Intensivdienst und Beziehungschaos

Dienstagmorgen.
„Frau Mondkind, müssen Sie jetzt ganz unbedingt schon rüber auf die Stroke Unit? Haben Sie da etwas zu tun bis zur Frühbesprechung?“
„Ich muss meine Patienten übergeben, aber das kann ich auch danach machen.“
„Dann holen Sie sich einen Kaffee und bleiben Sie hier noch ein bisschen sitzen.“

Die Zeiten, in denen man nach dem Dienst noch die Visite bis mindestens 12 Uhr mitlaufen musste, sind zum Glück auf der Stroke Unit scheinbar vorbei. Das letzte Mal als ich da noch gearbeitet habe war es so und während sich die Visite von Zimmer zu Zimmer geschoben hat, hat man sich nach 24 Stunden auf den Füßchen gefragt, ob die nicht einfach irgendwann nachgeben und man auf den Boden krachen wird… - oder so.

Zur Vorgeschichte.
Montag.
Ich trabe in der Früh zum Dienst, verbringe meinen Tag auf der Stroke Unit. Ich beeile mich, mein Plan ist nämlich zur Spätvisite schon auf der Intensivstation zu sein, wo ich Dienst haben werde, um die Patienten die dort liegen, kennen zu lernen. Kurz vor 15 Uhr rufe ich meinen Oberarzt – aka die Potentielle Bezugsperson an und frage ihn, ob ich gehen darf. „Wenn Du Deine Arbeit fertig hast, kannst Du rüber gehen“, sagt er. Als nächstes rufe ich einen Assistenten auf der Intensiv an und frage, ob die pünktlich mit ihrer Visite anfangen. „Wir fangen immer pünktlich an Mondkind“, entgegnet der Kollege. „Aber wir warten auf Sie“, ruft der Intensiv – Oberarzt von hinten, der das Telefonat wohl mitgehört hat.

Auf der Intensiv nehmen mich die Kollegen erstaunlich warm in Empfang. Dafür, dass ich immer das Gefühl hatte, dass es doch auffallen müsste, dass ich mich etwas im Hintergrund halte, sind die alle sehr lieb zu mir. Fragen mich, wie es mir geht und wie das Leben auf der Stroke Unit ist.
Wir brechen zur Visite auf. Der erste Patient ist gerade psychomotorisch unruhig und hält schon seinen ZVK in der Hand. „Wenn er ihn doch ziehen sollte Frau Mondkind ist das auch nicht schlimm“, sagt er Intensiv – Oberarzt gerade. „Das muss aber nicht in ihrem Dienst sein“, ertönt eine vertraute Stimme von hinten und neben mir steht der zweite Intensiv – Oberarzt. Der, den ich im PJ kennen gelernt habe, als er noch Assistent war, als wir uns ein Arztzimmer im Ostflur des zweiten Stocks geteilt haben und der verstorbene Freund eifersüchtig war, weil er geglaubt hat zwischen uns würde etwas laufen.

Die Visite dauert eine Weile und ich habe schon ein dezent schlechtes Gewissen, weil die Oberärzte ständig ermahnen, dass etwas zur Vorgeschichte des Patienten erzählt werden muss, damit ich das auch verstehe – aber es ist sehr hilfreich vor dem Dienst.

Bis 21 Uhr ist der Spätdienst noch da und wir haben noch ein bisschen – aber nicht übermäßig viel – zu tun. Dann geht der Spätdienst heim und da es wirklich recht ruhig ist, beschließe ich den ehemaligen Freund anzurufen. Wir haben da noch ein paar Dinge vom Wochenende zu klären und zwar dringend. Und dieses Telefonat hat es in sich.
Es geht gar nicht so schlimm los, aber es endet in einer ziemlichen Katastrophe. Wir reden nochmal darüber, wie das jetzt mit unserer Beziehung weiter gehen soll. Beziehung ohne Bindung, das sieht mein Gegenüber nach wie vor so. Aber was Beziehung ohne Bindung für eine Zukunft haben soll, ob das überhaupt möglich ist, wie wir damit leben sollen, dass wir nie wissen, ob wir uns nochmal wieder sehen, wie das funktionieren soll, wenn es mal doch einen Verhütungsunfall gibt und wer sich dann um das Kind kümmert – all das ist ungeklärt. Ich konfrontiere ihn damit, dass die Beziehung jetzt ungefähr hundert Prozent so läuft wie er das gern hätte und Null Prozent so, wie ich das gern hätte. Die Beziehung läuft aktuell nur auf sexueller Ebene, aber sonst eben absolut unverbindlich, ohne Verpflichtungen, ohne Bindung, ohne Verantwortung. „War das von Anfang an so Dein Plan?“, frage ich ihn irgendwann. „Nein“, sagt er entschieden, aber irgendwie zu schnell. Und beschließt dann, dass er sein Videospiel weiter spielen möchte und auch irgendwie ins Bett muss, obwohl es nicht mal halb 11 ist. Und das ist der Moment, in dem mir fast die Hutschnur reißt. Von wem musste ich mir nachts um 1 vor einem 24 – Stunden – Dienst anhören, dass wir über die Beziehung reden müssen und dass es ja nicht sein könne, dass ich damit um die Ecke komme, dass ich müde bin und am nächsten Tag Dienst habe, wenn es um so wichtige Dinge geht? Und jetzt sind Videospiele und Müdigkeit eine adäquate Entschuldigung, um sich nicht weiter mit meinen Fragen auseinander setzen zu müssen? Ich glaube, er spinnt.
Dieses Telefonat beschäftigt mich. Durch die Nacht. Bis zum nächsten Morgen. An dem ich die Gelegenheit beim Schopf packe. Und meinen Oberarzt anspreche. Der mir auch sofort ansieht, dass es dringend ist.





„Vielleicht soll ich das nicht mit einem Mann besprechen“, sage ich. Er sieht mich an. Und dann rede ich doch. „Es ist ja nichts passiert, das nicht einvernehmlich gewesen wäre“, sage ich. „Und trotzdem sind das nicht Sie. So gut kenne ich Sie“, kontert mein Oberarzt. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal eine Beziehung führe, in der es nur um Sexualität und nur um etwas wie kurzzeitige Bedürfnisbefriedigung geht und jetzt ist das so passiert und ich schäme mich da schon sehr.“ Mein Oberarzt seufzt. „Er kannte die Geschichte mit Ihrem verstorbenen Freund, oder?“, fragt er. „Ja“, entgegne ich. „Ich kenne ihren ehemaligen Freund nicht Frau Mondkind und ich will ihn auch nicht verurteilen. Aber in dem Wissen, was für Sie Beziehung ist und was Sie erlebt haben an Verletzungen in der letzten Beziehung – in dem Wissen eine Beziehung mit einer – entschuldigen Sie – eigentlich schutzbedürftigen Person anzufangen, ist schon sehr grenzwertig. Aber das hilft Ihnen jetzt auch nicht mehr.“ „Das war unser beider Entscheidung, das kann ich jetzt nicht so stehen lassen“, werfe ich ein, woraufhin er die Augen verdreht. Und nach einer Pause sagt „Es muss trotzdem einen Grund geben, dass Sie weiterhin zu ihm hinfahren. Was könnte das für einer sein? Ist da nicht vielleicht doch noch Hoffnung?“ „Naja, wie schon mal gesagt, ich denke, dass ich grundsätzlich mit dem Ende der Beziehung okay bin – auch wenn Sie sicher Recht haben und da noch Resthoffnung ist – aber ich glaube am Meisten hoffe ich einfach, dass er mir sagt und mich spüren lässt, dass ich ihm einfach nicht menschlich egal bin. Und dass ich für ihn doch mehr bin, als jemand mit dem er mal in die Kiste hüpfen kann. Ich glaube, ein Teil von mir will noch nicht sehen, dass ich das einfach nicht gecheckt habe, wo ich da rein geraten bin und hofft doch noch jedes Mal, dass er so etwas wie die „romantische Kurve“ kriegt oder so. Und da war er schon ganz gut kürzlich mit seinem „soll ich Dich besuchen kommen?“, oder der Idee, dass er für mich kocht.“ „Aber Sie werden ihn nicht ändern“, sagt mein Oberarzt.
Und fragt dann, wie es mit dem Laufen so läuft. „Ganz gut“, sage ich. „Das wird schon mehr Selbstverständlichkeit erstmal eine Runde zu laufen, wenn ich heim komme. Ich habe eine Route gefunden, für die brauche ich so 40 Minuten, ich merke schon, dass ich weniger aus der Puste bin, ist echt gut.“ „Machen Sie es weiter“, ermuntert mein Oberarzt. „Ich glaube, das hat auch noch ein paar andere Seiteneffekte. Ich glaube, es ist nicht schlecht, den eigenen Körper mehr zu spüren, wo ich mit ihm doch nach meiner Essstörung so auf Kriegsfuß stehe und zu spüren, was der auch alles kann.“ Und nach kurzer Pause. „Und mir ist auch letztens mal klar geworden, dass mein Körper wieder mir gehört und nicht mehr dazu dienen muss, eine Beziehung aufrecht zu erhalten; das ist auch schön.“ Mein Gegenüber nickt. „Sie sind so viel mehr als das Frau Mondkind. So viel. Und wer das nicht sieht, hat eine ganze Menge verpasst. Und Sie würden sich selbst Unrecht tun, diesen Teil zu vergraben. Sie sind eine superstarke Frau.“

Nachdem ich meinen Kaffee getrunken habe, traben wir zur Frühbesprechung und einigen uns nebenbei, dass wir im Lauf der Woche versuchen nochmal Zeit zu finden.
In der Frühbesprechung wird erzählt, dass jetzt ein Forschungsteam aus Assistenten zusammengestellt wird, weil unsere Studien so schleppend laufen. Es gibt dann Dinge wie Rufbereitschaft, dass man halt von Diensthabenden nachts oder am Wochenende angerufen werden kann, die fragen ob der Patient die Studieneinschlusskriterien erfüllt und dann darf man nach entsprechender Schulung auch die Studienmedikamente verabreichen – dafür muss man aber eben ins Krankenhaus. Für den ganzen Aufwand gibt es natürlich auch eine kleine Vergütung pro „Einsatz“, aber darum geht es gar nicht. Ich glaube ich möchte das machen, weil ich einfach wieder mehr Anschluss an den Job finden möchte und mehr dort eingebunden sein möchte. Und, weil ich meine Doktorarbeit ja nun offiziell vor die Wand fahren werde – vielleicht ergibt ich da nochmal eine schöne Möglichkeit. Und Forschung ist halt Zukunft. Ist der Versuch von Verbesserung der Medizin, Voranbringen der Neurologie, der Therapien, um den Menschen helfen zu können. Und das möchte ich machen. Und Zeit dafür habe ich jetzt schließlich auch.

Am Nachmittag bin ich noch bei der Frau des Oberarztes. Und auch, wenn wir immer noch warm werden müssen miteinander und ich innerlich schon etwas genervt davon bin, dass ich sie jetzt ewig „aufs Pferd“ werde heben müssen, merke ich heute eine ganz starke Motivation in mir. Ja, das ist alles gerade scheiße und schwierig und da habe ich mir echt ganz schön was angetan. Aber ich habe echt so viel gelitten in den letzten Jahren – es reicht jetzt. Ich bin ich und ich kann auch alleine stark sein und ich sitze am Lenkrad meines Lebens und habe gerade ein sehr neues, aber sehr starkes Helfernetzwerk hinter mir, ich bin zurück in einem Arbeitsumfeld, in dem ich zurechtkomme, ich habe ein liebes Team. Ich kann das schaffen und ich will das schaffen. Ich weiß, es ist ein weiter Weg und der wird mich noch unendlich viele Tränen kosten, aber ich möchte wieder glücklich werden.
Und wenn der verstorbene Freund und ich sich irgendwann wieder treffen, dann möchte ich sagen: „Ich habe mein Leben gelebt. Ich habe Dich nie vergessen, Du warst immer ein Teil von mir, Du hast mich so sehr geprägt, Du hast mir so viel von dem mitgegeben, das meine Familie mir nicht geben konnte – aber Du warst irgendwann nicht mehr da und ich konnte Dich leider weder davon abhalten noch festhalten. Aber ich habe nach den Werten weiter gelebt, die uns vereint haben, vielleicht waren wir beide irgendwo glücklich in der Zeit und jetzt lass uns mal erzählen, was uns in der Zeit bewegt hat, in der wir getrennt waren.“

So… - jetzt gibt es noch etwas zu essen und dann ein Bett… nachdem ich noch Laufen war und die Wäsche gemacht habe…

Mondkind


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