Reisetagebuch #2

22. Mai. Montag.
Manchmal wünschte ich, die Menschen würden nicht vergessen. Und hoffen, dass man sie nicht darauf anspricht, dass sie vergessen. So viel Stille in mir. So viel Lautstärke um mich herum. 22. Mai. Dieses Datum steht auf dem Holzkreuz an dem Ort, an dem der ehemalige Freund beerdigt ist.. Ich bin mir sehr sicher, dass das nicht mal der Tag ist, an dem er gestorben ist. Aber manchmal würde ich mir wünschen die Menschen würden das als Einladung verstehen, von einem „wir“ zu erzählen. Und das nicht vergessen, bis die Nacht diesen Tag endlich ablöst.

„Ich hoffe, Du bist okay, wo immer Du auch bist“, denke ich mir mehrfach an dem Tag.
Während ich mit meiner Mama in der Stadt unterwegs bin. Sie hat einen Rollator dabei, den man bei Bedarf zum Rollstuhl umbauen kann. Nette Idee, aber komplett unpraktisch, weil man mit diesen Mini – Rädern eines Rollators überall hängen bleibt. Keine Ahnung, wie viele Leute an diesem Tag einfach mit anpacken und die Vorderräder über das nächste Hindernis heben, während ich mich bemühe meine Mama nicht aus Versehen auszukippen. Die Hilfsbereitschaft ist gar nicht so gering, wie man denkt. Zumindest an diesem Tag nicht. Ich beschließe aber, dass meine Mama jetzt endlich mal dazu stehen muss, dass sie einen Rollstuhl braucht, oder dass wir alternativ solche Ausflüge nicht mehr machen. Denn eigentlich ist dieser Stress ziemlich unnötig. Ein Rollstuhl hat nicht umsonst zwei große Gummiräder.

23. Mai. Dienstag.
Ich sitze im Wartebereich der Tagesklinik. Es fühlt sich an, als würde ein Mäntelchen von Blei von meinen Schultern rutschen. Hier bin ich sicher. Für einen Augenblick. Mit allem, was da ist.
Im Innenhof der Tagesklinik hat eine Ente ihre Eier ausgebrütet. 13 Entenküken leben dort aktuell. Als Schwimmmöglichkeit hat man ein Planschbecken in den Hof gestellt.
Ich höre das altbekannte Klackern der Schuhe von Frau Therapeutin. Ich laufe hinter ihr her in dieses Büro, das ich kenne. Zuerst mal geht es um den Engpass von Psychiatern. Sie entschuldigt sich nochmal, dass sie mir da auch nicht weiter helfen kann. Dass sie auch nicht weiß, wie wir das lösen sollen. Eigentlich bräuchte es ja nur jemanden, der mal eine sinnvolle Medikamentenkombi vorschlägt, organisieren könnte ich mir das ja selbst. Aber selbst das ist eben aktuell nicht machbar.
Und dann erzähle ich. Davon, dass die Idee „auf die Großen“ zu hören doch gut war. Von dem Joggen, das ich ein paar Wochen regelmäßig gemacht habe, vom Keyboard spielen. Von der bleiernen Müdigkeit, die sich dann ab Mitte März in mein Leben geschlichen hat, von der Dauererschöpfung, von den Schlafstörungen, den Konzentrationsstörugen, von ständigen Kopf und Magenschmerzen. Davon, dass ich mich auf dem Weg hierher kaum aufs Autofahren konzentrieren konnte. Ziemlich depressiv, nennt sie das. Wissen wir ja alle, sagt sie. Ist ja jetzt kein Geheimnis. „Manchmal kommt das zurück. Manchmal auch in guten Zeiten. Und manchmal bleibt man auch in schlechten Zeiten davon verschont." 

 

Enten im Innenhof der Tagesklinik


50 Minuten werden nicht reichen.
Es geht nur am Rande um das Gefühl von Entwurzelung und Heimatlosigkeit. Weil nach Hause fahren zu meinem Elternhaus sich eben nie wie nach Hause kommen anfühlt. Weil der einzige Ort, der sich je ein bisschen nach zu Hause angefühlt hat, eben die Studienstadt war. Und ich trotzdem nicht bleiben konnte.
Es geht viel um diese Beziehung. Zum ehemaligen Freund. Und auch hier ist der Tenor ein Kritischer. „Ich kenne ihn nicht. Ich müsste schon Sie beide hören. Aber offensichtlich ist ja nun mal, dass er keine Bindung möchte. Im Prinzip haben Sie eine Beziehung zu seinen Bedingungen. Es gibt jetzt zwei Versionen davon. Entweder er hat da auch so eine Sorgen mit Bindungsängsten – dann wäre sein Verhalten nachvollziehbar, aber sie müssten, wenn es Ihnen beiden wichtig ist, zusammen oder mit externer Hilfe eine Lösung finden, dass beide in dieser Beziehung bleiben können. Oder er schaut halt tatsächlich sehr viel auf das was er braucht und sieht Sie in Ihren Bedürfnissen überhaupt nicht. Das wäre dann etwas, das nicht lösbar sein wird. Denn ich glaube so wie es jetzt ist, kann es für Sie nicht bleiben. Das wird Ihnen einfach nicht gerecht. Es gibt Beziehungskonstellationen, so wie Sie die aktuell haben öfter. Sie sind da kein Einzelfall. Und das ist hochproblematisch, weil das im Zweifel für Sie sehr schlecht ausgehen kann.“
Ich nicke still. Verstehe, was sie meint. Mein Kopf hat das längst verstanden. Mein Herz noch nicht so. Das weiß nur, dass es weiterhin flattert, wenn er mich in den Arm nimmt. Dass es ihn vermisst. Dass es immer noch hoffen will. Weil es mit ihm auch Perspektive gab. Auf das, was ich mir so sehr wünsche. Nach einer Familie, einer engen emotionalen Bindung, einem Menschen mit dem man gemeinsam Erinnerungen schreiben kann.
„Sie haben sich da in eine Art Ohnmachtsposition gebracht“, sagt Frau Therapeutin. „Wenn Sie jedes Wochenende in Wartestellung sind, dann verplanen Sie Ihre Wochenenden ja auch nicht mehr anders“, sagt sie. Und da hat sie schon irgendwo Recht. Ich weiß, dass er sich nicht nach mir richtet, also richte ich mich nach ihm. „Irgendwo ist das auch gelerntes Bindungsverhalten“, postuliert Frau Therapeutin. Sie hatten ja bei Ihren Eltern auch nie etwas zu melden, das machen Sie jetzt genau so weiter. Vielleicht müssen Sie mal etwas einfordern.“ „Vielleicht, aber er ist eben still“, entgegne ich. Und erzähle, dass er sich zwischendurch fast nie von selbst meldet. Aber still war er immer schon.

Am Ende lösen wir nichts. Aber ich kann bei ihr völligst ehrlich sein. Berichten, dass ich den ehemaligen Freund treffe und es da eben gleichzeitig noch einen anderen Typen der auf mich steht, aber ich umgekehrt auf ihn nicht. Schlecht fühle ich mich deshalb trotzdem. Dass ich mich mit meinem Exfreund treffe, weiß er nämlich nicht. Bei ihr kann es auch mal schonungslos um das Thema Verhütung gehen und dass ich darin Null Vertrauen habe. „Ich schlafe erst seit einem halben Jahr mit einem Typen, ich gebe mir alle Mühe der Welt und ständig zu hören, dass das nicht reicht, ist irgendwie hart“, sage ich. „Eigentlich ist es ein bisschen wie Ihre erste Beziehung. Mit [dem verstorbenen Freund] lief diesbezüglich ja nichts, oder?“, fragt sie. „Nein“, entgegne ich. „Ich verstehe es halt schon. Ich meine, ich bin 30. Natürlich hat kein Mann Bock, dass man erst das Vertrauen entwickeln muss, dass Verhütung auch funktioniert, dass ich nicht jeden Monat die Wände hoch gehen muss. Dass mir erst jemand erklären muss, wie das alles funktioniert, dass ich meinen Körper erstmal kennen lernen muss. Gerade nach der Magersucht habe ich mich abgrundtief gehasst und wollte mich nicht mal anfassen. Das ist ein Quantensprung, den ich im letzten halben Jahr hingelegt habe, aber das sieht er halt nicht. Dass jemand so nah an mich ran darf ist überhaupt schon eine Sache, von der ich nie gedacht hätte, dass ich das mal zulassen könnte, geschweige denn schön finden könnte. Ich meine, wir sind keine 16 mehr, ich sehe das schon. Aber was soll ich denn machen? Und das war halt der Trennungsgrund. Ich meine ja, wir sind verschieden. Ziemlich verschieden. Als es mir gut ging, hätte ich mir schon gewünscht, dass wir mehr unternehmen miteinander. Mittlerweile bin ich ganz dankbar, dass sein Lieblingsplatz das Sofa ist – meiner aktuell nämlich auch.
„Wir hatten eine Winterspaziergang eine Stunde vor der Trennung. Und es klingt noch genau in meinen Ohren: „Wenn das mit der Sexualität für Dich weiterhin ein Problem ist, dann müssen wir uns trennen“. Das hat sich angefühlt, als hätte ich auf ganzer Linie versagt. Und diesmal ging es nicht um eine schlechte Note. Diesmal ging es um den wichtigsten Menschen, den ich zu dem Zeitpunkt hatte.“ „Aber eine wenn – dann – Argumentation draus zu machen, ist auch nicht ganz richtig“, sagt Frau Therapeutin. „Überlegen Sie mal, was das für Sie für ein Druck war. Die meisten Frauen hätten das gar nicht mitgemacht, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Sie waren da zu tolerant mit ihm. An der Stelle hätten mal die Fetzen fliegen können.“

Stunden später bin ich auf dem Weg durch die Stadt.
Gehe an der Arbeitsstelle des verstorbenen Freundes vorbei.
An dem Café, in dem wir uns das erste Mal getroffen haben. Ms MoneyPenny.
Und manchmal wünschte ich, das Leben hätte sich nie drehen müssen.
Letzten Sommer war ich dankbar, dass es das getan hat. Aber vielleicht hätte ich mit weniger Action und dafür mehr Beständigkeit gut leben können. 


Home...💛


Später sitze ich mit einer Freundin am Fluss. Über den der verstorbene Freund und ich so oft geschaut hatten. Wenn mich jemand fragt, was ein „zu – hause – Gefühl“ ist, dann sage ich: Genau hier.
Es ist schön mit der Freundin. Sie erzählt viel von ihrem Leben, von ihren Plänen. Fertig studieren, heiraten – Sie ist schon einige Jahre in einer Beziehung – umziehen, raus der Großstadt, und dann eine Familie gründen. Ich höre mir die Erzählung an mit ganz viel Frieden in mir. Wir haben uns in der Psychiatrie kennen gelernt und es beide irgendwie auf eine gewisse Art geschafft. Ich habe fertig studiert und bin selbstständig geworden, bei ihr hat das mit dem Studium noch einige Umwege genommen, dafür hat sie ihr Beziehungsleben besser auf der Kette. Ich kann mich wirklich aufrichtig für sie freuen. „Ich kann es mir noch gar nicht richtig vorstellen. Du mit Baby auf dem Arm. Aber ich komme Dich dann gern besuchen, wenn Du noch einen Kopf für Besuch hast“, sage ich.
Wir schauen eine Weile über den Fluss und schweigen.

Irgendwann um sieben Uhr bin ich zurück auf dem Heimweg.
Kaufe noch schnell ein und habe zu Hause die super tolle Idee einen Salat zu machen.
Bis ich sehe, dass das Öl bereits neun Jahre alt ist…


Mondkind


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