Von Erinnerungen, dem Verlust und der Sehnsucht

Es ist genau ein Jahr her, dass ich am Nachmittag, sechs Tage nach diesem Drama, endlich in der Psychiatrie angekommen war. Und auch, wenn es erstmal die geschlossene Station war und da schon… - sehr kranke Menschen herum liefen und ich ja „nur“ vollkommen traumatisiert war, so war ich doch froh für die nächsten Tage einen Schlafplatz zu haben, Menschen die sich um mich kümmern, einen festen Rahmen, nicht mehr alleine zu sein mit der Situation. Meinen Wohnungsschlüssel hatten die Nachbarn, die würden die Blumen gießen, den Briefkasten leeren und nach und nach auch den Kühlschrank leeren und das restliche Obst mit zu sich nehmen, sodass ich mich darum auch nicht mehr kümmern brauchte.           
Daran zurück zu denken ist schwierig. Weil es in all der Katastrophe etwas sehr Tragendes hatte, das ich immer noch gebrauchen könnte. All die Kommentare der Menschen um mich herum, die heute wieder so weh tun, weil es die einzigen Stellen sind von denen überhaupt Kommentare kommen, waren nicht so wichtig. Ich konnte mir ja aussuchen, ob ich sie annehmen wollte oder nicht. Ich hatte ja genug Schutz um mich herum um auf niemanden aus „meiner“ Welt angewiesen zu sein. Ich war räumlich so weit weg, dass mich niemand besuchen konnte. Die einzige Verbindung war das Telefon und wenn ich diese Verbindung nicht haben wollte, musste ich nicht dran gehen. 

Die letzten Tage waren, als hätte ich den Freund ein zweites Mal verloren. Aus der Perspektive eines Menschen, dessen Leben doch bitte wieder in geregelten Bahnen zu verlaufen hat. Keiner erinnert sich öffentlich. Die Dienste auf der Arbeit laufen gut; müssen sie auch, weil uns immer mehr Personal stiften geht und man sich kaum von einen 24 – Stunden – Dienst bis zum nächsten Dienst erholen kann.
Aber mein Kopf, der kann sich gut erinnern an die Katastrophe des letzten Jahres.      

Und doch habe ich Angst. Das Leben, das wir beide hatten, ist so weit weg. Ich war über den größten Zeitraum in dem wir uns kannten noch Studentin, habe über 400 Kilometer weit weg von hier gewohnt. Er hat mich hier besucht, aber er hat nie hier gewohnt. Die Welt in der wir gelebt haben, war eine andere. Und ich habe langsam das Gefühl, dass die verblasst. Es kommt mir vor, als sei das gar nicht wirklich ich, wenn ich diese Bilder im Kopf habe auf denen ich mich selbst sehe, wie wir zusammen in irgendeine Café gesessen haben, wie wir uns am Bahnhof in den Arm genommen haben, wie er mich von der Uni abgeholt hat, wie wir zusammen am Fluss saßen…       
Das war eine Mondkind, von der heute nichts mehr übrig ist. Das war ein Stück Unbeschwertheit, Leben trotz den engen Führstricken des Medizinstudiums. Das war der Glaube und das Vertrauen in das Gute in der Welt. Immer weiter vorwärts gehen, die Dinge finden sich. Es war nie einfach, wir hatten beide eine schwierige Vergangenheit, keine unterstützende Familie im Hintergrund, aber wir hatten es geschafft, dass jeder auf seinen eigenen Beinen stand und wir beide zusammen noch stärker waren.

Und so oft, wenn ich abends in meinem Bett liege und seine Stimme im Ohr habe (ob nun imaginativ oder ob ich wirklich alte Sprachnachrichten anhöre), dann wird mir bewusst, dass ich mich damit zwar nicht so konfrontieren möchte, aber dass ich schon glaube, dass ich so Jemanden nie wieder finden werde. Er war dieser eine Mensch, der plötzlich einfach so - völlig unterwartet-  in meinem Leben auftauchte und dann bis zum letzten Atemzug da war.

 

Eine der schönsten Aussichten in der Umgebung

***
Das Leben heute ist ein anderes. Jeden Morgen und jeden Abend brennt hier – wenn ich da bin – die Kerze. Ansonsten habe ich mich an ein Leben in der Notaufnahme gewöhnt. An die Unberechenbarkeit. Daran, dass jede Minute plötzlich alles anders sein kann. Wenn ich mich darauf konzentriere, dann spüre ich immer noch das latente Herzrasen über den Tag, das Zittern der Muskeln, das man wahrscheinlich nicht mal sieht. Ich merke es nur abends, wenn ich so erschöpft nach Hause komme, dass ich meistens nicht mal schreiben kann. Zwischen den 24 – Stunden – Diensten liegt selten mehr als eine Woche. Und es ist wie mit einem Maulwurf. Nach einem 24 – Stunden – Dienst buddelt man sich über mehrere Tage ein Loch nach oben ans Licht und kaum sieht man die ersten hellen Sonnenstrahlen kommt der nächste Dienst, schüttet ganz viel Erde drauf und dann wird man erneut zurück geworfen, ist ganz müde und darf wieder anfangen. 

***

Es ist abends. Wäre er fünf Minuten eher gekommen, dann hätte er gemerkt, dass ich nur deshalb im kleinen Arztzimmer bei der Dokumentation sitze, weil der Druck so groß war, dass ich erstmal kurz weinen musste. Und irgendwann sagt er etwas Interessantes. „Mondkind, das ist sehr eindrücklich bei Dir: Sobald Du das Gefühl hast, dass Du in einem zwischenmenschlichen Gefügte aufgehoben bist, dass Dich da etwas umgibt, bist Du ein vollkommen anderer Mensch… Ich glaube, eigentlich bräuchtest Du nur eine Familie und einen Freund. Dann ginge es Dir besser…“
Wie oft habe ich schon gesagt, dass man sich dann mutmaßlich jede Therapie sparen könnte. „Das Problem ist, dass ich das nicht mehr bekommen werde. Ich kann meine Familie nicht ändern. Und ich bin ja damals nicht ausgezogen, weil ich bereit und flügge war, sondern weil es so unerträglich war, dass die Flucht nach vorne die einzige sinnvolle Option war. Und nachdem der Freund gestorben ist, ist das Thema Lichtjahre entfernt.“
Und irgendwie erinnert es mich daran, dass der Freund und ich darüber auch schon unsere Diskussionen hatten. Das Freund – Problem war ja so beinahe gelöst, am Familien – Problem war ich damals noch dran und es gab ja Zeiten in denen ich geglaubt habe, dass das noch etwas werden kann. Heute glaube ich, dass ich vielleicht alle paar Monate mal ein bisschen, ein winziges Stückchen Familienleben innerhalb von eng gesteckten Grenzen erspüren darf – ich bin dankbar dafür, aber das muss dann eben auch reichen.
Als er draußen ist, weine ich schon wieder. Ich kann einfach nicht mehr. Ich weiß nicht, wie lange ich noch funktionieren kann. Und ich weiß nicht – wenn ich wirklich drüber nachdenke – ob sich das alles noch lohnt. Ich habe so lange gekämpft um das was ich brauchte. Denn was da so fehlt, das habe ich vor vielen Jahren schon mal festgestellt. Und bei dem Versuch die emotionalen Löcher zu kitten sind mir die Menschen wie Regentropfen durch die Finger geglitten. Und selbst Dinge, die immer real möglich erschienen – wie ein Leben mit dem Freund, weil es eine absolut horizontale Beziehung war und da keine vertikale Abhängigkeit bestand – sind es nicht mehr.
Es ist nichts geblieben. Absolut nichts. Und ich weiß nicht, ob ich  die Kraft habe, nochmal darum zu kämpfen.

„Mondkind, je länger er tot ist, desto schlimmer wird das mit Dir.“ „Naja… - es ist ja auch ein Kampf, den kann ich nur verlieren. Es ist so furchtbar zu spüren, wie mir die Erinnerungen durch die Finger gleiten. Es ist über ein Jahr jetzt. Das ist so eine unendlich lange Zeit.“

Es gibt Abende an denen die Sehnsucht so stark ist, dass ich meine, sie müsse mir das Herz brechen. „Versprich mir, dass das Herz an dem Schmerz nicht zerbrechen kann“, habe ich vor einem Jahr dem Freund geschrieben in einem der ersten Briefe.
Vielleicht kann es das doch. Und jeder Tag, jeder Abend in diesem Zustand ist einer mehr, als ich eigentlich tragen kann.

Mondkind

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