SU - Resümee und ein tragendes Gespräch

Die erste Woche zurück auf der Stroke Unit ist vorbei  - morgen ist hier Feiertag. Und ich habe Dienst.
Der Chef hat noch Urlaub, von daher war alles noch etwas entspannter diese Woche.
Aber ich merke auch: Obwohl ich im Privaten so sehr irgendwo im April 2020 bin, als ich das letzte Mal ein fester Bestandteil der Stroke Unit war, hat sich viel geändert. Und das hat mir heute auch mein Oberarzt zurück gemeldet.
Ich habe in der Zeit gelernt, selbstständig zu arbeiten. Natürlich gibt es täglich eine Oberarztvisite und dann werden dort die wichtigsten Sachen besprochen. Aber früher habe ich mir viele Dinge einfach nicht zugetraut. Heute entwickle ich dann auf Basis des Besprochenen selbstständig mit den Patienten und / oder deren Angehörigen zusammen Konzepte, setze die um und telefoniere dann mit meinem Oberarzt darüber, was ich gemacht habe. Ich arbeite ein bisschen vorrausschauend, bin tatsächlich ein bisschen die Stationsmami geworden und obwohl ich das nicht werden wollte, ist es jetzt vielleicht ganz gut, weil ich zumindest mal irgendwo das Gefühl habe noch eine Aufgabe zu haben und geschätzt zu werden.
Mein letzter Streich war heute ein sehr langes Angehörigengespräch mit der Tochter einer Patientin, die einen schweren Schlaganfall erlitten hat. Jetzt eine Verlegung ins Pflegeheim würde bedeuten, dass die Patientin vielleicht noch atmet, aber keine Lebensqualität mehr hat. Sie würde künstlich ernährt werden müssen, sie ist halbseitig gelähmt und kann nichts mehr selbst machen und nicht mehr sprechen. „Das hat sie so nicht gewollt“, hat die Tochter immer wieder wiederholt und die anfangs noch verschwiegene Patientenverfügung dabei. Wir reden lange. Und dabei geht es nicht um den medizinischen Zustand der Patientin – der ist allen klar. Es geht um Verantwortung, um Schuld, um Selbstbestimmung. Ich habe keinen Zeitdruck, ich muss nirgendwo hin und bemühe ich die Stütze zu sein, die die Tochter der Patientin gerade braucht, um eine Entscheidung zu treffen, wie auch immer die aussehen wird. Ich biete an, dass ich versuche die Patientin auf die Palliativstation zu verlegen, erzähle, dass es dort anders ist als hier. Dass sie alleine liegen kann, dass es keine Monitore mehr gibt, dass die Angehörigen in Ruhe Zeit mit den schwerkranken Menschen verbringen können. Am Ende entscheidet sich die Tochter für die Einleitung einer palliativen Therapie. Ich versuche die Oberärztin der Palliativstation zu erreichen, die ich gut kenne, weil ich im PJ dort gearbeitet habe. Sie ist schon weg, deshalb rufe ich die Station an und erkundige mich nach der Bettensituation. Es seien Betten frei, höre ich. Die Oberärztin habe morgen Dienst. Ich auch. Deshalb vereinbaren wir, dass die Schwestern den Namen schon aufschreiben und ich morgen früh mit der Oberärztin im Dienst telefoniere. Ich bereite auch schon den Brief vor und erkläre das ganze Konzept meinem Oberarzt. „Wenn Sie einverstanden sind, würde ich die Patientin dann morgen in meinem Dienst auf die Palliativstation verlegen, sofern ich ein Bett bekomme.“ Der Oberarzt ist einverstanden. Und ich hoffe, dass die Tochter ein bisschen Frieden findet. 





Gestern Abend hatte ich meinem Intensivoberarzt noch eine Mail geschrieben. Es geht mir oft immer noch sehr schlecht und gerade das Gespräch mit seiner Frau hat mich sehr nachdenklich gemacht. Nicht, weil sie nicht nett gewesen wäre oder ich mich nicht verstanden gefühlt habe, aber weil ich den Eindruck habe, selbst minimalen therapeutischen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Ich hätte keine Ahnung, worüber wir beim nächsten Termin reden sollen. In meinem Kopf herrscht völliges Chaos, ich habe so oft das Gefühl keine Ahnung zu haben, wer ich bin und wo ich hin möchte, dass ich die einfachsten Fragen nicht beantworten kann.
„Haben Sie eine Mittagspause?“, hat mich der Oberarzt heute Morgen in der Frühbesprechung gefragt. „Es kommt darauf an…“, habe ich entgegnet. Nicht selten gehen die Visiten bis zwei Uhr; dann nicht. „Rufen Sie mich an“, hat er vorgeschlagen.
Tatsächlich waren wir heute früher fertig mit der Visite – es gab sogar theoretisch Zeit für eine kleine Pause. Deshalb habe ich die anderen alleine zum Mittagessen geschickt und bin währenddessen rüber ins andere Gebäude getrabt.
„Was ist der nächste Schritt Frau Mondkind?“, fragt der Oberarzt, sobald wir sitzen.
„Ich habe keine Ahnung“, entgegne ich. „Genau das ist das Problem.“
Der Oberarzt spricht davon, dass ich nicht das große Ganze sehen soll. Ganz kleine Schritte. Winzig klein. Und ein Schritt könnte es auch sein zu sagen, dass ich ein bisschen mehr Stabilität erlangen möchte. Er sagt er spürt, dass es an allen Ecken gedrückt hat, dass der Kopf kurz vor der Explosion gewesen sein muss, bis ich mit meinem Oberarzt darüber geredet habe, was mich bewegt - denn das hat auch gerade bei ihm Mut gekostet. Und, dass es nicht schlimm sei.
„Ich habe diesen Kreislauf so oft durch“, erkläre ich. „Irgendwann habe ich immer nicht mehr weiter gewusst und dann hat das so oft in der Psychiatrie geendet und die wussten irgendwann auch nicht mehr, was die mit mir machen sollen.“

Der Herr Oberarzt spricht davon, dass ich jetzt an einem Scheideweg stehe. „Es hat jetzt wirklich kräftig geknallt bei Ihnen. Und jetzt stehen Sie wieder an dem Punkt, dass sie entscheiden können: Gehe ich zurück zur Mondkind, die ich kenne oder versuche ich glücklicher zu werden?“
Wir reden ein bisschen über das Leben, das es bis jetzt war. Er spricht von einem dicken Mantel über mir. „Über diesem Mantel ist die Arbeits – Mondkind. Und die macht ihren Job ganz super. Und unter diesem Mantel ist ein Konstrukt aus irgendwelchen Streichhölzern. Und wenn dann nur ein Streichholz umfällt, dann kracht bei Ihnen alles zusammen. Und irgendwann sind die Gedanken, dass das alles keinen Sinn macht und Sie nicht hierbleiben wollen auch wieder mit einer quälenden Präsenz da – und irgendwann passiert es dann mal wirklich. So wie das jetzt ist, ist es nicht gut.“ Später bringt er noch ein anderes Beispiel. „Wenn ich mir das so vorstelle, dann laufen Sie immer an einer Klippe. Immer gerade so an der Kante. Sie haben Ihre Exitstrategie – wenn Ihnen das alles zu viel wird, dann springen Sie da runter. Aber was 200 Meter neben der Klippe auf der Wiese an Leben auf Sie wartet – das sehen Sie überhaupt nicht. Und das ist anstrengend. Deshalb – kann ich mir vorstellen – sind Sie auch ständig so erschöpft. Ich glaube, Sie haben da so ein ganzes Konstrukt von Vermeidungsstrategien entwickelt, um ein basal funktionierendes Leben zu führen – aber glauben Sie mir Frau Mondkind – da wartet so viel mehr auf Sie. Und wahrscheinlich muss man dazu auch noch mal einen Blick auf die Biographie werfen – ohne die Eltern durch den Kakao ziehen zu wollen, die letzten Endes auch ihre Biographie haben und ihr Leben auch nur so gelebt haben, dass es für sie machbar war. Und ein Leben, das auf Dauer nur auf das Überleben ausgerichtet ist – das wird nicht funktionieren.“
Ich würde es mir so wünschen für Sie, dass Sie den Weg ins Leben wählen. Ich würde es Ihnen so wünschen, dass die Kollegen im Herbst sagen: Was ist denn mit der Mondkind los – die lacht so viel. Das war so schön, Ihnen das anzusehen im Sommer. Und das klappt auch. Aber das bedeutet viel Arbeit. Und entschuldigen Sie die Einschätzung – aber das schaffen Sie nicht alleine. Sie müssen es selbst machen, aber Sie brauchen eine Moderation dabei. Das können Sie nicht mit sich selbst ausmachen. Und ob Sie jetzt irgendwo einen Psychologen auftreiben oder ob Sie es mit meiner Frau machen – das ist mir völlig egal. Aber bitte machen Sie es. Und dann werden Sie auch eine Stabilität erlangen, dass es Sie nicht jedes Mal völlig umhaut, wenn irgendetwas Sie aus Ihrem Gleichgewicht bringt, weil das eben nicht mehr nur Streichhölzer sein werden, mit denen Sie da bauen.“
Ich bin ja schwerst beeindruckt. Wirklich. Ich fühle mich so gesehen und verstanden von diesem Menschen und gleichzeitig schafft er es irgendwie auf sanfte Art zu vermitteln, dass ich mich bewegen muss, ohne dass mich das zu aggressiv macht.
„Die Arbeitsmondkind ist perfekt und die Alltags- und die Herz – Mondkind würde man gut hinkriegen. Und stellen Sie sich dann mal die Gesamt – Mondkind vor. Wie die dann ist. Und das würde ich mir wünschen. Und das kriegen Sie hin. Sie sind weder doof, noch eine klassische Psychiatriepatientin. Sie haben ein perfektes System von Vermeidungsstrategien und das fällt Ihnen gerade massiv auf die Füße.“

Ich soll es mir überlegen und vielleicht nochmal einen Termin mit seiner Frau machen. „Und wenn Sie nach eins, zwei Terminen feststellen, dass das alles nicht geht, bin ich Ihnen gar nicht böse. Da muss auch die Chemie stimmen. Entscheiden müssen Sie das selbst, aber ich würde es mir für Sie wünschen, dass Sie es nochmal versuchen. Und wie diese winzig kleinen Schritte aussehen sollen, das können Sie ja dann besprechen.“

Ich bedanke mich nochmal. Für seine Mühe und die Zeit. „Stören meine ganzen Mails?“ (Ungefähr täglich aktuell) „Nein Mondkind, das ist es wert. Schreiben Sie mir ruhig. Weil ich selbst weiß, wo ich herkomme. Und ich bin für Sie da.“

Ich musste wirklich weinen nach diesem Gespräch. Vor Dankbarkeit. Egal wie schwer das gerade ist – aber ich bin nicht alleine. Und wenn man weiß, dass irgendwo irgendetwas und irgendwer ist, an dem man sich festhalten kann, auf den man bauen kann, dann kann ich so viel mehr aushalten, dann habe ich so viel mehr Mut, so viel mehr Stärke, weil ich weiß – wenn ich mich überschätze und dann doch falle, dann falle ich nicht ins Nichts. Und dass es so viel Unterstützung für mich geben würde, hätte ich vor ein paar Tagen nicht für möglich gehalten.

Jetzt bin ich erstmal noch zum Essen verabredet und morgen ist der Dienst.
Ich möchte glauben, dass eine Mondkind ein Leben haben kann. Nicht so, wie noch vor wenigen Wochen geplant, aber vielleicht irgendwann doch noch. Der Oberarzt glaubt nicht, dass ich beziehungsunfähig bin oder so. Er glaubt, ich werde irgendwann eine kleine Familie haben. Und einen Mann, der mich schätzt wie ich bin, mit allem was ich bin. Und ich möchte glauben, dass er Recht hat.

Mondkind

Kommentare

  1. Liebe Mondkind,
    ich wünsche dir erstmal noch ein gesundes neues Jahr!
    Es freut mich zu lesen, dass der Oberarzt dir so viel Input geben konnte!...Und ich gebe ihm Recht, von dem was man hier mitliest.
    Du bist insgeheim so mutig und stark! Das schaffst du. Vllt braucht es da nur noch den Anstoß einer externen Person, wie zB der Frau des Oberarztes.
    Oder jemand anderem im Helfersystem, falls es mit der Frau des Oberarztes nicht ausreichend harmonieren sollte. Du bist da nicht allein, auch wenn es sich an manchen Stellen so anfühlt.
    Aber es stehen da schon einige hinter Dir. Ich würde mich auch sehr freuen, im Herbst wieder von einer glücklichen Mondkind zu lesen..die das Leben abseits der Klippe genießt.

    Liebe Grüße und einen ruhigen Dienst,
    S

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    1. Guten Morgen,
      Danke Dir erstmal ;)

      Naja, aktuell bräuchte ich so eine kleine Motivationsrede glaube ich jeden Tag. Die Morgen, an denen ich hier vor dem Dienst alleine aufwache und alleine frühstücke bevor ich los gehe, sind immer noch sehr schlimm.
      Ich war einem Menschen nie so nah, wie dem ehemaligen Freund. Ich vermisse ihn schon sehr. Und kann immer noch nicht glauben, dass ich nie wieder meine Sachen ins Auto schmeißen und zu ihm hin fahren werde. Dass ich seine Arme nie wieder auf meinem Rücken fühlen werde. Dass die lange Umarmung vor der Kapelle an der Landstraße eine Art Abschied war. Es war die Letzte, die ich noch genießen konnte, während der ich noch geglaubt habe, dass wir irgendeinen Weg finden - alles danach war so viel Schmerz, dass es kaum aushaltbar war.
      Schau ab heute Abend habe ich vom Prinzip her immer noch ein ganzes Wochenende. Was soll ich mit so viel Zeit? Ich kann mich schon beschäftigen; so ist das nicht - langsam sollte ich auch mal wieder die Nase in Fachliteratur stecken - aber es fühlt sich immer wie Verschwendung an, wenn ich weiß, dass wir jetzt gerade mal Zeit für uns hätten, dass es mehr als 24 Stunden sind und das gereicht hätte, dass wir uns wirklich hätten aufeinander einlassen können, aber die Zeit des Wirs einfach abgelaufen ist.

      Aber Du hast natürlich Recht - ich habe mehr geschafft als das. Das versuche ich mir auch immer wieder zu sagen. Es war nie einfach und ich war mehrmals dort, dass ich dachte, dass es einfach nicht mehr geht. Und mit so viel guter Unterstützung, sollte es schon klappen. Die Lösung kann mir niemand einfach so geben, die muss ich schon selbst erarbeiten. Aber der Weg, diese Unterstützung anzunehmen wird mir schon gerade sehr leicht gemacht und wahrscheinlich sollte ich das einfach annehmen.

      Mal sehen, wie das mit seiner Frau weiter läuft. Wahrscheinlich werde ich ihr nächste Woche nochmal schreiben. Die ist schon nett und alles - zwischenmenschlich denke ich, dass das geht. Das wir halt alles echt ein teuerer Spaß, aber es ist ja zumindest sinnvoll investiert, hoffe ich. Und dann ist meine Sorge ja eher, dass ich da diesen therapeutischen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Aber das Problem hätte ich wahrscheinlich mit anderen professionellen Helfern genauso; also kann ich mich da auch mit ihr auseinander setzen.

      Ich hoffe auch, dass der Dienst heute ruhig wird... - aber im Moment ist tendentiell viel los in den Diensten. Und auf meiner Station muss ich heute morgen auch noch eines regeln, mein Oberarzt wollte mir eine Mail schreiben. Aber da ich ja morgen ausschlafen kann, macht es nichts, wenn ich erst mitten in der Nacht komme. Hier wartet ja auch niemand. (Was auch sehr, sehr schön war. Nach dem Dienst heim zu kommen und dann war der Freund hier...)

      Mondkind

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