Sonntagsgedanken

Sonntagmorgen.
Die Fenster sind alle geöffnet, es riecht nach dem Regen aus der Nacht und dem Frühling.
Ich sitze an meinem Tisch, trinke Kaffee aus meiner Lieblingstasse und versuche die letzten Tage ein bisschen zu sortieren.
Es geht mir minimal besser. Stabil schlecht, sagen wir so. Aber wahrscheinlich auch nur deshalb, weil ich dieses Wochenende zum Glück frei habe und auch alle To Do’s von der Liste gestrichen habe - außer Einkaufen und Haushalt. Wenn ich an nächste Woche denke, spüre ich da schon wieder ein Grummeln. Ich glaube, ich bin noch nicht durch damit. Und nächste Woche ist weiterhin niemand da.

Verrückt, was hier los war.
Zwei Nächte hintereinander stand ich mehrfach vor diesem Schrank.
Und wusste nicht, ob ich in zwei Stunden noch lebe.
In der Situation hat es mir keine Angst mehr gemacht. Die einzige Sorge war, dass das nicht gut genug durchgeplant ist und ich das doch überlebe. Und über die Menschen, die bleiben, habe ich mich gesorgt. Um den Intensiv – Oberarzt, der sich vielleicht doch Vorwürfe machen würde. Um seine Frau, der die letzte Stunde glaube ich nicht ganz koscher war.
Retrospektiv ist das schon beängstigend.

„So im Nachhinein frage ich mich schon, ob ich nicht mal hätte mein Hirn einschalten können“, erkläre ich dem ehemaligen Freund, den ich gestern Abend in der Leitung habe. „Aber in der Situation hat man echt nur noch diesen Tunnelblick und dann denkt man nicht mal darüber nach, ob man jetzt noch irgendwen anrufen könnte. Das ist wie so ein Überfall von hinten. Da schlägt einfach von hinten jemand die Klauen in den Körper.“

Er hatte mir vorher geschrieben, dass er heute sein Fahrrad flott machen möchte und ich habe frech nachgefragt, ob wir wohl je wieder gemeinsam durch die Felder fahren werden.
Und irgendwann war ihm die Konversation über whatsApp zu blöd und er hat einfach durchgeklingelt.
Die Quintessenz ist, wir werden es sehr wahrscheinlich nicht tun. Dabei finde ich das nun wirklich nicht schlimm. Man muss kein Paar sein, um gemeinsam Rad zu fahren. Aber ich soll ihn nicht versuchen zu überzeugen, wenn er nicht will – das muss ich mir auch immer wieder sagen.

Und dennoch schmeißt mich diese Diskussion über die Radtouren in längst vergangene Zeiten. Es gibt drei Situationen, die ich noch lebendig vor Augen habe. Wie so ein Film – nicht aus meiner Sicht, sondern aus irgendeiner Vogelperspektive über uns drüber.
Einmal waren wir schon hinter dem Flugplatz, sind an einer schmalen Straße entlang gefahren, auf der kaum Autos fahren. Ich schräg hinter ihm. Und ich weiß, dass es so Situationen immer wieder gab, aber an die kann ich mich genau erinnern. An diese immer wieder aufploppende Frage: „Wann und wie ist dieses Wunder in mein Leben gefallen?“. Ich hätte ihm manchmal den ganzen Tag nur zuschauen können. Mein Lieblingssong war „Wunderfinder“ zu der Zeit und ich hatte mein Wunder gefunden. Und war so oft dankbar, dass ich nie aufgegeben hatte.
Die zweite sehr schöne Erinnerung ist, als wir mal mit dem Rad in einen Kurpark von der Nachbarstadt gefahren sind. Ich glaube, das war sogar vor einem Nachtdienst. Ich hatte mich dann öfter mal dazu hinreißen lassen, die Sonntagnächte zu machen, obwohl ich die eigentlich sehr hasse, weil man Montag gefühlt der Tod auf Latschen ist und noch den ganzen Tag arbeiten muss. Aber das zählt halt offiziell als Wochenenddienst und man hat aber im Prinzip fast ein ganzes Wochenende zur freien Verfügung. Wir haben Pause gemacht, dort in diesem Kurpark, saßen auf zwei Stühlen, die Füßchen hoch gelegt und haben Kirschen gegessen.
Und dann gab es da noch eine Tour. Die Tour an sich war gar nicht so schön, weil wir über unendlich viel Schotter gefahren sind, mir ständig das Hinterrad weg gerutscht ist und ich so Angst hatte, mich mit seinem Fahrrad auf die Nase zu legen und es vielleicht kaputt zu machen. Aber das Ziel war ein Feines. Eine Lichtung am Fluss, von der aus ein paar Steine ins Wasser geführt haben. Und dann standen wir da. Er hat mich in den Arm genommen, auf diesen Steinen, irgendwo stand noch ein Angler, sonst waren wir alleine. Und dann haben wir uns geküsst, dort im Fluss. Hinterher hat er mir eine Träne von den Augen weg gewischt. „Warum weinst Du Mondkind?“, hat er gefragt. „Manchmal ist es einfach nur schön“, habe ich entgegnet.
All das ist lange her und kommt wahrscheinlich nie wieder zurück, so sehr wie ich das auch manchmal hoffe. Und ich kann mich erinnern, da war so eine Angst, als wir letztes Jahr die Räder in den Keller gebracht haben und klar war, dass wir sie nicht mehr hoch holen würden bis zum nächsten Frühling. Da war die Angst, dass diese Momente für den Rest des Lebens reichen müssen. 


Das war der Ausflug in den Kurpark der Nachbarstadt



Ich denk in den letzten Tagen oft über diese Idee von „Beziehung ohne Bindung“ nach.
Der Schmerz wird nicht weniger.
Auch nach bald sechs Monaten nicht.
Wir sehen uns seltener, wissen nie, wann es das letzte Mal ist, tauschen keine Gegenstände mehr aus, die wir vielleicht nie zurück bringen können, aber wir sehen uns. Wir schreiben uns. Wir hören uns.
Es hat nicht einen Tag gegeben seit der Trennung, an dem ich nicht an ihn gedacht habe. An dem ich das Gefühl hatte, es wird okay und ich werde okay damit sein, wieder alleine zu sein.

Und manchmal denke ich, wir wissen doch sowieso nie, was morgen ist.
Ist nicht „Beziehung mit Bindung“ der Versuch Garantien zu generieren, wo nie welche sein werden? Habe ich das nicht selbst erlebt, dass man glaubt es gibt etwas wie Zukunft, bis man plötzlich den Boden unter den Füßen verliert?
Es ist schon klar, dass mit einer „Beziehung ohne Bindung“ keine Familie entstehen kann; das würde ich meinem Kind nicht antun wollen. Aber so lange es nur zwei erwachsene Menschen sind, die nur für sich selbst verantwortlich sind?
Ich denke darüber nach, weil das Leben so unendlich schwer ist und ich frag mich, ob’s nicht ein bisschen leichter werden würde, wenn man neben all den schwierigen Dingen, die eben ohnehin geblieben sind, nicht ein paar gute Momente etablieren könnte. Und die sich nicht verbietet, weil eben eine „Beziehung ohne Bindung“ grundsätzlich mal nicht meiner Vorstellung von Beziehung entspricht.

Und gleichzeitig denke ich mir, es ist auch schwer, wenn wir uns sehen. Ich spüre da immer noch so viel Anziehung und während er früher überhaupt nicht die Finger von mir lassen konnte, hört er heute nach 90 % auf. Es gibt noch ein „wir stupsen uns gegenseitig an die Nase“ und alles in mir wartet auf den Kuss danach, der nicht mehr stattfindet. Wir liegen auf seinem Sofa hintereinander, ich in seinen Armen, aber seine Hand verirrt sich nicht mehr unter mein Shirt.
Und manchmal macht mich das wahnsinnig, weil ich mich so sehr danach sehne und ich manchmal am liebsten sagen würde: „Jetzt mach doch einfach mal, wir sind uns nicht so fremd, wie wir gerade tun.“

Diese freien Wochenenden sind – so sehr wie sie gerade gebraucht sind, um zumindest mal kurz aus dem Zustand der ständigen Überreizung heraus zu kommen – immer noch schwer. Es fühlt sich an, wie Zeitverschwendung. Wir könnten das Gold zwischen den Arbeitswochen genießen, wir leben und atmen beide doch, aber es geht eben nicht mehr. Ein Teil von mir wird das nie verstehen.

Ich bin mal gespannt.
Nächste Woche kommt der sehr geschätzte Herr Psychiater aus dem Urlaub zurück. Ob er sich meldet. Das große Problem ist immer, erstmal in seinem Dunstkreis aufzutauchen. Wenn das geschafft ist, läuft es meistens. Dann gibt er sich meistens Mühe, bietet dann sogar oft an, sich in eins, zwei Wochen nochmal zu melden und Rückmeldung darüber zu geben, ob die Vorschläge umgesetzt wurden und es eine kleine Besserung gibt.
Obwohl ein kleiner Teil in mir sich schon fragt, ob das alles noch Sinn hat. Ob die Karre wirklich noch aus dem Dreck zu ziehen ist. Es geht ja nicht nur darum, einen Freund zu haben. Es geht um die Lebensziele einer Mondkind. Ich glaube schon, dass das mit dem Verlieben nicht so einfach ist, wie die Frau des Oberarztes sagte (die Stunde von Donnerstag stresst mich weiterhin). Man läuft im Alltag so vielen Menschen über den Weg, ich kenne so viele Ärzte und Pfleger aus dem Krankenhaus mit denen ich so oft nachts rum sitze und ein bisschen quatsche, solange wir auf den nächsten angemeldeten Patienten warten. Und obwohl die Meisten eben jung sind und vielleicht auch nicht schlecht aussehen, obwohl man mit dem ein oder anderen schonmal einen blöden Scherz macht – aber dieses Gefühl im Bauch hatte ich bisher erst bei zwei Menschen. Das kann man nicht erzwingen. Das kommt eben. Oder auch nicht.

Ich glaube, ich kann in diesen Tagen den verstorbenen Freund sehr gut verstehen. Der irgendwann mal zu mir sagte: „Mondkind, ich hab nicht mehr so viele Chancen. Wenn das mit Dir nicht klappt, werde ich allein bleiben.“ Mit meinen Mittzwanzigern habe ich damals nicht geschnallt, was er mir sagen wollte. Heute glaube ich, sein Tod hatte vielleicht mehr mit diesem Satz zu tun, als ich bislang geglaubt habe. Vielleicht konnte ich ihm da über die Entfernung, in der wir zu der Zeit gelebt haben, nicht genug Sicherheit geben.
Und vielleicht wird mein Tod auch ne Menge damit zu tun haben. Es ging nie um das Studium, um das Geld, um den Facharzt in Regelzeit. Es ging um Zwischenmenschlichkeit, zu Hause, Bindung und Familie. Um zwischenmenschliche Bedürfnisse, die alleine nicht erfüllt werden können. Und scheinbar kann ich eben keine Beziehungen führen. Es wäre schon naiv zu glauben, dass der Tod des Freundes nichts mit mir zu tun hat. Und auch den wichtigsten Menschen des letzten Jahres konnte ich nicht überzeugen zu bleiben. Obwohl ich die Welt für ihn bewegen würde. Bis heute.

Und ich frag mich oft, wo wir – und ich – jetzt wären, wenn es noch ein Wir gäbe. Ich überlege mir manchmal, wie ich mich heute fühlen würde, wenn ich wüsste, dass wir in zwei Wochen zwei Wochen in den Urlaub fahren. Dass wir in Italien am Meer stehen werden, Trommeln werden, uns 14 Tage ganz haben, ohne uns nach knapp 24 Stunden wieder verabschieden zu müssen. Wie wir dieses Abenteuer packen würden, mit Möhrchen bis in die Toskana zu fahren. Ich mochte unsere Reisen, auch wenn es nur wenige davon gab.
Ich stell mir manchmal vor, vielleicht hätte es sich wie „Landen“ angefühlt. Wie ein Schließen von Kreisen. Bevor diese Familie auseinander gebrochen ist – erst am Leistungsdruck und später dann ganz physisch – sind wir jedes Jahr im Sommer mit dem Auto nach Italien gefahren. Wir waren Kinder und immer super aufgeregt. Diese Italien – Reise war das Highlight es Jahres. Und jetzt hätten wir es selbst tun können. Als Erwachsene. Irgendwie anders und doch noch ein bisschen ähnlich. Und vielleicht hätten wir irgendwann unsere Kinder mitgenommen. Auf der Rückbank. Und als mir dieser Psychiater 2017 erzählt hat, dass eine eigene Familie sehr heilsam sein kann, habe ich das nicht geglaubt, weil ich ja in dieser Familie eine andere Rolle habe und eben dann die Mama bin und nicht mehr das Kind. Heute glaube ich, er hat dennoch Recht. Ich kann mir heute gut vorstellen, ein oder zwei Kinder dabei zu haben und nicht mehr traurig über das Fehlen von dem zu sein, das ich mir so lange gewünscht habe und was diese Familie einfach nicht geben konnte, sondern meine eigene kleine Oase zu kreieren und meinen Kindern hoffentlich einen Start ins Leben zu ermöglichen, von dem sie noch lange sprechen würden. Ich glaube heute, es wäre heilsam zu sehen, wie Kinder eine Familie als Nest erleben können, an dessen Bau ich maßgeblich beteiligt bin.
(Vielleicht ist das auch eine kleine Romantisierung… - just being said, ich weiß es nicht).


Mondkind

Ich bin meiner Schwester so dankbar, dass sie diesen Moment eingefangen hat.


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen