Umkehr

„Mondkind, ich habe gute Nachrichten für Dich“, begrüßt mich die diensthabende Ärztin in der Früh.
Ich hatte mit ihr vor ein paar Wochen den Dienst getauscht, weil sie ihre Kinderbetreuung organisieren musste. Sie hat meinen Dienst von Gestern auf Heute gemacht, ich mache ihren von Morgen auf Übermorgen. „Du hast doch gesagt Du schaust immer, mit welchem Oberarzt Du Dienst hast und tauscht dann manchmal nicht.“ Ich nicke. „Die Hintergrund – Oberärzte haben auch getauscht. Montag gegen Mittwoch. Bis Mittag war meine Laune noch sehr gut. Und dann war sie sehr schlecht…“ Hinsichtlich der Hintergrundärzte schien der Deal nämlich sehr schlecht zu sein, aber ich habe mich doch breit schlagen lassen. Manchmal hilft das Schicksal halt nach ;)
Also habe ich morgen Dienst mit einer kompetenten Oberärztin. Die zwar nachts auch ungern gestört wird, aber wenn es so sein muss, dann bekomme ich zumindest einen gescheiten Rat.
Sehr gut.

Wir bereiten unsere Visite vor.
Die Tochter vom Chef macht aktuell Praktikum bei uns.
„Heute müssen wir alles besonders gut für den Chef vorbereiten“, sagt der Kollege.
„Mein Papa ist aber heute auf einer Veranstaltung“, sagt die Tochter vom Chef. Er kommt erst morgen Nachmittag zurück.
Also… - keine Chefarztvisite. Davor retten wird uns das nicht; meist gibt es die dann Freitag.

Wir sind heute recht gut besetzt – die Visite ist dann auch entspannt.
Ich habe alle Covid – Patienten der Station, was ein bisschen undankbar ist. Denn natürlich überschreiten diese Patienten die Liegedauer massiv. Solange wie die noch Corona – positiv sind, kann man sie ohnehin nirgendwo hin verlegen und danach sind die meistens so geschwächt, dass sie erstmal eine Akutgeriatrie brauchen und auch diese Plätze sind eher rar. Ich stehe also in engem Austausch mit unserer Internistin und mit dem Sozialdienst, aber der Oberarzt ist trotzdem nicht ganz zufrieden. Ändern kann ich es aber nicht. Allerdings klarer sehen als früher, dass ich mein mögliches tue, aber persönlich eben auch nicht dafür verantwortlich bin.

Gegen Mittag schneit ein alter Bekannter ins Arztzimmer. „Hallo Mondkind – ich war gerade in der Nähe für ein Konsil und da dachte ich, ich schaue mal vorbei bei Dir…“ Der ehemalige Epilepsie – Oberarzt. Der, mit dem ich 2020 mal die Epilepsiestation neu aufziehen wollte. Er hatte mich damals gefragt, ob ich bereit dafür wäre mit ihm dieses Projekt zu starten und mich damit natürlich auch zu einer intensiven Weiterbildung verpflichten würde. Wir waren damals zusammen auf einer Epilepsie – Fortbildung, er hat mir sein Epilepsie – Buch ausgeliehen, das ich vorher durcharbeiten musste und das ganze Projekt steckte noch in den Kinderschuhen, als er die Stelle für die Intensivweiterbildung in einer anderen Stadt bekommen hat und ich erstmal in der Psychiatrie war, weil der Freund gestorben ist. Wir hatten noch eine Weile Kontakt – wir kennen uns schließlich schon, seitdem ich im PJ war und er noch Assistenzarzt war – aber irgendwann hatte es sich dann auch etwas verlaufen.
Eine halbe Stunde reden wir über die Arbeit, was er erlebt hat in der Zeit, wie das Leben an der Uni ist und wie es mir hier ergangen ist, in den zweieinhalb Jahren. „Ich bin ja noch nicht lange hier Mondkind – aber was ich von Dir bis jetzt gesehen habe: Du hast Dich sehr gut entwickelt. Du hast jetzt alle Pflichtzeiten außer der Psychiatrie absolviert, Du machst die Dienste, die – was ich mitbekommen habe – eine enorme Steigerung des Arbeitsaufkommens erfahren haben. Die schätzen Dich hier alle sehr; ich hoffe, das weißt Du.“ Ich bedanke mich für seine Worte. Das Gefühl hatte ich auf der Intensivstation jetzt nicht so, aber dass Selbst- und Fremdwahrnehmung dezent auseinander klaffen, ist jetzt auch nicht gerade neu für mich.
„Wie geht es Dir sonst so? Privat?“, bohrt der Kollege, der mittlerweile Oberarzt auf der Intensivstation ist nach. „Es geht so“, entgegne ich. „Es hat lange gedauert, bis ich einigermaßen wieder auf die Füße gekommen bin, ich hatte zwischendurch nochmal einen Freund, aber das hat auch nicht so funktioniert und wir haben uns kürzlich getrennt.“ „Na dann – hast Du wieder mehr Zeit für die Arbeit…“, schlussfolgert der Kollege. „Ja“, bestätige ich und frage mich insgeheim, ob das jetzt gut oder schlecht ist. Auseinander nehmen was da war, möchte ich jetzt nicht.

Dass die Stroke Unit und alle die etwas damit zu tun haben froh sind, dass ich zurück bin, bekomme ich allerdings schon mit.
Häufig ruft die Pflege mit den Worten an: „Frau Mondkind, da ist gerade jemand neu auf die Station gekommen, der müsste noch aufgenommen werden. Ich weiß nicht, wer heute alles da ist, aber ich habe an Sie gedacht und Sie angerufen.“ Wie nett formuliert, dafür dass der Hintergedanke war, dass ich es eh mache, wenn die mich anrufen.
Oder die MTA aus dem EEG, die mich auch häufig anruft und sagt: „Frau Mondkind, das sieht komisch aus hier und da habe ich gedacht, ich rufe Sie mal an. Sie haben das zwar nicht angemeldet und ich weiß nicht, ob Sie den Patienten kennen, aber ich rufe Sie trotzdem an.“
Und irgendwie ist es für mich okay. Ich habe die Zeit. Jetzt wieder.


Auch ein Bild aus dem letzten Sommer ;)



„Rufen Sie mich gern mal an“, schreibt der Intensiv – Oberarzt heute.
Ich habe erst kurz vor 16 Uhr – kurz bevor er nach Hause geht eine Ecke Zeit – aber ich glaube, ich erwische ihn trotzdem noch in der Visite. Er hat mal ein bisschen recherchiert nach der letzten Konversation und in der ich über die Gemeinschaft erzählt habe, der der Freund sich zugehörig fühlt. „Das hört sich alles sehr befremdlich an. Ich bin schon fast froh, dass Sie da demnächst raus sind“, sagt er.
„Naja“, entgegne ich. „Ich finde das sehr schwierig. Als ich mich das erste Mal damit beschäftigt habe, hat es mir sehr, sehr große Angst gemacht. Und das war eben –wie schon erwähnt – keine transparente Kommunikation zwischen dem ehemaligen Freund und mir. Er hat das so in den Raum geschmissen und ich habe dann Freund Google bemüht, was das denn für eine Gemeinschaft ist und er wusste, dass ich das tun würde, wenn er da so den Fokus drauf lenkt und auch noch anmerkt, dass das eine sehr kontrovers diskutierte Gemeinschaft ist. Und da habe ich wirklich gedacht, mich tritt ein Pferd. In dieser Nacht habe ich wirklich viel geweint, weil ich plötzlich so vieles gesehen habe. Nicht nur die Bücher in seinem Schrank, auch die Bilder an seinen Wänden sind mit dieser Gemeinschaft zu erklären und die haben sicher Werte in ihrer Gemeinschaft, die gut und richtig sind, aber auch zentrale Vorstellungen über Therapie und Sexualität, von denen der ehemalige Freund nach allem was wir zuvor besprochen hatten – und er kannte mich natürlich besser als ich ihn – sicher wusste, dass das meinen Vorstellungen und Ideen sicher ziemlich kontrovers widerspricht. Ich habe mich da echt ziemlich verarscht gefühlt und ihm das dann auch deutlich so gesagt, als ich ihn wenige Tage später, als ich ihn das nächste Mal besucht habe darauf angesprochen  und ihn nochmal gefragt habe, ob das wirklich seinen Lebenseinstellungen entspricht oder er das lediglich interessant findet – wobei es eben Ersteres war. Damals meinte er nur, dass ich das hätte wissen müssen. Und ich glaube, das war auch das erste Mal, dass ich mich gefragt habe, ob ich wirklich der Liebe wegen Teil seines Lebens bin, oder vielleicht deshalb, weil das in dieser Gemeinschaft vielleicht zum Guten Ton gehört Beziehungen in solchen Konstellationen zu führen. So wirklich darüber geredet haben wir nie, weil er mich da auch nie verstehen konnte. Ich glaube, das ging ihm einfach nichts in Hirn, wie das auf mich gewirkt hat. Und trotzdem habe ich versucht das irgendwie in diese Beziehung zu integrieren, weil ich ihn wirklich sehr geliebt habe. Hätte ich das vorher gewusst, wäre diese Beziehung wahrscheinlich nie zu Stande gekommen, aber ich wusste es nicht und ich wollte mich nicht trennen, weil er Vorstellungen hatte, die mir erstmal fremd vorkamen. Und das war es. Ein Fremdsein. Es war keine grundlegende Ablehnung in mir; ich denke ich habe schon verstanden was die Idee hinter der Lebenseinstellung dieser Menschen ist, aber es war eben fremd. Und ich habe mir gedacht, ich lehne es nicht ab, weil es fremd ist, sondern lasse es auf mich wirken. Abgesehen von der Polygamie ist das aber auch eine Sache, die wir nie wirklich ausdiskutiert haben.“ Ich merke, wie meine Stimme schon wieder zittert. „Sollen wir darüber nochmal reden? Wollen Sie morgen nochmal rüber kommen?“, fragt mein Oberarzt. „Ich denke schon, dass das für vulnerable Patientengruppen – zu der sie nun mal auch gehören und die tendentiell sehr unterversorgt ist in Deutschland – schwierig ist“, fügt er hinzu. „Naja morgen habe ich Dienst, das weiß ich jetzt nicht, ob ich das schaffe“, entgegne ich. Wir schauen. Entweder morgen. Oder Freitag.

Es ist so kontrovers.
So fragil.
Ich kann so wenig verstehen.
Obwohl ich so viel sehe.

Es ist interessant, dass hier so viele Kapitel zusammen fallen, so viele Anfänge und Enden auf ungefähr denselben Zeitraum fallen.
Das erste Mal, dass ich wirklich wusste, dass das keine blöde Spinnerei war, sondern dass sich da seit unserer ersten Begegnung mein Herz bewegt, dass ich da ganz viel Zuneigung und Anziehung spüre, das war am Silvesterabend 2021. 352 Tage später, haben der ehemalige Freund und ich beschlossen, wieder getrennte Wege zu gehen. In der Zeit hat die Erde ziemlich genau ein Mal die Sonne umrundet. Ein Jahr. Ein Kapitel. Ein ganz natürliches. Es war auch fast genau der Zeitraum, in dem ich auf der Intensivstation gearbeitet habe, die nicht nur fachlich, sondern auch räumlich am Weitesten isoliert von allen anderen Stationen ist.
Das macht es heute vielleicht an manchen Stellen einfacher. Eine Beziehung vor Ort habe ich in meiner Zeit auf der Akutneurologie nie erlebt. Zurück in die Akutneurologie zu gehen, heißt zurück in etwas Bekanntes zu gehen, das ich nie anders gekannt habe. Mag sein, dass ich mal hier und da ausgeliehen gewesen bin das letzte Jahr über, aber fest zum Team habe ich eben nicht gehört. Das lässt irgendwie alles, was im Jahr 2022 passiert ist, noch etwas unwirklicher erscheinen, als es das ohnehin schon tut. Aber es fühlt sich  auch ein bisschen an, wie nach einen langen Ausflug zur Basis zurück zu kehren. Und das heißt nicht, dass ich nicht wünschte, es wäre anders.

Mir ist aufgefallen – eigentlich habe ich im letzten Jahr eine komplette Umkehr erlebt.
Dass die Intensivstation und ich nicht die allerbesten Freunde waren, ist bekannt. Ich hatte oft das Gefühl – auch wenn man mir versucht hat zu vermitteln, dass es nicht so ist – der inkompetenteste Mensch dort zu sein. Sich dort wertvoll zu fühlen, war schwierig. Es ist auch nicht meine Art, mich zu verstecken, einfach zu hoffen, dass manche Kelche an mir vorüber gehen mögen. Halt im Beruf zu finden war nicht mehr so richtig möglich. Aber es gab einen Halt im Privatleben. Und der war sehr wertvoll. Der Unterschied war derjenige, dass Halt und Zugehörigkeit das erste Mal nicht an Leistung geknüpft war. Und das hat die Arbeit wesentlich entspannter gemacht. Das heißt nicht, dass mir alles egal gewesen wäre oder ich mir keine Mühe gegeben habe – aber ich wusste, dass Kritik vielleicht an meinem Selbstwert kratzt, aber mir nicht den Boden unter den Füßen nimmt. Und es passieren blöde Dinge. Ob nun im Rahmen der Stationsarbeit selbst oder im Dienst. Gerade in der Neurologie. Irgendwann passiert das einfach, dass man einen Patienten mit Schwindel auf die periphere Station packt und am Ende hat er doch einen Schlaganfall. Es passiert, dass man – wenn man die ganze Nacht rennt, am Besten bei fünf Patienten gleichzeitig ist – irgendwann mal etwas zu spät am richtigen Ort ist. Es passiert, dass man nachts, wenn man vor Müdigkeit kaum noch etwas sehen kann, mal einen Doppler liegen lässt, weil man den nicht für zwingend notwendig hält und am nächsten Morgen genau dafür eins auf den Deckel bekommt. Und im Zweifel passiert das auch, dass man nach besten Wissen und Gewissen handelt und doch die falsche Entscheidung trifft. Und verständlicherweise hagelt es dafür Kritik.

Halt hat im letzten Jahr bedeutet, dass es ausgereicht hat, ich selbst zu sein. Egal wie gut oder schlecht ein Dienst war, ein Tag auf der Station, aber ich war immer noch derselbe Mensch, den der ehemalige Freund wegen dem Menschen an sich und nicht wegen seiner Leistung geliebt hat, sondern wegen seinen Seins (zumindest habe ich das gehofft). Egal, was ich an dem Tag geleistet habe, wenn ich abends bei ihm angekommen bin, dann zählte das nicht rein in die Bewertung ob es zwischen uns okay ist, oder nicht. Eine Abwertung schien auch langsamer von Statten zu gehen.
Obwohl der Freund am Ende oft wütend auf mich war – für mich ziemlich aus dem Nichts – und dann immer sagte, dass er mir den Grund erklärt, wenn wir uns das nächsten Mal sehen, was meist ein paar Tage gedauert hat. Das war dann schon schwer. Aber grundsätzlich hat sich das sicherer angefühlt. Ich musste mich nicht permanent anstrengen, permanent leisten, um gemocht zu werden. (Und am Ende möchte ja doch jeder gemocht werden).

Jetzt merke ich, dass sich das alles zurück dreht. Weil privat nichts mehr halten kann, muss das die Arbeit tun. Und das stresst mich exorbitant. Keine falschen Entscheidungen treffen, hoffen, dass man nicht in Situationen gerät, die einfach unklar sind. Manchmal ist die Medizin halt einfach ein Puzzle. Während ich im Verlauf des letzten Jahres mehrfach die Idee hatte den Job zu wechseln um herauszufinden, ob ich vielleicht woanders glücklicher werde, macht mir jetzt die Vorstellung wieder Angst, während des Psychiatriejahrs für ein Jahr weg zu sein und das „Ersatz – zu – Hause“ wieder zu verlieren.
Ich lehne mich an, an der Arbeit. Mich hier zu Hause zu fühlen, obwohl eine Arbeit das nicht sein sollte ist, wie eine alte Bekannte zu treffen. Mit allen Schwierigkeiten. Und doch merke ich langsam, dass ich wieder mehr lache auf der Arbeit. Ein bisschen zumindest. Weil ich mich auf der Stroke Unit zumindest einigermaßen kompetent fühle.
(Und dennoch freue ich mich immer noch auf mein Psychiatrie – Jahr und habe heute schon einen Kollegen gefragt, was ich denn bis dahin für Bücher lesen sollte. Er durfte und musste – auch, wenn das vielleicht aus Patientensicht etwas erschreckend ist – sogar Therapiegruppen leiten („Mondkind, das ist einfach – Du musst nur moderieren; da sollen ja hauptsächlich die Patienten reden und nicht Du“) und ich möchte das auch machen dürfen. Er wurde vorher ein Mal geprüft ob das auch vertretbar ist („Mondkind, das war reine Intuition was ich da gemacht habe, aber meine Mutter ist Therapeutin, da habe ich mir vielleicht schon was abgeschaut – in Mexiko halt, aber scheint hier auch gut angekommen zu sein“) Und ich frage mich gerade, ob eigene Therapieerfahrung an der Stelle auch hilft…)

Und erstmal weiß ich nicht, was ich daraus für Schlüsse ziehen soll. (Vielleicht ist das ein Therapie – Thema…)
Ich registriere es nur und finde es interessant. Wie sehr die Entscheidungen, das Wohlbefinden, die Idee davon wer wir sein können davon abhängen, wo wir glauben, dass wir Halt finden. Und dann ist die nächste Frage, wie wir uns im Halt entwickeln sollen.


So… - morgen habe ich Dienst und – wenn ich Glück habe ein Gespräch mit meinem Oberarzt – Donnerstag habe ich dann nach dem Dienst den Termin bei seiner Frau und dann ist schon ganz schnell Freitag. Bis dahin müssen wir eingetragen haben, welche Wochenenden wir im März und April nicht arbeiten können. Manchmal frage ich mich immer noch ganz impulsiv, ob ich nicht doch nochmal den ehemaligen Freund fragen sollte. Nur für den Fall der Fälle. Aber vermutlich nicht.


Mondkind


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