Reisetagebuch #4 Pause

Lange waren die Erinnerungen in an die Studienstadt ausschließlich wie graue Schatten, die an den Hauswänden hingen. Es war zu schwer in den guten Zeiten von Damals noch das Leuchten zu sehen. Mittlerweile spüre ich, wie es langsam zurück kommt.
Wie die Erinnerungen von damals tragen. Auch, wenn es weiterhin schwer ist, mich vermehrt dorthin zu konzentrieren.

Ich lieb’s wieder in den Cafés herum zu sitzen, den Puls der Stadt zu fühlen, die Schnelligkeit, die Anonymität, die manchmal so gebraucht ist. Ich mag’s mich zu erinnern, wie das Leben hier angefangen hat, in den Straßen von rund um das Klinikgelände, 2017. Wie ein Team aus Ärzten, Therapeuten und der Pflege langsam die Zwänge und die Ängste eingestampft hat und die daraus entstandene Depression zurück gedrängt hat. Wie die Einkaufstraße unweit der Klinik zum Übungsplatz geworden ist. Ich erinnere mich, wie ich das erste Mal im Supermarkt stand, ohne innerlich zu explodieren, weil ich doch an den Schreibtisch gehörte und gefälligst nirgendwo anders hin, wie ich das erste Mal halbwegs ruhig in einer Eisdiele saß. Wie der verstorbene Freund und ich sich nochmal neu kennen gelernt haben, wie wir in den ersten warmen Sommerabenden des Jahres Rücken an Rücken auf dem Klinikgelände saßen, den anderen beim Atmen gespürt haben und diese Beziehung mich mal nicht mehr nur gestresst hat, weil man Herz etwas haben wollte, das mein Kopf nicht erlauben konnte. Innerhalb von knapp vier Monaten konnte ich lernen, dass mein Wert sich nicht daran misst, ob ich am Tag mindestens 12 Stunden mit Lernen verbringe oder nicht.
Und der restliche Sommer nach der Klinik war bis der ehemalige Freund kam kam der Beste meines Lebens.
Fast jede Ecke der Stadt trägt heute eine Erinnerung nicht nur an meine Begleitung, sondern auch an mich, an ein bisschen Unbeschwertheit, Lebensfreude, an den Versuch mich zu finden.


Mein absoluter Lieblingsort 💛



Heute fahre ich zurück nach Hause, in den Ort in der Ferne.
Ich brauche zwischendurch mal einen Tag Ruhe, hatte ich befunden. Das erweist sich auch als goldrichtig, denn als mir meine Mama am Frühstückstisch wieder das Ohr darüber abkaut, wie inkompetent Ärzte sind und das Krankenhäuser grundsätzlich sehr schlechte Einrichtungen sind, reißt mir bald die Hutschnur. Wenn es wenigstens Sinn machen würde, was sie in Eigenregie mit ihren Medikamenten treibt.
Darüber hinaus hatte ich eigentlich gehofft, dass der Intensiv – Oberarzt und ich sich dieses Wochenende mal austauschen können – da haben wir beide Zeit, aber das sieht nicht danach aus; er hat die Mail nämlich überlesen.

Gerade als ich das Auto nach einer etwas nervenaufreibenden Fahrt zu Beginn eines langen Wochenendes parke, fällt mir wie Schuppen von den Augen, dass ich mein Kissen bei meiner Mama vergessen habe. Wie konnte das denn passieren? Ich habe doch noch meinen mp3 – Player vom Bett genommen; wie konnte ich nicht bemerken, dass ich auch das Kissen mitnehmen muss?
Also bleibt mir nichts anderes übrig, als erstmal ein Kissen zu kaufen. Ich habe nur ein Gutes und schlafe bekanntlich sowieso super schlecht – wenn ich mich die ganze Nacht über das Kissen ärgern muss, wird das sicher nicht besser.
„Du bist schon ein bisschen sehr verpeilt unterwegs“, kommentiert eine Freundin, der ich das erstmal erzählen muss – kurz bevor ich genauso viel Reis wie Wasser in meinem Kochtopf kippe, obwohl es nur halb so viel Reis wie Wasser hätte sein sollen. Aber das ist wenigstens einfach zu korrigieren und den Rest friere ich dann eben ein.

Ich weiß es nicht. Sehr viel besser ist mein Gemütszustand immer noch nicht, aber Urlaub hilft da bekanntlich auch wenig – auch wenn die letzten Tage zumindest besser waren und auch so einige gute Momente hatten, die man in meinem Alltag aktuell vergebens sucht.
Passend dazu habe ich bei der Ankunft hier auch einen Brief aus dem Briefkasten gefischt, der von der Psychosomatik ist, in der ich stationär war. Die wollen eine Nachbefragung zum Gemütszustand machen. Vielleicht soll ich den besser nicht ausfüllen – das ruiniert noch deren Statistik.

***
Ich mache mir indes weiter Gedanken um den ehemaligen Freund.
In Dauerschleife.
Heute auf der Fahrt habe ich mir Gedanken gemacht über die Parallelität von Beziehungen. Zu meiner Mama zu fahren, ist nämlich nicht nur ein Pflichtbesuch und anstrengend, sondern auch sehr lehrreich. Ich glaube, es braucht viel Abstand – sowohl räumlich als auch emotional um zu verstehen, was da eigentlich los ist. Weil sie das natürlich auch selbst nicht sieht, weil man sie damit auch nicht konfrontieren darf, ohne dass sie es abstreitet und einen womöglich noch als den undankbaren Idioten dastehen lässt.
Aber viel in dieser Beziehung hat sich um sie und ihre Bedürfnisse gedreht. Sie hat uns für ihr Glück verantwortlich gemacht. Und das konnte sie nur haben, wenn sie fleißige Kinder mit den besten Schulnoten hatte, die sonntags über den Gartenzaun kommuniziert werden konnten. Sie wollte mal Medizin studieren und konnte das nicht. Also hat sie versucht sich in meiner Schwester und mir zu verwirklichen und hat uns mit allen Mitteln in dieses Studium gedrängt. Und oh wie naiv war ich mit 18, dass ich doch wirklich geglaubt habe, mit allem anderen könnte ich nur unglücklich werden. Eigentlich war sie hochmanipulativ und hat uns viel mit emotionaler Erpressung eingefangen. Und wir Kinder hingen an ihr, obwohl es da nie viel Empathie gab. Und ich das auch nicht mochte, sie in irgendeiner Weise zu fühlen. Ich wollte nie von ihr in den Arm genommen werden und habe das meistens still ertragen. Dass Umarmungen schön sein können, habe ich erst viel später begriffen.

Ich habe mir mal überlegt, wie das mit dem ehemaligen Freund so läuft. Es gibt gewisse Parallelen und dazu ist mir eingefallen, dass mal jemand sagte, dass Menschen immer Beziehungsmuster suchen, die sie schon kennen.
Er macht das schon anders, ich will ihm da einfach mal nicht so viel Kalkül unterstellen – aber in der Summe ist es auch so, dass ich in dieser Beziehung absolut nichts zu sagen habe. Wenn ich mir „zu viel“ wünsche, dann zieht er sich einfach zurück. Redet entweder überhaupt nicht mit mir oder an mir vorbei. Oder er macht eben einfach nichts. Ich kann mir 1000 Mal wünschen, dass er mich am Wochenende auch mal besucht – gerade wenn ich noch einen Tag Dienst habe am Wochenende und das alles ohnehin schon etwas stressig ist – wenn er keine Lust darauf hat, dann macht er das einfach nicht. Dann meint er, dass wir uns dann eben gar nicht sehen und meistens fahre ich dann doch. Wenn das mit der Sexualität nicht läuft, dann trennen wir uns halt (und das war so ziemlich das Einzige, dass ich trotz allen Bemühens nichts ausreichend hinbekommen habe). Wenn er meint, dass die Zeit morgens reicht, dann stehen wir keine Minute eher auf. Und egal wie oft ich versucht habe das anzusprechen – am Ende war ich immer die Schuldige der Eskalation.
Es bleibt also nur: Unterordnen. Alles so wie er das gern hätte, weil sonst die Zumutung zu groß ist und er nicht bleiben kann. Und dummerweise muss man in dem Fall – anders als aktuell bei meiner Mama, weshalb mich das nervt, aber nicht in großem Ausmaß stört – sagen: Ich bekomme eben auch etwas dafür. Er muss mich ein Mal in den Arm nehmen und küssen und alle Antennen in mir sind auf Hochleistungsempfang, es kribbelt von den Haarspitzen bis zur Fußsohle, es scheint, als hätte mein Herz mal kurz Flügel bekommen und als würden Schmetterlingsflügel von Innen gegen meine Bauchdecke schlagen. Dieses Gefühl mit ihm hatte ich noch nicht annähernd mit irgendwem anders und es ist weder durch irgendetwas anderes ersetzbar noch durch irgendetwas anderes auslösbar.

Ich weiß aktuell noch nicht, wie ich das gewichte. Ob ich sage für das, was ich für das bekomme, das ich geben muss, lohnt es sich. Diese alten Beziehungsmuster zu leben. Zu wissen, dass jede Diskussion aktuell absolut zwecklos ist. Und zu ahnen, dass er sich in diesem Leben auch nicht mehr darauf einlassen wird, weil er glaube ich auch kein Bewusstsein dafür hat. Irgendwo ist da glaube ich auch ein „ich bin Psychologe und ich bin absolut selbstreflektiert und Du warst immerhin Patientin, deshalb interessiert mich das überhaupt nicht, was Du da erzählst, weil das nicht stimmig sein kann – auch wenn es Deine Wahrnehmung ist“, dahinter.

Es hat so einige zwischenmenschliche Beziehungen gegeben, an denen ich sehr hing. Auch lange, nachdem es klar war, dass ich dort keinen Platz mehr hatte. Und irgendwann, manchmal sehr viel später, hat meine Seele das plötzlich auch begriffen. Während ich mir vorgestern noch nicht vorstellen konnte, dass der Mensch keine Rolle mehr in meinem Leben spielt, war das dann plötzlich okay so.
Und manchmal wünsche ich mir, das würde mir mit dem ehemaligen Freund auch passieren. Weil ich einfach nicht weiß, ob es mir gut tut weiterhin in diesen destruktiven Beziehungsmustern zu leben. Ich würde mir eine Beziehung auf Augenhöhe wünschen, in der ich nicht ständig „auf der Hut“ sein muss.  
Obwohl es so schnell sicher nicht geht. Aktuell vermisse ich ihn sehr. Er ist in Italien – eigentlich hätten wir dort zusammen sein sollen. Und während ich mich mehrfach am Tag frage, was er wohl gerade so macht, denkt er nicht viel über uns nach, wie er letztens sagte und stellt sich die Frage sicherlich nicht mal ein Mal täglich. Dafür spricht auch, dass er sich von selbst halt überhaupt nicht meldet. Ich weiß bisher nicht mal, ob er überhaupt gut angekommen ist – immerhin sind es knapp 1000 Kilometer - aber meistens ist es ja doch so, dass man hört, wenn die Menschen irgendwo gestrandet sind.

Morgen wartet mal wieder der Vortrag auf mich – auch wenn ich dazu nicht sehr viel Lust habe.
Aber er muss langsam mal fertig werden. Auch wenn die Kollegen meinen, dass doch gar nicht mehr so viel ausstehen kann. Aber mein Perfektionismus und ich… sind nicht so beste Freunde.
Übermorgen geht es dann weiter in Richtung Geburtsstadt. Auch, wenn ich auf Autofahren aktuell gar keine Lust mehr habe. Möhrchen und ich haben jetzt 1000 Kilometer geschrubbt; das reicht eigentlich.


Mondkind


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