Reisetagebuch #1

Samstagabend
Der ehemalige Freund war den Tag über unterwegs, erst gegen kurz vor 19 Uhr meldet er sich, dass er demnächst nach Hause kommen wird.
Ich packe meinen Vortrag zusammen, mache mich fertig, schmeiße die restlichen Dinge ins Auto und dann mache ich die Wohnung noch abflugsbereit. „Wenn Sie den Müll raus gebracht haben, haben Sie das Wichtigste erledigt“, kommt mir in den Kopf, als ich auf den Türschwelle stehe. Diesen Satz von Frau Therapeutin werde ich wohl nie vergessen. Ein bisschen wie ein „Mutter – Tochter – Moment“, der so nie existiert hat.

Und dann düsen Möhrchen und Mondkind erstmal in die Nachbarstadt.
Wir stehen im Flur. Ewig. Halten uns im Arm, als hätten wir uns ein halbes Jahr nicht gesehen.
Seitdem ich nie weiß, wie lange das noch so sein kann, sind die Umarmungen noch intensiver als früher. Ich nehme das Schlagen seines Herzens, seine Atmung, seinen Geruch genau wahr. Ich achte auf mein Herz, das immer noch flattert. Und am liebsten hätte ich es, diese Momente der ersten Begegnung würden nie enden. Da ist so viel Magie, so viel Leben auf so wenig Raum.

Die Nacht wird lang. Halb 2 löschen wir das Licht.
Ich bin schon wieder wach, als es hell wird im Wohnzimmer.
Und schlafe irgendwann doch noch mal ein Stündchen.

Bis wir dann aufstehen, ist es bald Mittag.
Der Sommer hat Einzug gehalten. Wir können draußen frühstücken. Ich hab’s geliebt mit ihm auf dem Balkon im letzten Sommer. Ein Moment von dem ich nicht dachte, dass er nochmal kommt in den letzten Monaten.

Wir hätten so viel zu reden, aber wir reden nicht.
Wir reden mehr als früher über unseren Alltag. Aber wir reden nicht über uns. Als wäre das so fragil, dass es brechen müsste, wenn man es nur thematisiert.
Gegen 17 Uhr muss ich los. Der Plan ist am Abend noch bei meiner Mama anzukommen.


Frühstück auf der Terrasse💜


Ich wundere mich, was heute auf den Straßen los ist. Baustelle hinter Baustelle. Stau hinter Stau. Aus den geplanten 3,5 Stunden Fahrt werden fünf Stunden. Zwischendurch werde ich daran erinnert, dass da ja ein langes Wochenende zu Ende geht. Stimmt – hatte ich voll verplant, da ich auch Donnerstag Dienst hatte und für mich die Woche eher noch stressiger war, als eine normale Arbeitswoche. Zwischendurch höre ich im Radio von einem schweren Unfall in einer Stadt, die 20 Minuten entfernt von mir ist. Und dann bin ich dankbar, dass Möhrchen und ich heute ein gutes Team sind, obwohl ich weiterhin spüre, dass es nicht mehr ist, wie früher. Es fällt mir heute super schwer mich auf den Verkehr zu konzentrieren – so wie das mit der Konzentration in der letzten Zeit allgemein so eine Sache ist.

Ich lese die altbekannten Städtenamen. Auf den Nummernschildern sind immer mehr die Initialen der Städte zu finden, die ich aus Kindertagen kenne. Irgendwie ist es jedes Mal eine seltsame Mischung aus Freude und Traurigkeit, zurück zu kommen. Es war kein sicheres zu Hause. Aber es war alles was ich kannte, bis ich gelernt habe, dass es auch anders geht. Dieser schmale Horizont hat zwar schon mit 12 Jahren die Suizidalität an die Tür klopfen lassen, weil ich so einfach nicht leben wollte, aber solange wie ich nicht wusste, dass es da draußen ein Leben gibt, das so viel mehr Lebensqualität bietet, das sich so viel lebendiger anfühlt, das aus mehr besteht, als aus Leistung und dass ich mehr wert sein kann als die Schulnoten, die ich heim bringe, war das auch kein richtiger Kampf, so wie er es heute ist.

Ich fahre die Straße entlang, die der alte Schulweg ist. Extra die letzten Meter ein bisschen anders, um an der Tankstelle vorbei zu kommen, für die mir der ehemalige Freund seine Tankkarte mitgegeben hat. Wir tauschen langsam die Sachen zurück, die wir damals in den letzten Tagen des Dezembers dem anderen zurück gegeben hatten. Zumindest temporär.
Die Schulzeit war schon so eine Sache. Leistungsdruck ohne Ende und gleichzeitig ein seltsames Gefühl von zu Hause, was es eben im „echten zu Hause“ nicht gab. Deshalb war das Ende der Schulzeit in meinem Kopf auch immer das Ende des Seins. Ich werde nicht älter als 18. Daran habe ich fest geglaubt. Denn ich wollte nicht erleben müssen, wie die einzige Defintion von „zu Hause“ zusammen bricht, die ich kannte. Weil ich dort eben einfach nicht mehr sein darf, wenn das Abi in der Tasche ist. Das mit dem Abi war nicht „vor der großen Freiheit“, wie andere das gern definiert haben.


Kurz nach 22 Uhr parke ich das Auto vor dem Haus. Und so zwischendurch realisiere ich immer noch, was das für ein Privileg ist, dass ich mich einfach ins Auto setzen und von A nach B fahren kann.
Hole noch zwei, drei Mal tief Luft, ehe ich mit dem Koffer in der Hand an der Haustür klingle.
Meine Mama und ihr Freund streiten sich gerade im Schachspiel… puh. Es legt sich aber zum Glück bald und die Laune ist nicht ganz schlecht.

Allerdings hat meine Mama natürlich eine Ahnung, wo ich herkomme und warum ich nicht am Samstag gekommen bin.
„Ich hoffe, Ihr schlaft nicht mehr miteinander…“, stellt sie trocken fest und ich schweige eine Weile.
„Mondkind, also mit wem ich nicht zusammen bin, mit dem schlafe ich auch nicht. Stell Dir mal vor, Du wirst jetzt schwanger. Mit Deinen ganzen Diensten auf der Arbeit – wie soll denn das gehen? Von Anfang an als alleinerziehende Mutter – wer soll sich denn um das Kind kümmern?“
Ich bin kaum fünf Minuten da, als sie irgendwie mein Herz getroffen hat. Als ob ich mir darüber nicht täglich Gedanken machen würde.

Ich war selten so unsicher. Und selten so allein.
„Also Mondkind – Du hast einen Job, eine Wohnung und ein Auto: Alles andere ist Bonus“, postulierte eine Bekannte letztens. Ich finde aber nicht, dass zwischenmenschliche Beziehungen Bonus sind. Ich finde, das ist ein Grundbedürfnis.

Bis vor ein paar Monaten hat es das in meiner Welt alles auch nicht gegeben.
Aber was soll man machen?
Ich bin mir ziemlich sicher, wenn ich jetzt die Beziehungsfrage zwischen dem ehemaligen Freund und mir stellen würde, dann würden wir uns wieder wochenlang nicht sehen. Weil das auf beiden Seiten nur Verletzte gibt. Ich glaube, dass er einfach eine wahnsinnige Angst hat in einer Bindung zu sein und sich dort eingeengt fühlt – das würde er nur im Leben nicht zugeben. Die ehemalige Therapeutin hatte es schon mal postuliert aus dem, was ich so erzählt hatte und wenn ich so an unsere Gespräche über Ideale am Anfang der Beziehung denke, dann passt das auch dazu. Unsere Beziehung war eben – so wie keine Beziehung auf diesem Planeten – nicht ideal. Und ich kann natürlich nicht damit leben, dass er sagt, dass das eine Beziehung ohne Bindung ist.
Also versuche ich ihm irgendwie den Raum zu geben, den er aktuell braucht. Sexualität ist für ihn ein Grundbedürfnis in einer Beziehung. Ich vermisse das schon auch, könnte aber darauf verzichten solange wie wir eben nicht offiziell zusammen sind. Denn wenn man es wie eine Waage betrachtet, dann gibt es natürlich eine gewisse Bedürfnisbefriedigung, gleichzeitig habe ich das Gefühl ich verrate mich und meine Prinzipien ein bisschen selbst und meine Mama hat natürlich Recht: Was mache ich, wenn das mit der Verhütung mal schief geht? Natürlich verhüten wir – dumm sind wir nicht, aber meinem sicherheitsliebenden Hirn reicht das nicht und ich habe so einige sehr unruhige Momente gehabt, seitdem das so läuft. Ich habe halt de facto weder Familie noch Freunde die helfen können und ob der ehemalige Freund sich so berufen fühlt sich um ein Kind zu kümmern, damit ich irgendwie Job und Kind einigermaßen unter den Hut bekomme, weiß ich nicht. Ich habe mir die Tage schon mal überlegt: Wären wir zusammen, wäre das auch nochmal etwas anderes. Ich möchte Kinder. Definitiv. Ich hatte immer gesagt nach dem Facharzt und das wäre auch schlau, aber selbst das mit den Kindern ist so eine Sache, die man immer auf „bessere Zeiten“ verschiebt. Zuerst hieß es überall „bitte nicht im Studium“, danach von allen Seiten „Aber bitte nicht in der Assistenzarztzeit“. Diese Ansicht kollidiert schon mit meinen Lebenszielen. Ja, ich möchte den Facharzt machen und ich möchte erfolgreich im Job sein, aber noch wichtiger ist mir eine Familie. Und man wird nicht jünger, so ist es einfach.
Aber unter den Umständen so wie sie jetzt sind… das ist tatsächlich ungünstig. Nicht nur für mich – auch für das Kind, dem ich eine intakte Familie bieten möchte, in der es vielleicht besser aufwachsen kann, als ich das konnte.

Aber was kann man machen – meine Devise ist aktuell das auszuhalten, bis er vielleicht auch bereit ist, sich nochmal mit dem Thema Beziehung auseinander zu setzen. Und ob es wirklich so ist, dass wir uns nicht mehr lieben. Ich weiß nicht, wie das von seiner Seite aus ist – wir reden nicht drüber und ich mag ihn nicht stressen. Ich kann nicht mit jemandem schlafen, den ich nicht liebe. Ich weiß nicht, wie es ihm geht. Manchmal glaube ich auch, ich bin weiterhin um Längen zu naiv.
Ich glaube immer noch, dass es lösbare Schwierigkeiten zwischen uns gibt. Und ich überbrücke die Zeit, bis es eine Bereitschaft gibt, darüber zu reden.

Meine Mama – und die meisten anderen Menschen, die davon wissen – meinen, das ist hochgradig fahrlässig und Zeitverschwendung. Ich könnte ja wen Neues kennen lernen. Die Menschen fragen mich, ob ich mir beim Reden zuhöre, wenn ich das so erzähle, weil das doch so hirnverbrannt ist. Und ich frage mich, ob die Menschen sich selbst beim Reden zuhören.

Ich weiß nicht, was richtig ist. Ich weiß es einfach nicht.
Und es muss nicht jeder meiner Meinung sein. Aber es würde mir schon helfen, wenn die Menschen mal versuchen würden meine Perspektive einzunehmen. Oder einfach nur sagen: „Tu was Du fürc richtig hältst und Du darfst Dich melden, wenn etwas ist.“


M & M on Tour 🚗



***

Und am Ende ist es so viel zwischenmenschliches Chaos, dass wichtige Dinge ganz am Ende kommen.
22.05.2020
Steht als Sterbedatum auf dem Kreuz des verstorbenen Freundes.
Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass dieser Tag nicht der Tag ist, an dem er gestorben ist, aber eine gewisse Bedeutung hat dieser Tag trotzdem.

Manchmal wünschte ich – obwohl ich die guten Momente so sehr schätze – alles was nach Deinem Tod kam, hätte nie passieren müssen. Manchmal wünschte ich, wir beide wären in unserer kleinen Welt geblieben, Du wärst noch an meiner Seite.
Manchmal wünschte ich Du wärst der Mensch, mit dem ich morgens mit einer Kaffeetasse am Tisch sitze.

Als ich gestern auf der Straße mit Möhrchen war, habe ich mir überlegt, dass Du so viel nicht mehr mitbekommen hast. Es ist immer noch so surreal, mich einfach ins Auto setzen zu können. Wäre ich den Weg vor drei Jahren gefahren – vielleicht wäre dann die Zukunft eine andere geworden.

Und trotz all der Traurigkeit über das was vorbei und nicht mehr wiederholbar ist, spüre ich langsam viel Dankbarkeit. Dafür, dass wir unser Leben teilen durften. Dafür, dass Du mir die Welt gezeigt hast. Dass Du nicht gefragt hast, sondern mich einfach an die Hand genommen hast. Dafür, dass Du fünf Jahre lang die stabilste Bindung in meinem Leben warst. Dafür, dass Du mir – zumindest in der damaligen Zeit – in bisschen Vertrauen in die Welt geschenkt hast. Dafür, dass Du die Studienstadt und den Fluss zu einem zu Hause hast werden lassen. Dafür, dass meine Antwort darauf, wo ich ein „zu Hause – Gefühl“ habe heute „der Rhein“ ist.
Und ich glaube einen Menschen mit dem ich so tief emotional verbunden bin, werde ich nie wieder finden. Aber ich durfte dieses Geschenk ein paar Jahre haben und ich trage es für immer in meinem Herzen.

Du hast mein Leben und mich geprägt.
Und ich wünschte, ich hätte mehr Gelegenheit gehabt, Dir mehr zurück zu geben.

Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen