Suddenly... - eine Welle von Erkenntnissen

Ich sitze auf meinem Boden im Schlafzimmer vor meinem Bett. Die Decke habe ich so über die Bettkante drapiert, dass es im Rücken nicht weh tut.
Auf dem Boden neben mir liegt ein Zettel, auf dem ganz oben die Nummer steht, die ich soeben angerufen habe und darunter mache ich mir während des Gesprächs ein paar Notizen.

Ich habe die alte Therapeutin in der Leitung. Die, die ich aus der Ambulanz seit 2015 kenne. Die nie eine Rede auf ihre Verlässlichkeit gehalten hat und nie gesagt hat, dass sie weiterhin da sein wird, aber es trotzdem ist. Wenn die Hütte brennt ist sie die letzte Adresse, die man versuchen kann. Die Letze, weil sie natürlich dazu sagt, dass sie das nicht mehr abrechnen kann, dass es eigentlich nicht geht noch mit mir zu reden, dass es auch keine Dauerlösung ist und wir das nicht mehr lange machen können, aber dass es vorerst so bestehen bleibt, dass ich mich ausnahmsweise melden darf, wenn es ganz schwierig wird.

„Wie geht es Ihnen?“, fragt sie. „Naja… - wie soll es mir gehen einen Tag vor dem Tag der Tage…?“, gebe ich zurück und muss schon aufpassen, dass mir die Stimme nicht schon dort weg bricht. Wir reden über ein paar Dinge, die ich morgen tun kann, wie zum Beispiel im Park spazieren gehen oder so – damit ich einfach mal raus komme.

Es ist ein ganz komisches Gefühl, wieder ihre Stimme zu hören. Die mich so lange begleitet hat. Seit kurz nach dem ersten Staatsexamen. Sechs Jahre. Sie hat alle Umzüge, alle Zweifel, alles Kämpfen, alle Klinikaufenthalte mitbekommen.
Und während wir da so reden, wird mir plötzlich so viel klar.

„Ich weiß gar nicht mehr, wo und wer ich bin in den letzten Wochen. Man macht einfach. So voll automatisiert. Und irgendetwas passt einfach gar nicht in der letzten Zeit.
Ehrlich gesagt… - das war nicht die Idee, als ich [der Studienstadt] damals den Rücken gekehrt habe.
Letzten Endes was das alles ein guter Plan. Es war vermutlich der einzige Plan, der irgendwo eine kleine Chance hatte real möglich zu werden, den es noch gab. Ich hatte hier ein Krankenhaus, das – das sagte auch mal ein Kollege – einigermaßen schützend die Hand über alle Neulinge hält. Ich habe mir gedacht, wenn die Medizin und ich noch irgendwo Freunde werden können, dann vermutlich hier. Weil ich so ungeeignet bin für diese Medizin – Welt, dass ich nur schaffen werde schwimmen zu lernen, wenn man mir ganz viel Zeit gibt. Und was war das für ein Kampf mit den ersten Diensten – kein Krankenhaus hätte mich so lange damit in Ruhe gelassen. Letzten Endes habe ich die erste Nacht nach mehr als einem Jahr gemacht – die Uniklinik hätte mir dafür keine zwei Monate gegeben. Und das Ding ist: Ich kann es jetzt machen. Klar, es dreht sich 24/7 alles um den Job, ich habe immer noch Angst, die Wegpunkte sind keine Wochenenden, die ja nicht mehr existieren oder andere Dinge mehr, sondern der Tag, an dem der nächste Dienst wartet. Aber ich finde das alles sehr unattraktiv. Vielleicht ist es aktuell besonders schlimm, weil von mir non – stop Einsatz für Patienten erwartet wird und für mich und mein Wohlbefinden setzt sich halt niemand ein. Aber es ist definitiv nicht das, was ich machen möchte. Und klar – das habe ich immer gewusst; von der ersten Vorlesung an. Aber ich dachte mir immer, das wird schon; bisher konnte ich mich mit allem irgendwann und irgendwie anfreunden. Aber das kann ich nicht. Vielleicht darf man das als Ärztin nicht sagen, aber es ist nicht das, was ich machen möchte. Ich habe in den letzten Wochen schon immer wieder nachgedacht, ob ich nicht zurück an die Uni gehen möchte. Aber das ist natürlich auch alles eine finanzielle Frage, dann kann ich vermutlich nicht hier bleiben; also wieder umziehen und dafür braucht man vor allen Dingen eins: Mut. Und noch schwerer ist es, wenn man niemanden mehr hat, der den Weg mit einem gemeinsam geht. Meine Eltern muss ich gar nicht fragen, wie würden mich umbringen.
Und dann… - wenn es zwischenmenschlich noch etwas hätte werden können, dann hier. Es gab immer die Idee, dass die potentielle Bezugsperson vielleicht ein bisschen Familienersatz sein könnte – immerhin war das nicht nur meine Schnapsidee; das hat er selbst mal irgendwann so gesagt und wusste wahrscheinlich nicht, was er da für Hoffnungen weckt – aber wie lange warten wir darauf schon und es tut sich einfach nichts? Und gerade seit dem Tod des Freundes: Immer wenn es mir in Bezug darauf schlecht geht, zieht er sich zurück und meldet sich einfach nicht mehr oder erzählt etwas, das nicht hilfreich ist. Zusammengefasst – das hat jetzt auch nicht so geklappt, wie geplant.
Und dann war natürlich der Plan, hier unten nicht alleine zu bleiben. Der Freund sollte und wollte im Verlauf mitkommen – und dann ist er gestorben.

Im Endeffekt: Es hat nichts geklappt von dem, was geplant war. Der Job ist eine Katastrophe (sie pflichtet mir bei, dass Assistenzärztin in der Notaufnahme sicher kein Traumjob ist), die Familienidee funktioniert nicht und der Freund lebt nicht mehr.
Die Leute haben mich so oft für bescheuert gehalten oder mir gesagt, dass sie sich das nicht trauen würden, durch halb Deutschland zu ziehen und in der Studienstadt die Zelte abzubrechen. Aber ich habe das ja nicht kopflos gemacht. Da steckte ja etwas dahinter.“

Ausflug von Letztens in eine Stadt in der Nähe
 

Ich kämpfe mehrmals mit den Tränen. Erstmal ist es jetzt so. Was man draus macht… ? Frau Therapeutin meinte, entweder man versucht sich wirklich sehr auf die positiven Seiten zu konzentrieren, die der Job eben doch mit sich bringt oder schafft sich neben der Arbeit noch einen Ausgleich – wobei das natürlich zeitlich ein Problem wird – oder man überlegt wirklich, wie Stück für Stück Alternativen aussehen könnten. 20 % der Menschen, die das Examen machen landen nicht im Medizinbetrieb, erklärt Frau Therapeutin. Ich wäre nicht die absolute Ausnahme, das sei schon okay so.

Am Ende reden wir in Bezug auf morgen nochmal über den Freund. Sie ermahnt nochmal, dass Vorwürfe und Schuldgefühle mich nicht weiter bringen. Es bringt nichts, wenn ich mir das Recht auf gute Momente abspreche, weil ich glaube nicht gut genug auf ihn aufgepasst zu haben. Es ist okay, ich darf glücklich sein.

Nach dem Telefonat bin ich völlig platt. Solche Stunden vermisse ich sehr.
Und irgendwie… - habe ich Heimweh. Ich glaube rückblickend betrachtet war mein Problem in der Studienstadt, dass ich diese Stadt immer „nur“ als Durchgang betrachtet habe, weil ich ja dabei war für etwas zu kämpfen, das alles Probleme mit einem Schlag lösen sollte. Und klar die Wohnsituation war blöd, das Geld war immer knapp, die Klausuren, die ständig im Nacken hingen waren auch nicht schön. Ich will das mal nicht zu sehr idealisieren im Nachhinein.
Aber ich hatte den Freund, der zu mir gehalten hat, alle Pläne unterstützt hat, ich hatte eine Tätigkeit, bei der es nicht jeden Tag um Leben und Tod ging und ich hatte eine Ambulanz und eine tolle, fürsorgliche Therapeutin im Rücken und wenn gar nichts ging wusste ich auch immer, dass die Klinik auch nicht weit ist. Aber ich habe mir unglaublichen Stress gemacht, denn ich wollte ja, dass es schnell gut wird.

Und jetzt steht man hier und weiß nicht so richtig wohin mit sich und seinem Leben.
Ich glaube, diese Frau hat heute einen riesigen Knoten in meinem Kopf gelöst der mir in den letzten Wochen nicht so bewusst war, aber leider sind solche Termine halt extrem selten und jetzt muss ich sehen, was ich daraus machen kann.
Aber neben all der Traurigkeit und Verzweiflung spüre ich auch Dankbarkeit. Ich habe viel verloren, aber manchmal gibt es doch so Gold - Momente, in denen noch etwas geblieben ist.

Mondkind

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