Fallen

Ich  hätte nicht gedacht, dass das Leben so wie es jetzt ist, so bald wieder Realität wird.
Im letzten Sommer war ich so überzeugt, dass diese Zeiten nicht zurückkommen würden. Dass die für immer – oder zumindest für eine lange Zeit – vorbei sein werden. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, wie man so leben kann. Wochen. Und Monate. Und Jahre. Wie habe ich das gemacht ?!
Obwohl ich es auch kaum begreifen konnte, wie ich im letzten Sommer leben durfte. Als hätte man da irgendeinen Schalter umgelegt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich bevor ich sterbe nochmal so sehr Teil dieser Welt und Teil des Lebens sein werde. Ich habe es mir gewünscht, aber den Glauben daran, dass das nochmal passieren könnte, hatte ich irgendwie verloren.

Samstag
Es ist kurz vor 19 Uhr.
Es war kein anstrengender Tag. Theoretisch. Aber irgendwie doch.
Morgens war ich schon auf wackeligen Füßen durch den Einkaufsladen unterwegs, danach habe ich noch schnell die Wäsche in die Maschine geschmissen und zumindest grob die Küche aufgeräumt.
Und seitdem liege ich auf dem Sofa. Irgendwo zwischen wach sein und schlafen. Ich trage zwei Pullover übereinander, habe meine Bettdecke aufs Sofa geholt und zittere trotzdem wie Espenlaub, weil mir kalt ist. Man könnte denken, ich werde krank. Aber ich werde nicht krank. Das lief so viele Wochenenden zwischen 2020 und Ende 2021 genau so.
Zwischendurch kommt mir in den Kopf, dass ich eigentlich unbedingt noch zum Optiker muss, weil aus der Brille im letzten Dienst eine Schraube raus geflogen ist, die ich eher notdürftig wieder reingeschraubt habe. Und morgen geht es nicht.
Aber es geht nichts mehr. Kein Aufstehen, um die Wäsche aufzuhängen. Nicht, um zwischendurch einen Kaffee zu kochen. Nicht mal Nachrichten lesen am Handy. Gar nichts.
Die potentielle Bezugsperson hat es früher gern als Faulheit bezeichnet und ich habe mir so oft Vorwürfe gemacht. Aber ich glaube, es ist etwas anderes. Es ist so eine tiefe Erschöpfung, die man sich im Normalzustand wahrscheinlich nicht mal vorstellen kann. Ich konnte das im Sommer auch nicht mehr. Ich habe mich manchmal gefragt, ob ich das noch verstehen kann. Aber irgendwie konnte ich das nicht mehr.
Selbst Atmen ist anstrengend. Es hat nichts mit Erholung zu tun, dort zu liegen. Das fühlt sich wie Marathon laufen an, obwohl man nicht mal den kleinen Finger bewegt.

Es ist, wie es früher war. In den Abendstunden wird es ein bisschen besser und die Zeit nutze ich dann, um die Wäsche aufzuhängen, weiter aufzuräumen und zu Kochen – am Besten für mehrere Tage, dann wird es in den Folgetagen einfacher. 


Wenns gerade mal kurz besser geht, kann ich ein paar Seiten lesen...



Das Bestreben war eigentlich immer dafür zu sorgen, dass es nicht so schlimm wird und vorher in Gesprächen zu versuchen, den Druck raus zu nehmen. Es hat selten geklappt. Und auch der Weg zu diesem Zustand war ein Bekannter. Erst wird es körperlich anstrengender morgens den Berg zur Arbeit hoch zu laufen, dann bin ich genervt von allen Kollegen – auch von denen, die ich sonst mag – und zuletzt werde ich so geräuscheempfindlich, dass ich den Geschirrspüler nur mit viel Vorsicht und einem Geschirrtuch ausräumen kann, damit es so wenig wie möglich klappert.

Ich glaube, das Wichtigste wäre, in so einem Zustand einfach irgendwo aufgehoben zu sein. Aber das klappt ab einem gewissen Grad von Schwere und Destruktivität auch nicht mehr. Wer will denn so etwas hören? Die potentielle Bezugsperson hat in solchen Situationen immer ordentlich drauf gehauen, aber die ist sowieso seit Mitte Dezember raus. Der Intensiv - Oberarzt möchte täglich Lauf – Updates und keine Nicht – Lauf – Updates (Ich glaube, ich werde eine Weile nicht mehr laufen jetzt...). Ich habe Sorge, wie er reagiert und erzähle lieber nicht, wie es mir geht. Seine Frau will davon ohnehin nichts hören, wie sich allmählich heraus kristallisiert, abgesehen davon ist der nächste Termin auch erst Donnerstag, was in dem Zustand ungefähr endlos ist. Und der ehemalige Freund ist sicher auch die falsche Adresse – zumindest ignoriert er mich gekonnt; nachvollziehen kann ich das aber auch. Obwohl das mit Beziehungen schon erstaunlich ist, habe ich mir die Tage mal gedacht. Es gab Zeiten, da hätten wir alles füreinander gegeben und sobald man getrennt ist, wird daraus das komplette Gegenteil. Am Besten vergisst man, dass der andere existiert hat… - oder so ähnlich. Es gab nie einen Menschen, der körperlich näher an mir dran war als er. Und ich habe kürzlich beschlossen, dass das für immer so bleiben soll. Man soll  sich gut überlegen, wem man seinen Körper zur Verfügung stellt und das kann nicht jedes Jahr wer anders sein. Das hätte ich mir vorher überlegen können, ob er der Richtige ist.

Ich weiß nicht, ob ich das nochmal schaffe. Ich habe mich von den zwei Jahren davor nicht mal richtig erholt. Obwohl da doch einige Monate Zeit waren, aber wenn man jahrelang so auf dem Zahnfleisch gegangen ist, braucht man wahrscheinlich auch eine lange Zeit, um sich zu erholen. Und nicht nur das – sondern auch, um irgendwie wieder eine Art Vertrauen ins Leben zu entwickeln.
Meine Hauptsorge ist aktuell, dass ich dem verstorbenen Freund versprochen habe, ihn auf meinen Schultern zu tragen. Ihm die Welt zu zeigen und ihm davon in den monatlichen Briefen zu berichten. Ein bisschen auf sein Grab aufzupassen. Von Zeit zu Zeit vorbei zu fahren und ihn zu besuchen. Erinnerungen und Erfahrungen zu sammeln, die wir irgendwann bei einem unendlich langen Café – Date austauschen werden.
Ich weiß nur gerade nicht, ob ich das halten kann. Oder ob wir uns schneller begegnen, als wir das sollten. Ich werde in keine Klinik mehr gehen. Ich habe das so oft durch; ich habe so oft vor irgendwelchen Menschen gesessen, die sich Psychologe schimpfen und von Nichts einen Plan haben. Weil sie das einfach nicht erlebt haben – das ist nicht mal böse gemeint. Wie soll jemand helfen, der das nicht mal nachempfinden kann? Ich werde mir das nicht mehr geben, dass die Leute mich für komplett inkompetent in Bezug auf mein eigenes Leben halten. Ich habe so viel gekämpft. Jahrelang. Und ich lasse mir nichts anderes mehr sagen. Die Leute dürfen gern ihre eigene Meinung haben. Aber ich muss nicht mehr an Orten sein, an denen ich die annehmen muss, weil ich per Definition eine unmündige Patientin bin.

Ich lasse jetzt mal langsam den Sonntag ausklingen.
Viel passiert hier nicht mehr.
Und dann hoffe ich, dass ich die Woche irgendwie packe.
Irgendwie von Tag zu Tag.

Mondkind


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