen und zwischen den Zeilen festgehalten
wurden.
Leider wird das aber alles – und auch wie viel Energie das gekostet
hat – nie gesehen. Am Ende wird mir immer unterstellt, ich würde in meinem Leid
baden, ich würde wollen, dass es mir schlecht geht, ich sei nicht aktiv genug,
diese Beziehung habe so nie existiert… - die Liste ist mit allem, was einem so
einfällt, fortzusetzen.
Ich weiß nicht, wo das Problem ist. Ich versuche es den Menschen ja
nachzusehen. Vielleicht haben sie Angst, dass sie das siebte Weltwunder für
mich vollbringen müssen. Dabei ist alles, was eine Mondkind braucht, eigentlich
nur ein offenes Ohr. Das sich dieselben Geschichten auch 200 Mal anhört. Jemand
der mich mal in den Arm nimmt. Der mal einen Samstag hier neben mir auf dem
Sofa sitzt. Das wäre alles wofür ich dankbar wäre, wenn man helfen wollen
würde. Und es wird heller werden. Ganz bestimmt. Aber das geht nicht, wenn man vorhat die Trauer komplett zu überspringen und den Schritt, dem Freund irgendeinen Platz in meinem Leben zu geben, wo er bleiben kann. Und wahrschienlich braucht das einfach Zeit.
Ich möchte einfach ich selbst sein dürften. Nicht dieses Tag und Nacht
funktionierende Wesen. Das diese Funktionierspirale so lange leben wird, bis
sie darunter zerbricht.
Im Moment fehlt mir der Freund einfach so unendlich doll. Vielleicht
ist es, weil Sommer ist. Weil Sommer immer Café – Nachmittage bedeutete. Oder
Pendeln zwischen den Welten, je nachdem wo ich war. Und das war alles
anstrengend in meiner engen Welt, in der ein Freund eigentlich nicht existieren
durfte und man das vor dem Außen erst recht zu verstecken hatte. Aber es war
wunderschön. Es war alles, was ich sicher hatte.
Ich erinnere mich manchmal an eine Übung des Seelsorgers, der mich mal
aufgefordert hat mir vorzustellen, dass der Freund mich nochmal in den Arm
nimmt. Gerade ist er so nah, dass das nicht schwer ist. So viel Schmerz und
Wärme gleichzeitig, dass es kaum zu ertragen ist.
Er überfällt mich mit seiner Präsenz oft im Moment. In den
unpassendsten Momenten tauchen Erinnerungen auf, die sich im ersten Moment eher
wie ein Messer im Herzen anfühlen. Ich weine so viel hier zu Hause und die
Dienste stressen mich alleine damit, dass ich unendlich viele Stunden auf der
Arbeit bin und dass es da einfach nicht geht.
Vielleicht gibt es auch einfach keinen Auslöser für dieses Drama hier.
Ehrlich gesagt glaube ich, dass man das sogar jetzt noch hinbekommen
würde - obwohl es seit Wochen bergab sind und die Energiespeicher fast leer sind. Wenn ich nicht fast immer alleine mit dem Thema wäre, mich nicht ständig
rechtfertigen müsste. Wenn ich ab und an mal bei irgendwem sicher sein könnte
und auch die Sicherheit hätte. Und das nicht jedes Mal allein so fraglich wäre,
ob irgendwer da ist und wenn ja – ob derjenige nicht nur über mich drüber
bügelt. Aber da sich hier nichts ändern
wird weiß ich nicht, wie lange meine Kraft noch reicht. Früher hätte ich
längst Herrn Kliniktherapeuten oder Frau Therapeutin angerufen, damit wir
irgendwie den Druck aus der Situation nehmen könnten. Aber es geht aktuell
nicht mehr.
Ich habe dem Freund mal irgendwann versprochen zu bleiben, damit er
nicht vergessen wird. Aber ich weiß nicht, wie lange ich das noch halten kann.
Ich habe auch keine Kraft mehr für noch eine Runde Psychiatrie. Ich kann
einfach nicht mehr. Zumindest nicht mehr so.
***
Ich war gestern Abend übrigens doch noch kurz auf dem Sommerfest. Es geht halt
bei solchen Veranstaltungen auch immer ein bisschen darum gesehen zu werden.
Aber ein bisschen schwierig war es schon. Allein nochmal den Funktioniermodus
hoch zu fahren. Und dann hatten Viele ihre Partner und Kinder dabei – da aktuell
viele Kollegen kleine Kinder haben, waren die auch das Hauptgesprächsthema des
Abends. Und ich weiß nicht, ob die Geschichte mit Partner und Kindern in meinem
Leben nochmal irgendwie aktuell wird. (Okay, ehe jetzt wieder Kritik kommt; bei
der Kinderplanung waren der Freund und ich jetzt nicht; erst musste er ja
hierher ziehen und das hätte auch noch klappen müssen, aber für mich war immer
klar: Wenn ich das psychisch hinbekomme einen Freund zu haben, dann ist er es
und wenn ich einen Freund habe, dann möchte ich auch Kinder haben).
Nächste Woche machen wir den Dienstplan für August und September und
ich habe in diesen beiden Monaten nicht einen Tag Urlaub. Da kommt also etwas
auf mich zu – obwohl ich es irgendwie im Gefühl habe, dass ich das nicht mehr
packen werde. Dann gibt es auch noch Fortbildung nächste Woche, zwei Dienste
innerhalb der nächsten sieben Tage; der erste davon morgen. Und
Vertretungssituation haben wir auch auf der Station, kaum dass ich wieder da
bin; das ist auch meistens Chaos. Und dann hat die potentielle Bezugsperson
jetzt lange Urlaub. Vielleicht ist es auch nicht schlecht, dass er nicht alles
mitbekommt. Und nur hinterher hört. Wenn ich vielleicht irgendwo bin, aber
nicht mehr im Job. Vielleicht hab ich`s zumindest überlebt.
Vielleicht ist das alles ein normales Arbeitspensum. Aber ich kann es
nicht mehr mit diesen Parallelwelten. Nur wie die Explosion diesmal aussieht
und wo das endet ist nicht so absehbar wie in Zeiten, als man noch die Ambulanz
und die Klinik im Rücken hatte. Es war ein bisschen komisch, die potentielle Bezugsperson gestern in den Urlaub zu verabschieden. Die Zeit ist so unberechenbar im Moment.
Mondkind
***
Bildquelle: Pixabay
AGUS - Broschüre
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