Laufen

 „Mondkind, wo möchtest Du hin?“
Mist, jetzt bin ich dem Chef in die Arme gelaufen. Vor zwei Stunden haben wir noch ein Lob für unsere Chefarztvisite mit halber Besetzung abgesahnt – jetzt gerade ist, weil der Dienst von gestern auf heute recht ruhig war, wir wenige Neuaufnahmen auf der Station haben und ich gestern einiges vorgearbeitet habe, ein bisschen Luft. Ich bin zwischen den Häusern unterwegs zu meinem Intensiv – Oberarzt.
„Ich muss noch ein paar Schlüssel zurück geben“, sage ich. Das ist tatsächlich wahr, das muss ich machen – allerdings nicht heute, sondern, wenn ich meinen letzten Intensiv – Dienst absolviert habe.
Auch die Kollegen auf der Intensiv die wissen, dass die Intensiv und ich nicht unbedingt die besten Freunde waren, schauen immer ein bisschen irritiert, wenn ich dort auftauche.
Allein deshalb sind solche Besuche eher selten abzuhalten – nicht, dass da doch noch das Gerede anfängt.

„Ich weiß einfach nicht mehr wohin mit mir und meinen Gedanken“, erkläre ich dem Oberarzt.
Wir reden. Darüber, dass der Freund und ich sich am Wochenende gesehen haben. Was per se sehr schön war, aber auch sehr viele Querverbindungen aufgerissen hat.
Es geht darum, dass ich das erste Mal seitdem wir uns getrennt haben, wieder einen ganz tiefen Frieden gefühlt habe. Dass es nur ihn und mich und das Fühlen dazwischen gab. Kein Gestern und kein Morgen, nur das Jetzt. Dass ich mich in dem Moment, in dem wir dort lagen an einen Kommentar von der Mutter des verstorbenen Freundes erinnern musste, die mir erklärt hat, dass der verstorbene Freund sein ganzes Leben auf der Flucht und auf der Suche war und seiner Mama mal verraten hat, dass er sich bei mir ein bisschen ruhiger und ein bisschen sicherer gefühlt hat. In dem Moment wird mir klar, dass das heute genau andersherum ist. Was ich damals für den verstorbenen Freund gewesen sein muss, ist der lebende Freund heute für mich. Und irgendwie tut das seltsam weh.
Es geht um Bindungen. Ob Bindungen wirklich Besitz sind. Und um Abhängigkeiten. Ob nicht jede Beziehung bis zu einem gewissen Grad eine Abhängigkeit darstellt. Es geht um den Sinn von Bindungen. Ob Bindungen wohl mehr sind, als ich theoretisches Konstrukt.
Und es geht um die Frage, ob das Sinn macht, wenn wir noch Zeit miteinander verbringen, obwohl wir eben kein Paar mehr sind. „Wahrscheinlich halten die meisten Menschen das für irgendeine Form von Selbstverletzung, aber auf der anderen Seite denke ich mir, dass ich die Welt bewegt hätte, um noch ein Mal ein paar Momente mit dem verstorbenen Freund erleben zu dürfen. Einfach, um sie in meinem Herzen zu speichern. Ein letztes Cafe – Date, eine letzte Umarmung, ein letzte gemeinsames Frühstück. All solche kleinen Dinge. „Ich würd ein Jahr meines Lebens für einen Tag mit Dir geben“, singt Florian Künstler und in dem Rahmen bewegt sich das. Und jetzt ist es möglich und jetzt möchte ich wissen, was das emotional mit mir macht. Ob dieser Wunsch Sinn macht und sich lohnt. Und dabei habe ich festgestellt, dass ich den ehemaligen Freund immer noch sehr liebe.“

Und es geht – vielleicht am drängendsten – um Angst.
„Was macht das jetzt – nach einem Monat?“, frage ich. „Jeden Abend könnte ich die Wände hochgehen. Und ich kann Ihnen nicht mal sagen, wovor ich Angst habe. Es gibt objektiv keine guten Gründe. Aber es ist so volle Lotte das komplette Programm. Mit Herzrasen, Schweißausbrüchen, ganz vielen Tränen, ganz viel Schlaflosigkeit natürlich auch und das ist sehr, sehr unangenehm. Ich bin echt lieber auf der Arbeit aktuell – ich könnte auch jeden zweiten Tag Dienst machen, wenn ich nicht so irre müde wäre, weil ich viel zu wenig schlafe.“

Der Herr Oberarzt dröselt das alles ein wenig auf.
Meint, dass die Angst wahrscheinlich immer noch daher kommt, dass ich insgesamt noch ziemlich instabil bin und weiß, dass alle weiteren Belastungen mich aus der Bahn schmeißen können. Und dann betont er nochmal, dass er jederzeit für mich da ist, wenn ich ihn brauche, dass seine Frau ja auch mit dabei ist, dass ich mich schon auf den Weg gemacht habe die Dinge zu verarbeiten und er das auch gut findet, aber ich eben noch nicht über den Berg bin.

„Ich glaube Sie merken langsam, dass Sie noch nicht so weit sind, wie Sie es gerne wären. Und ich glaube, dass Sie – auch wenn Sie das nicht so sehen, über Selbst- und Fremdwahrnehmung müssen Sie auch noch viel lernen – eine sehr alltagsfähige, kompetente Ärztin sind, aber dass Sie einen ganz schweren Start in Ihr Leben hatten – ohne dass ich da jetzt Ihren Eltern irgendeine Schuld geben möchte, die sind auch nur geprägt durch das, was sie erlebt haben. Und dann haben Sie sich da gerade befreit und dann kam Ihnen die Sache mit Ihrem Freund dazwischen. Und ich glaube Ihnen, dass das eine gute Beziehung war, vielleicht die Stabilste, die Sie je hatten. Und nach allem was Sie mir erzählt haben glaube ich auch, dass Sie da eine sehr tiefe emotionale Verbundenheit gespürt haben, wahrscheinlich war Ihr Freund so etwas wie Ihr Seelenverwandter. Bis zu einem gewissen Grad haben Sie sich vielleicht beide gegenseitig sogar ein bisschen heilen können. Und dennoch war diese Beziehung vielleicht auch immer ein bisschen überfordernd für Sie. Und so wie das geendet hat und noch dazu, wenn das Ihre erste Beziehung war – natürlich war und ist das ein Trauma. Und dann kommen Sie natürlich zu solchen Ideen, wie Sie mir erzählt haben. Dass Sie sich fragen, ob es etwas wie Bindung im Leben überhaupt gibt, ob das Sinn macht, dann wird es verständlich, dass Sie wissen wollen wie das ist jemanden, den man verloren glaubt, nochmal zu begegnen.“

„Naja, der Plan war aber nicht, die neue Beziehung zu nutzen, um die Wunden der alten Beziehung irgendwie zu überprüfen, zu hinterfragen, was auch immer“, werfe ich ein.
„Das ist mir schon klar. Nur Sie tun das trotzdem in begrenzten Ausmaß, auch wenn ich Ihnen glaube, dass Sie den ehemaligen Freund noch sehr lieben. Und genau deshalb konnte das nicht funktionieren, dass Sie beide versuchen den Tod Ihres Freundes innerhalb dieser Beziehung zu verarbeiten. Das geht nicht. Das hätte von Anfang an – seitdem klar ist, dass Sie eine Beziehung führen – in professionelle Hände gehört. Ich kenne Sie beide zu schlecht, um das zu beurteilen, aber ich denke, das hätte es Ihnen beiden einfacher gemacht.“
„Naja, ich merke schon, dass sich mein Bezug zum lebenden Freund verändert, seitdem ich mit Ihrer Frau über den verstorbenen Freund rede. Es braucht keinen zwingenden Platz mehr zwischen uns. Wenn er mal nachfragt, oder mal das Thema darauf kommt ist es okay, aber es ist kein Muss. Und da hatte ich vorher schon das Gefühl, dass das wichtig ist.“
„Sehen Sie…“

„Ich glaube auch nicht, dass Sie nicht wissen wer Sie sind und was Sie wollen“, setzt der Herr Oberarzt nochmal an. „Dazu ist das, was Sie mir so geschrieben haben, viel zu reflektiert. Sie sind nur zu scheu für sich selbst einzustehen. Ihnen fehlt das Selbstbewusstsein. Sie wissen, dass Sie eine Beziehung mit Bindung brauchen, Sie wissen, dass Sie ein zwischenmenschliches zu Hause suchen, Sie wissen, was Beziehung für Sie sein sollte und welche Werte in einer Beziehung Ihnen wichtig sind. Sie müssen nur den Mut haben, das zu formulieren, für sich einzustehen, an der Stelle Grenzen zu ziehen. Und daran müssen Sie arbeiten.“

„Was soll ich mit der Angst machen?“, frage ich irgendwann nochmal. „Ich glaube, das ist das drängendste Problem aktuell, auch wenn alles andere auch wichtig ist. Ich halte das nicht mehr lange aus.“
„Sie müssen irgendwie den Kopf frei kriegen“, erklärt der Herr Oberarzt. „Sie brauchen ein ganz festes Konzept, bis das besser wird.“ Er überlegt eine Weile. „Hatten wir uns nicht mal überlegt, dass Sie ein bisschen laufen gehen? Sie machen jetzt Folgendes: Sie gehen jeden Tag nach der Arbeit laufen. Und dann schreiben Sie mir jeden Tag eine kurze Mail wo sie lang gelaufen sind und wie es war. Und das muss man natürlich nicht grundsätzlich jeden Tag machen – ich mache das zwei bis drei Mal die Woche, aber für Sie gilt: Bis das besser wird, machen Sie das jeden Tag. Da kommen Sie nochmal raus, da können Sie nicht so viel denken, da werden Sie müde dabei und können hinterher vielleicht besser schlafen. Das machen wir, oder?“
Wenn er meint. Ausprobieren kann ich das ja mal.


Fertig zum Loslaufen...

Im Dunklen bockt das tatsächlich nicht so, werde ich am Abend feststellen.
Aber er hat schon Recht; im Gesamten könnte es helfen. Ich spüre schon, dass das heute Abend ein kleines bisschen friedlicher in mir ist, dass ich einfach sehr müde bin und dass frische Luft in den Lungen auch echt gut tut.
Und so insgesamt: Ich habe selten Menschen erlebt, die alles was ich sage, so ernst nehmen. Und sich auch so viel Mühe geben. Sich bemühen irgendeine Form von Halt, Sicherheit und Bindung zu generieren, wenn gerade sonst nichts hält. Das mit dem Laufen ist so eine simple und gute Idee. Ich denke schon, dass es mir helfen wird, es hält uns beide jeden Tag kurz in Kontakt und wenn etwas ist, kann ich gleich den Finger heben.

Und tatsächlich spüre ich trotz aller Schwierigkeiten in denen ich gerade stecke manchmal einen Funken Zuversicht. Und vor allem auch den festen Willen, die Dinge zum Guten zu wenden. „Ich möchte mein altes Leben zurück“, habe ich auf der geschlossenen Psychiatrie mantraartig wiederholt. Und das war auch nicht super, aber eben zumindest ohne den Tod des Freundes auf den Schultern. Und das alte Leben bekomme ich nicht mehr, das ist schon klar. Aber dann möchte ich eben für ein neues Leben kämpfen, das genauso gut ist. In dem ich Beziehungen leben kann, in dem ich nicht mehr so viel Angst vor mir, dem Lieben und dem Sterben habe, in dem irgendwann Ruhe in das Sein kommt.

Ach… - und mein Oberarzt hat mir heute auch noch gesagt, dass er findet, dass ich sehr schön schreiben kann. Ich persönlich kann das immer nicht so nachvollziehen. „Man spürt Ihre Emotionen wischen den Zeilen, das ist so bildlich erzählt und ganz toll zu lesen – wenn der Inhalt nur nicht so traurig wäre, aber das werden wir schaffen“, sagt er. Und es berührt mich irgendwie immer, wenn meine Texte die Menschen berühren.

Mondkind


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