Vom Fallen, Hoffen und Auffangen - und der Schwierigkeit dabei
Es fühlt sich irgendwie ein bisschen komisch an. Als würde man in Gefilden herum strolchen, in die man nicht gehört. Während ich in diesem fremden Haus die unter meinen Füßen etwas knarzenden Treppen hoch gehe und ihren Mann, den ich zuletzt im tiefsten Winter gesehen habe, unten herum laufen und etwas sagen höre kommt mir in den Sinn, dass ich vor rund einem Jahr um circa diese Zeit mit Herrn Kliniktherapeuten gesprochen haben muss und mir während des Redens bewusst geworden ist, was das jetzt heißt, was ich ihm da erzähle.
Ich habe heute Morgen schon viel geweint, die Tränen müssten für heute verbraucht sein, denke ich mir. Sie bringt eine Kerze mit hoch. Die ich anzünden darf. Ich spüre, wie das Feuerzeug in meiner Hand zittert, ich ein paar Anläufe brauche bis die Flamme nicht sofort wieder erlischt und ich die brennende Kerze ganz vorsichtig zurück in ihre Halterung stelle, als müsste ich das Licht schützen. Und ich spüre schon wieder die Tränen in den Augenwinkeln. Ein paar Sekunden später liegt eine Taschentuchpackung vor meiner Nase. „Na das geht ja gut los…“, sage ich und kaschiere das Flattern in mir mit einem müden Lächeln.
Ich schaffe es mich einigermaßen zu beruhigen und wir reden ein bisschen über den Tag vor einem Jahr. „Ich wusste ja im Prinzip was passiert war. Seit Ende Mai. Es gab keine andere Erklärung mehr. Und einerseits habe ich mir den Tag endlich Gewissheit zu haben herbei gesehnt und andererseits habe ich gehofft, er würde nie kommen. Ich dachte eigentlich ich wäre vorbereitet. Wie gesagt, ich wusste, was passiert sein musste. Aber es gab eine Resthoffnung. Dass er doch wieder auftaucht. Und die war wohl größer als gedacht. Es hat mir halt voll den Boden unter den Füßen weg gezogen. Und ich habe ihn bis heute nicht zurück.“
Wir reden ein bisschen über die Tage danach. „Es ist ja heute Abend
nicht vorbei. Das zieht ja auch alles einen Rattenschwanz nach sich. Ich habe
immer und in jeder Situation funktioniert. Aber das war auch für eine Mondkind
zu viel. Zumindest ein paar wenige Tage habe ich – damals komplett unfreiwillig
– die Kontrolle abgegeben. Ich habe nicht weiter funktioniert, nett gelächelt
und genickt; ich war zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben im freien
Fall, mir war alles egal und ich habe gehofft und irgendwann zum Glück gespürt,
dass mich jemand auffängt. Leider hat das nur bis zur Klinik gehalten. Danach
habe ich meine altbekannte Rolle gespielt, die ich auch in der Klinik nicht
ablegen konnte. Ich war diejenige, die zwar Hilfe gebraucht hat, aber keine Probleme
machen wollte, keine Arbeit machen wollte, die gelacht hat, wenn ihr nach
weinen zu Mute war und irgendwann so verzweifelt war, dass sie nicht mehr
geredet hat. Aber wenn sie gefragt wurde etwas von „es ist schon machbar, es
ist okay“ gemurmelt hat, obwohl sie etwas anderes sagen wollte. Dieses Spiel
hat jeder durchschaut, aber Niemand hat etwas gemacht.“
„Und dieses Fallen vermissen
Sie. Und fühlen sich darüber hinaus schuldig, dass es etwas gab, was für Sie in
der Situation auch wertvoll war.“
Und jetzt hat sie mich erwischt. Aber so richtig.
„Wenn ich mir für die nächsten Tage etwas wünschen dürfte, dann wäre
es einfach fallen zu dürfen und aufgefangen zu werden – wie damals. Wenn sich
die Katastrophe schon wiederholt, dann bitte auch das. Ich kann nicht mehr. Ich
kann diese Parallelwelten nicht mehr. Seit Wochen habe ich diesen Tag, diese
Zeit hier im Kopf und irgendwie dreht sich eine Hirnhälfte non – stop darum und
die andere versucht irgendwie den Tag über zu arbeiten. Ich glaube, es ist
nicht ein Funken Energie mehr übrig. Wenn man quasi zwei Leben parallel lebt,
braucht das halt auch doppelt so viel Energie.“
„Sie sind für Ihre Patienten da und waren jetzt eine Woche für Ihre
Schwester da – Sie versuchen es immer den anderen Recht zu machen, aber wo
bleiben Sie?“
„Ich weiß es nicht…“
„Ich könnte Sie heute noch in die Psychiatrie schicken. Es muss auch
nicht lange sein, da könnten Sie erstmal ein bisschen zur Ruhe kommen, bis der
Freund etwas weniger aktuell ist.“
„Aber dann müsste ich loslassen. Es entwickelt sich zum
Spießrutenlauf, wenn man das nicht kann. Ich habe doch jetzt schon wieder die
Kollegen im Kopf – wer soll denn die Dienste machen? Ich würde dort eingehen,
wenn jemand Mehrbelastung hat, weil ich es nicht mache, obwohl ich physisch
könnte. Abgesehen davon – wie ist man keine Vorzeigepatientin?“
„Wer ist der wichtigste Mensch in Ihrem Leben? Sie selbst oder die
anderen?“
„Naja… - ich weiß, dass Sie hören wollen: „Ich selbst“. Aber… - ich
finde das ein bisschen zu egoistisch.“
„Es nützt niemandem etwas, wenn Sie auf dem Zahnfleisch kriechen. Und
das tun Sie. Seit Wochen mittlerweile. Sie schauen mich jede Woche ein bisschen
hilfesuchender an und ich sehe Ihre Not, aber die Entscheidung für sich müssen
Sie selbst treffen.“
Ich bin noch hier. Hab heute Dienst gemacht. Funktioniert. Aber ich bin dankbar für diese Sicherheit in diesem Haus gestern, für die Ehrlichkeit und für den Gold – Moment in all dem Drama.
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Das ist meine Kerze... - wollte da keine Foto - Session starten |
***
Sonntagabend.
Es ist eine seltsame Wartestellung. So ein Gefühl von "das kann
doch jetzt noch nicht alles sein." Vielleicht habe ich doch gehofft, dass
sich wer erinnert? An mich, an uns? Dass vielleicht einfach mal die ein oder
andere Person das Telefon die Hand nimmt und fragt: "Du Mondkind wie geht
es Dir eigentlich?" Vielleicht erwartet das Unterbewusstsein irgendein
Wunder. Dass man die Probe jetzt bestanden hat und er den Jahrestag als Anlass
nimmt, zurück zu kommen. Ich weiß es nicht.
Interessanterweise kamen heute zwei Nachrichten in denen es hieß, dass
man ja wisse, dass der Tag gestern für mich schwer gewesen sei und dass man
hoffe, dass ich ihn gut bewältigt habe. Ich weiß es nicht… - wäre das jetzt so
schwer gewesen, gestern mal kurz nachzufragen?
Auf der einen Seite konnte der Tag nicht schnell genug vorbei gehen,
weil die Erinnerungen so schrecklich sind, auf der anderen Seite hätte auch
gern die Zeit stehen bleiben können, weil ich mich so nah an ihm dran gefühlt
habe und so sehr Angst vor diesem neuen Kapitel habe, in dem ich sagen kann,
dass ich alles ohne ihn schon mal erlebt habe.
Ich ruhe mich jetzt von meinem Dienst von heute aus und bereite mich
mental auf den 24 – Stunden – Dienst von morgen vor. Drückt mir einfach die
Daumen, dass ich es schaffe mit meinen Parallelwelten. Es fühlt sich ein bisschen an, wie Tag eins nach der Katastrophe.
Mondkind
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