Reisetagebuch #5 Viele Gedanken

Eigentlich gibt es nichts Schöneres, als morgens erstmal auszuschlafen und sich dann mit einem Kaffee auf den Wintergarten zu pflanzen. Da ist der Tag schon mal halb gerettet.

Heute musste die Wäsche gewaschen werden, die Taschen mussten für die Abreise morgen umgepackt werden, der Vortrag ist endlich mal fertig, aber auswendig lernen muss ich ihn noch, bevor ich ihn halten muss und am 13.06 ist dieser Stress dann auch mal endlich vorbei. Daneben war ich noch in der Stadt (das Haarspray war leer – großer Notfall ;) ) und habe einen kleinen Spaziergang gemacht.
Und das mit dem Kissen – ich weiß nicht. Das Einfachste wäre, meine Mama schickt mir mein geliebtes Kissen mit der Post, aber das wird sie nicht machen. Das neue Kissen ist zu dick, ich hatte heute Morgen echt Rückenschmerzen. Mal sehen, wie die Nacht heute wird.

Daneben habe ich doch mal einen Blick in die Fragebögen der Klinik geschmissen. Und das hat mich dann sehr nachdenklich gemacht. Hätte man die mir letztes Jahr in die Hand gedrückt, hätte ich die wahrscheinlich vollkommen anders ausgefüllt. Aber ich habe mir die Tage schon mal irgendwann überlegt, dass es mir eigentlich ungefähr genauso schlecht geht, wie vor der Klinik. Und je öfter man nach irgendeinem Klinikaufenthalt irgendwann wieder an diesem Punkt ankommt, desto mehr stellt man irgendwann den Sinn in Frage. Es ist so, als wäre ein Klinikaufenthalt jedes Mal eine seit Monaten oder Jahren überfällige Pause vom Leben, in dem alles irgendwie zu schwer geworden ist. Nicht, weil das Leben an sich grundsätzlich zu schwer ist, sondern weil ich seit meiner Jugend auf den falschen Pfaden unterwegs bin. Und ich versuche mir das immer irgendwie schön zu reden, aber je länger dieser Weg wird, desto mehr wird mir klar, dass ich da eher so drauf gestellt wurde, als dass ich diese Abzweigung bewusst gewählt habe. Und je länger das so geht, desto schwerer wird es auch umzukehren und woanders entlang zu gehen. Gerade, wenn man dazu noch so ein sicherheitsliebender Mensch ist und jede Querverbindung durch das Dickicht zu viel Angst macht.

Und immer wieder zu spüren, dass man mit seiner Andersartigkeit auch überall aneckt und das Leben so wie ich es mir wünsche scheinbar gar nicht möglich ist, macht es nicht besser. Ich glaube, ich scheine mich einigermaßen sicher im Außen zu bewegen. Wenn ich nicht gerade so reizbar bin wie in den letzten Wochen, werde ich als Kollegin scheinbar geschätzt. Mein Psychiater hätte mir das am Anfang niemals zugetraut, aber ich bin ein gesellschaftsfähiger Mensch geworden, über den sich niemand mehr groß wundert.
Aber wenn man mich genauer kennen lernt – dann scheint es doch nicht zu passen. Beziehungen zu halten, scheint ein großes Problem zu sein. Zumindest partnerschaftliche Beziehungen – und das ist hinsichtlich meiner Lebensziele ein essentielles Problem. 

Mit dem Hund einer Freundin auf ihrem Balkon in der Studienstadt. Manchmal hätte ich beim Denken auf den Sofa gern eine fellige Begleitung, aber ich weiß, ich kann mit diesem Job keinem Tier gerecht werden.


Ich glaube, ich habe mich selten so verloren gefühlt. Mit allem.
Wenn ich in den Spiegel schaue, dann habe ich keine Ahnung mehr, wer ich bin. Dann ist das so, als stünde ich immer ein paar Zentimeter neben mir, aber hätte keine Verbindung zu mir. Ich vergesse so Vieles, ich habe den Kopf überall, nur nicht im Jetzt. (Das Kissen ist nicht der einzige vergessene Gegenstand).

Alle Sicherheiten, die es gab, lösen sich irgendwie in Luft auf. Ich war mal irgendwie eingebunden in einem System, aber nach allem was in den letzten Monaten passiert ist, bin ich still geworden. Weil ich die Menschen schon davor überfordert habe und mit den neuen Problemen erst recht – ich glaube zuletzt den Oberarzt und seine Frau, die potentielle Bezugsperson war schon davor nicht mehr da und für die Therapeutin in der Studienstadt ist das eben einfach zu viel innerhalb von 50 Minuten nach einem halben Jahr. Ich glaube es ginge mir ihr, aber nur mit regelmäßigen Stunden.
Es ist so ein Gefühl des kompletten Alleinseins. Ich balanciere alleine durch diesen Sommer und versuche mich zu halten, denn wenn ich falle, weiß ich nicht wohin.

Das mit den Beziehungen – vielleicht überfordert mich das nach einem Jahr schon so sehr, dass ich eben theoretischerweise für den Seelenfrieden gar keine Beziehung haben sollte. Ich glaube der ehemalige Freund war die erste Beziehung im Sinn einer Beziehung. Davor hat mir hauptsächlich eine Familie gefehlt und die fehlt mir noch immer. Wahrscheinlich war der verstorbene Freund nicht umsonst knapp 20 Jahre älter, was ich mich kaum getraut habe, irgendwo zu erzählen. Und wo immer ich scheinbar intakte Familien wahrgenommen habe, hatte ich immer das Bedürfnis, mich einfach dazu zu gesellen. Als könnte das irgendetwas in mir drin heilen. Passiert ist das nie – das Ganze war immer mit Verlusterfahrungen verknüpft. Diese größte Angst in dieser Geschichte ist immer wahr geworden. Es gab nie einen Ort, an dem eine Mondkind länger bleiben konnte.

Mit dem ehemaligen Freund war das irgendwie anders. Er war der erste Mensch, den ich geliebt habe, der einen zu vernachlässigenden Altersunterschied zu mir hatte. Ich musste alles neu lernen, ohne dass er es merkt. Er war am Anfang oft irritiert – immerhin hatte ich ja schon eine Beziehung, aber eben nicht so eine, wie mit ihm. Und ich wollte ihm das nicht erzählen, weil ich befrüchtet habe, dass er sicher nicht mit Jemandem zusammen bleiben möchte, der überhaupt keine Ahnung hat. Aber ich war so schlecht im Improvisieren, dass ich das nicht verbergen konnte und das von Anfang an zu Spannungen geführt hat. Bisher war ich im Improvisieren nie so schlecht gewesen - ich musste das so oft im Leben tun, wenn ich von den selbstverständlichsten Dingen mal wieder keine Ahnung hatte - hätte ich geahnt, dass das meine Kompetenzen bei Weitem übersteigt, hätte ich wahrscheinlich aus dieser Liebe nie eine Beziehung machen wollen. Das erste Mal in meinem Leben wollte ich mich nicht in irgendeine bestehende Familie integrieren, sozusagen das Kind sein, sondern selbst eine gründen. Es war, als sei ich aufgrund des Alters und aufgrund aller negativen Erfahrungen mit dieser Idee aus diesem Konzept hinaus gewachsen und hätte erkannt, dass eine eigene Familie zu gründen in meinem Alter und auf meinem intellektuellen Stand die einzige sinnvolle Option ist.
Und dann war diese Liebe auch anders. Ich wollte nicht, dass er mich als schutzbedürftige Person wahrnimmt - so wie das bisher oft war. Sondern als Frau. Die vielleicht so ihre Sorgen hat, immerhin haben wir uns in einem Zusammenhang kennen gelernt, in dem ich schon ein bisschen schutzbefohlen war, aber ich wollte aus dieser Rolle raus – wenngleich ich weiterhin mit ihm darüber reden wollte, was mich bewegt - so wie man das in meinem Verständnis in jeder Beziehung tut.

Ich lese im Moment viel über Beziehungen und je mehr ich lese, desto mehr stelle ich fest, dass ich eigentlich keine Ahnung habe. Mich selbst treibt mein Gefühl an, das mich irgendwie weiterhin zu diesem Mann hinzieht. Und es nervt mich, dass ich Urlaub habe, dass ich so viel Zeit habe und wir uns nicht sehen können. Ich stelle mir das immer noch schön vor, wie wir abends zusammen am Strand gesessen hätten, vielleicht nach einem heißen Tag mit irgendeinem kalten Getränk, wie wir uns geküsst hätten und dabei nicht nur den anderen, sondern auch das Salz in der Luft geschmeckt hätten. Ich überlege mir, wie lang wohl unsere Nächte in den Bungalows geworden wären und wie müde wir wohl morgens beim Frühstück gesessen hätten, um danach ein bisschen zu trommeln, um vielleicht all die Aggression, die aktuell ohnehin in mir steckt, ein bisschen raus zu trommeln.
Aber je mehr ich über Beziehungen lese, desto mehr habe ich das Gefühl, dass das Beziehungsmodell, das ich die letzten 20 Jahre in meinem Kopf hatte, vermutlich total überholt ist. Ich hatte keine wilden Teenie – Jahre. In meiner Vorstellung hat Beziehung immer etwas mit Monogamie und Exklusivität zu tun, mit tiefen Vertrauen und dem Versprechen an den anderen, fortan die Fußspuren in der Nähe des anderen zu setzen. Aber das scheint nicht das heutige Verständnis von Beziehung zu sein. Ich lese da so viel über offene Beziehungen, in denen der wichtigste Wert die Ehrlichkeit ist. So nach dem Motto: Jeder darf sich auch abseits der Beziehung vergnügen – einzige Voraussetzung ist, dass man dem anderen davon berichtet.
Es ist mir nur weiterhin völlig schleierhaft, wie man in ein solch fragiles Modell eine Familie hinein gründen möchte.
Und vielleicht muss ich mich einfach mit diesem Modell arrangieren. Ich weiß es nicht. Obwohl ich es mir weiterhin anders wünschen würde. Aber eine Beziehung mit Abstrichen ist vielleicht immer noch besser, als gar keine Beziehung. Oder?

Was meine Fahrt in die Geburtsstadt angeht, habe ich heute oft geweint. Was vor ein paar Wochen noch eine gute Idee zu sein schien, kommt mir jetzt vollkommen falsch vor. De facto möchte ich einfach gar keinen neuen Mann kennen lernen. So sehr, wie ich mich auch nach einer Beziehung sehne, so sehr, wie das meine Lebensqualität auch verbessert hat, aber nicht um jeden Preis. Und aktuell möchte ich niemand anderen so nah an meine Seele und meinen Körper lassen. Vielleicht – das sehe ich ein – hat das auch etwas mit Angst zu tun. Weil es eben wirklich zu doll weh getan hat. Weil es eine Fernbeziehung wäre und die Wahrscheinlichkeit, dass das länger klappt, noch geringer ist. Weil der ehemalige Freund auch noch lange nicht aus meinem Dunstkreis verschwunden ist. Er ist der erste Gedanke, wenn ich aufwache und der Letzte, wenn ich schlafen gehe. Das sage ich ihm nur nicht .

Eigentlich ist ein Teil in mir sehr ungeduldig auf das nächste Wochenende, obwohl das sehr arbeitsintensiv wird und ich nach einer viel zu kurzen Nacht in den darauf folgenden Montag starten werde. Aber da ist der Freund wieder da und ich bin auch da – das heißt, wenn wir beide Zeit hätten, dann könnten wir uns sehen. Es sind diese „Zufallstreffen“, nicht mal 24 Stunden lang. Mit so einem dienstgeladenen Job muss man eigentlich gut planen - das geht halt aktuell überhaupt nicht. Es macht mich so traurig, dass das alles ist, was geblieben ist, diese Inseln, die immer kleiner werden, während die See dazwischen immer unruhiger wird. Dann geht er wenige Tage arbeiten und dann hat er – wenn ich das richtig verstanden habe – nochmal drei Wochen Urlaub, die er hauptsächlich nicht hier verbringt.
Und natürlich – wenn die besten Momente mit ihm sind – dann wird das Leben, trotz der guten Augenblicke dazwischen, zu einer Art Warteschleife. Das war es letztes Jahr auch, aber weniger schlimm, weil wir uns sicher waren uns jedes Wochenende zu haben. Und weil wir wussten, dass irgendwann der Urlaub kommt, in dem mal nicht jeder irgendwie auf dem Sprung ist, sondern wir uns mal ganz haben.
Vermutlich wird das halt nie wieder so werden.

Mein Hirn ist wirklich durcheinander und sehr voll von Schmerz.
Ich hoffe, dass das irgendwann nochmal besser wird.
Ich glaube, all die Fragen, die ich jetzt habe, hätte man wohl schon vor Jahren haben und stellen können. Jetzt wirkt das wahrscheinlich seltsam deplatziert.
Ich wusste nie so wenig, ob ich das Leben nochmal in den Griff kriege. Aber es wird auch mit jedem Fall mehr okay, wenn der Halt nicht zurück kommt. Als hätte man immer im Kern gewusst, dass das zu viel Defizit für ein normales Leben ist. Und während die Kliniken eine Alltagstauglichkeit herstellen oder erhalten konnten, konnten sie für so Vieles auch keine Fläche bieten, weil das bis letztes Jahr in meiner Wahrnehmung eben nicht mal existierte.

Mondkind


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