Zwischen dem Alltag und mir

So lang geglaubt, wir kriegen das hin
Doch diesmal ist es anders
Ich spür es ganz tief in mir drin

Und ich wein ein'n Fluss aus Trän'n
Du wirst mir fehl'n, du wirst mir fehl'n
Und ich weiß, es ist zu spät
Aber du bleibst, auch wenn du gehst
(LEA – Fluss)


Und ich weiß nicht mal, wer oder was mir jetzt am Meisten fehlt.
Der verstorbene Freund.
Der lebende, ehemalige Freund.
Ich mir selbst. Die Person, die ich mal war, bevor das alles passiert ist.

***

Der Stress der Akutneurologie hat mich zurück.
Der ist anders, als der Stress auf der Intensiv. Der daraus entstand, dass ich wusste, dass ich nun mal keine Ahnung von der Intensivmedizin habe. Und, weil ich zu viel Angst hatte.
Auf der Stroke Unit sind es eher die Hierarchien. Und das Chaos. Dass man manchmal meint, die höheren Etagen denken, man hätte die Krankheiten des Patienten aktiv eingekauft. „Mondkind, Du willst mir jetzt nicht etwa nach einer Woche Aufenthalt bei uns sagen, dass der Patient eine subarachnoidale Blutung hat (nach Sturz, deswegen kam er), einen subakuten Querschnitt, weshalb wir morgen ein MRT machen werden, ein penetrierendes Aortenulcus, das kein Kardiochirurg bei dem Allgemeinzustand des Patienten operieren möchte und das uns jeder Zeit um die Ohren fliegen kann, eine dislozierte Schrittmachersonde, die man eigentlich korrigieren müsste und jetzt noch ansteigende Entzündungsparameter ohne Infektfokus und eine gestaute Lunge.“ Ich bin schon zwei Schritte zurück gegangen und schaue ihn einfach nur an. Es ist so. Irgendwann entschuldigt er sich dann aber und sagt, dass ich ja auch nichts dafür kann.
Insgesamt lache ich aber glaube ich mehr auf der Arbeit. Ich habe nur noch sehr viel Angst an den Tagen mit Chefarztvisite. Aber eben nicht mehr jeden Tag. Ich muss mich nicht mehr verstecken, weil ich Angst habe, irgendwelche ZVKs oder Shaldons legen zu müssen oder eine Tracheotomie machen zu müssen oder nur eine Trachealkanüle zu wechseln. Ich kann laut „hier“ rufen, wenn es etwas zu übernehmen oder zu organisieren gibt. (Manchmal zu laut…). Das ist schon schön. Insgesamt bin ich froh, zurück zu sein.
Ab morgen warten die ersten Spätdienste auf mich – mal sehen, ob ich das danach auch noch so sehe…

***
Gestern Abend.
Ich habe den ehemaligen Freund in der Leitung.
Ich bin unendlich müde. Nachdem ich am Wochenende mal zwei Nächte gut geschlafen habe, war ich die letzten Nächte fast komplett wach.
An irgendeiner Stelle lacht er mal und das berührt seltsam das Herz. Ich habe ihn ewig nicht mehr lachen gehört.
Da es sowieso nichts mehr zu verlieren gibt, teile ich wieder mehr, als früher. Wo ich noch bei jedem Wort auf der Hut sein musste, damit er möglichst nicht böse auf mich wird. Alles, was hier zwischen uns passiert, ist sowieso Bonus. Wenn‘s morgen vorbei ist, ist das irgendwo auch okay. Und doch tut es natürlich weh.
„Diese Woche hat man mir spontan Donnerstag und Freitag einen Spätdienst aufgedrückt. Und irgendwie ist das immer noch direkt der erste Gedanke, dass das ja eigentlich recht praktisch ist, weil ich dann ja Mittwochabend zu Dir fahren kann. Bis mir einfällt, dass das ja nicht mehr so ist…“
Wir reden über die Urlaubsplanung. Dass Mittwochmorgen die Besprechung stattfindet. Dass der Urlaub dann final verteilt wird. Und, dass das nicht wie auf der Intensiv ist. Dass es dann fest so ist und man da nicht mehr dran rütteln kann. Ich bin mir nicht sicher, ob der Freund weint am anderen Ende der Leitung. Oder ob das meine Interpretation ist. Weil ich es selbst so traurig finde. Letztes Jahr hatten wir wenig Urlaub zusammen, weil wir erst ab dem Ende des Frühlings ein Paar waren, wo die Urlaubspläne fertig waren, obwohl man da eben auf der Intensiv teilweise noch dran rütteln konnte. Jetzt hätten wir die Gelegenheit, die Dinge gemeinsam zu planen und verzichten darauf. Sollte der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass wir uns doch noch mal eine Chance geben, werden wir frühestens 2024 gemeinsam Dinge unternehmen könnten. „Bis dahin müsste allerdings ein Quantensprung passieren“, kommentiert der Freund. „Bei wem?“, frage ich. „Bei Dir natürlich“, sagt er. Naja… - unter den Umständen…?
„Gibt es noch irgendetwas zu sagen?“, frage ich am Ende, weil ich immer noch nicht genau weiß, wie es ihm da eigentlich gerade geht am Telefon. (Er ist – wie wir ja wissen – sehr wortkarg, wen es darum geht, Gefühle in Worte zu packen und ich habe mir immer gewünscht, er würde mehr darüber reden und weiß auch nicht, warum er da so scheu war. Denn grundsätzlich glaube ich schon, dass er weiß, wie es ihm geht). „Höchstens noch etwas zu fühlen“, entgegnet der Freund. „Naja, gemeinsames Fühlen durchs Telefon ist ein bisschen schwierig“, sage ich. „Wenn ich bei Dir wäre, könnten wir jetzt einen Teemoment an der Heizung einlegen…“ Ich stelle mir vor, wie wir dort sitzen. Im Wohnzimmer. Unter dem Fenster. An der Heizung. Mit der Lampe neben uns. Und einer Tasse Tee in der Hand. Und ich stelle mir vor, wie er seinen Kopf auf meine Schulter legt und ich meinen Arm auf seinen Bauch lege. Kaum zu glauben, dass es das so ähnlich mal gegeben hat.
Und trotzdem meine ich, ich fühle ihn heute Abend ein bisschen durchs Telefon. Und während ein „Ich liebe Dich“, die letzten Male irgendwo auch unpassend erschien, fühlt es sich heute erstmals wieder seltsam passend an. Aber heute beschließt er, dass es Zeit ist, dieses Ritual zu beenden. Sinn macht das schon. Aber ich hätte es gern nochmal gehört.

(Am Rande bemerkt – natürlich haben die Urlaube aller wieder nicht zusammen gepasst und ich habe da recht viel umgeschoben von meinem Urlaub. Ich habe sogar hinterher eine Mail bekommen, in der man sich bedankt hat. Und irgendwie wünschte ich, ich hätte mehr Gründe gehabt zu sagen, dass ich nicht schieben kann. Weil ich mit irgendwem irgendetwas geplant hätte. Nicht, weil ich den Kollegen nicht helfen möchte, das ist schon alles okay; ich helfe gerne wo ich kann. Sondern, weil ich gern einfach etwas Schönes vor hätte in meinem Urlaub gemeinsam mit anderen Menschen. Aber das ist wieder die Mondkind, die man von früher kennt. Die eben immer flexibel war… Und manchmal bin ich traurig, dass wir nie wissen werden, wie es gewesen wäre, wenn wir irgendwann mal abends in der Toscana gemeinsam am Strand gestanden wären und uns dort geküsst hätten. Das hätte ich gerne erlebt. Super gerne.)


Heute hat es zwar geschneit (Auto und ich waren herausgefordert, keine Zeit für Fotos...), aber davor war hier alles überschwemmt. Das sind die Saalewiesen und ich musste wieder über den Nachbarort zur Arbeit fahren. Ein bisschen magisch schaut es aber schon aus



***

In Vorbereitung auf den Termin bei der Frau des Oberarztes denke ich ein bisschen nach.
Was hat mich bewegt und beschäftigt diese Woche?
Hauptsächlich drei Dinge.
Traurigkeit. Ganz viel Traurigkeit. Es fühlt sich langsam so an, als müsste dieser Turnus doch mal vorbei sein. Ein Teil in mir hat das noch nicht verstanden, dass es eben nicht nur – weil es vielleicht nicht anders zu organisieren war – ein paar Wochen sind, bis der ehemalige Freund und ich sich wieder sehen, sondern, dass es ab jetzt für immer so ist. Ein Teil in mir wird ein bisschen unruhig, befindet, dass wir doch jetzt genug Dienste gemacht haben, dass ich genug Wochenenden alleine war, dass es doch langsam wieder so weit sein müsste. Ich vermisse das so sehr, neben ihm aufzuwachen. Diese Blase, in der wir waren. In der es nichts, als uns Zwei und das Fühlen dazwischen gab. Da war die nächste Intensivwoche mal ganz weit weg. Ich vermisse diese Mondkind von damals, diese Momente der Stille zwischen dem Alltagsstress.
Schuld war ein Gefühl, mit dem ich mich auch viel beschäftigt habe. Schließlich habe ich für mich selbst nach dem Tod des Freundes beschlossen, dass ich nie wieder eine Beziehung führen kann, weil das moralisch einfach nicht vertretbar ist. Und ich dachte im Sommer solange wie wir zu Zweit sind, dieses Päckchen zumindest ein bisschen zu Zweit tragen können, solange wie der andere immer mal wieder rein grätschen kann und die Rationalität dieser Überlegungen hinterfragen kann, wenn ich das am Meisten brauche, solange geht es. Aber alleine dreht sich das schnell ein. Ich frage mich manchmal, ob irgendwer unser Schicksal lenkt und ob irgendwer irgendwann ein bisschen Mitgefühl hatte für so eine junge Seele, der die Liebe im Leben gefehlt hat. Und der dieses Gefühl des Verliebtseins dann in eine Beziehung eingestreut hat, die hätte ganz sicher sein sollen. Nur, damit ich es mal wieder spüren darf, damit ich merke, wie mein Herz taut und sich bewegen darf. Und dann haben wir die Grenzen ein bisschen gedehnt und dann ist etwas entstanden, was derjenige, der über Schicksal wacht, nicht hat kommen sehen können. Und dann war natürlich auch klar, dass das nicht halten kann. Selbst in Zeiten, in denen Keiner von uns über Trennung nachgedacht hat, war mir tief im Inneren klar, dass das nicht bleiben kann. Und dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis mir das Glück wieder durch die Finger rinnt und ich mir damit auch noch ordentlich wehtue. Ich soll meinen Schuldberg abtragen und keine Schuld generieren.
Und Angst. Angst ist auch so ein Gefühl. Eine diffuse Angst. Vor allem. Dass auf der Arbeit etwas passiert, dass ich mit dem Auto einen Unfall baue, dass es in der Wohnung Schwierigkeiten gibt, dass mir gesundheitlich irgendetwas passiert. Es gibt Vieles. Und nachdem der Intensiv – Oberarzt mir erklärt hat, dass meine Stabilität sich auf dem niedrigsten Niveau befindet, das irgendwie möglich ist und ich in mir wahrscheinlich ein permanentes Flattern spüre, weil ich ständig Angst habe, auf der ein oder anderen Seite runter von meinem Seil zu fallen, auf dem ich balanciere, macht das auch alles irgendwie Sinn.


***

Mittwochabend.
Ich sitze bei der Frau des Oberarztes.
Sie fragt mich, was mich bewegt hat, im Verlauf der letzten Woche. Und ich referiere alles. Schwierig, sagt sie. In meinem System alles irgendwie nachzuvollziehen, aber wahrscheinlich schwer aufzubrechen.
Wir machen ein paar Übungen um raus aus dem Kopf und rein in den Körper zu kommen. (Ich bin da nicht so der Fan von; wenn irgendwer mich fragt, wo in meinem Körper ich was fühle, könnte ich die Vollkrise kriegen. Ich weiß so etwas einfach nicht). Irgendwann merkt sie dann, dass das auch nicht wirklich hilft.
Also reden wir weiter. Das mit der Schuld hat sie noch nicht so verstanden. „Das ist ein größeres Thema und hängt weniger an der aktuellen Beziehung“, sage ich. „Das ging alles los mit dem Tod des Freundes“, sage ich. Und dann merkt sie, dass das wahrscheinlich ein zentraler Bestandteil ist und dass sie mich weiter darüber reden lassen muss, wenn sie verstehen will, was mich da beschäftigt.  Sie fragt nach, wie Trauerverarbeitung bisher aussah. Und außer den Anfängen mit dem ehemaligen Freund, die wir nie beendet haben, kann ich dazu nicht viel Positives sagen. „Er fehlt Ihnen sehr, oder?“, fragt sie irgendwann. „Was fehlt Ihnen am Meisten?“, fragt sie. Und damit hat sie mich dann. Ich spüre die Tränen in den Augen und sie schiebt mir die Taschentücher vor die Nase. Ich kann mich einigermaßen beherrschen bei ihr, aber ich glaube, sie bringt die Verletzungen in meinem Herzen langsam zusammen. „Ich glaube, Sie haben um Vieles getrauert in Ihrem Leben. Vor [dem verstorbenen Freund] und nach [dem verstorbenen Freund]. Und aktuell eben auch um [den ehemaligen Freund]. Aber ich glaube, dort müssen wir anfangen. Bei diesem Tod, den Sie erlebt haben, das würde ich gern mit Ihnen bearbeiten.“ Ich weiß nicht, ob ihr klar ist, auf was wir beide uns da einlassen.

Einen nächsten Termin haben wir noch nicht. Sie möchte mich nämlich tagsüber sehen. Fit und nicht so abgehetzt, um mit mir am Thema des verstorbenen Freundes zu arbeiten. Also quasi unmöglich dieser Zustand. Im nächsten Dienstfrei kann sie nicht und der Übernächste Ende des Monats habe ich übersehen, weil es ein Intensivdienst war und ich in die Spalte irgendwie nicht geschaut habe. Wenn Ihr Mann mich (vor)pünktlich gehen lässt (natürlich kann ich sie darum nicht bitten, aber ich glaube immer noch nicht, dass sie und ihr Mann nicht über mich reden…), könnte ich da vielleicht sogar ausgeruht erscheinen.

Jedes Mal auf dem Heimweg denke ich darüber nach, ob ich – wenn ich aus dem Wohngebiet fahre, in dem ihre Praxis ist – nicht den linken Blinker setzen soll bei dem das Auto schnurstracks wieder den Weg aus der Stadt raus fährt, sondern einfach mal den rechten Blinker setzen soll. Einfach nochmal beim ehemaligen Freund vorbei fahren wo ich in wenigen Minuten wäre, so bescheuert, wie das auch ist. Ich muss ja nicht mal anhalten. Nur vorbei fahren. Und nochmal fühlen, wie sich das anfühlt, diese letzten Kilometer hoch auf den Berg, dorthin, wo er wohnt.

Jetzt geht es ab morgen erstmal noch in zwei Spätdienste.
Und irgendwie warte ich am Ende der Woche doch immer darauf, dass der ehemalige Freund – entgegen allem was ich rational weiß – vielleicht doch fragt, ob wir uns sehen wollen. Ob ich vielleicht einfach vorbei kommen mag. Ob wir uns noch einmal spüren dürfen.
Es ist so unglaublich tragisch, dass wir beide in unserer Wohnung sitzen, uns beide vermissen, beide (also für ihn weiß ich es nicht) kein schönes Wochenende haben. Und manchmal denke ich, wir haben so wenig Zeit, die wirklich uns gehört und dann sollten wir sie doch eigentlich bestmöglich nutzen. Und glücklich sein in dieser Zeit. Ich habe mich mal so gefreut auf den Januar, auf die langen Wochenenden, die wir haben würden. Wir kannten das gar nicht richtig, mal wirklich ein Wochenende Zeit zu haben. Und jetzt könnten wir das machen, aber jetzt geht es nicht mehr. Jetzt bleibt nur die Erinnerung.
Und manchmal frage ich mich, ob es eine Frage von Mut wäre. Weil vielleicht jeder von uns beiden denkt, der andere käme zu der Idee und fragt, ob wir uns sehen sollen. Ich habe immer noch diese Szene vom LEA – Konzert im Kopf. Ob wir das nochmal haben könnten? Aber vielleicht hat es auch einfach gar nichts mit Mut zu tun und ist nur ziemlich bescheuert…
Er war ja nicht oft bei mir, aber ich sitze abends oft noch kurz auf dem hässlichen Sofa in der Ecke und erinnere mich daran, wie er dort saß und mich auf seinen Schoß genommen hat. Ich glaube, ich werde dieses Sofa doch nicht so bald raus schmeißen, obwohl ich immer ein Neues wollte. Es darf noch eine Weile bleiben, mein Platz sein, auf dem ich die Augen schließen und beinahe nochmal nachfühlen kann, wie das war.
"Aber Du bleibst, auch wenn Du gehst." Du bleibst. Bist immer noch da. Wenn auch nur im Herz. Und vielleicht ist das der Ort, an dem die Menschen eben am längsten bleiben. Vielleicht haben nur wenige Menschen das Glück, die Menschen, die sie wirklich geliebt haben, aktiv im Leben zu behalten. Vielleicht ist das ganz viel Bonus, von dem man irgendwann leben muss. Jeden Tag ein bisschen.

Mondkind


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen