Verborgen

Freitag um 12:30 Uhr.
Ich bin schon seit um 10 Uhr da, habe die Lumbalpunktionen am Morgen übernommen und bin danach mit auf Visite gewesen. Jetzt ist mein Plan, den Kollegen in der ZNA abzulösen, damit er Mittagspause machen kann.
„Ich habe einen Patienten Mondkind, vielleicht können wir auch gleich zusammen essen gehen“, sagt er. „Ich muss nur noch kurz etwas dokumentieren.“ (Immerhin gibt es indisches Gemüsecurry und er ist Inder…)
Der Pfleger kommt in die ZNA gelaufen mit zwei Kladden unter dem Arm. Und in dem Moment geht auch noch der Stroke Angel Alarm. „Mondkind, geh einfach wieder nach Hause“, sagt er. „Es war den ganzen Morgen ruhig und kaum betrittst Du die Notaufnahme gibt es innerhalb einer Minute drei neue Patienten. Du ziehst das einfach an…“
Also kein Mittagessen.

„Ich kümmere mich um den Stroke Angel, dokumentier Du fertig, geh essen und dann machen noch Du und ich jeder einen der fußläufigen Patienten“, sage ich zu dem Kollegen gewandt.
Wenig später trabe ich nach vorne zur Triage. Es handelt sich um einen recht jungen Patienten, der aber schon zwei Posteriorinfarkte erlitten hat und deshalb kortikal blind ist. Bisher war er aber noch orientiert und konnte ganz normal sprechen. Jetzt allerdings höre ich nur „ja“ und „nein“ und „genau“, Aufforderungen werden nicht umgesetzt, er kann nicht sagen was passiert ist und ob eine Benennstörung vorliegt, lässt sich durch die kortikale Blindheit nicht klären.
Ich fahre ein CT und eine CT – Angio, in der außer der alten Infarkte nichts zu sehen ist. „Mach mal einen Schnelltest für den INR – Wert“, sage ich zur Pflege, „ich glaube das wird eine Lyse.“ Ich informiere den Oberarzt, der noch die Idee hat, dass es ja auch ein Status sein könnte. Wir bauen schnell die EEG – Kappe drauf und sehen hochgespannte Deltawellen, die unter einem Notfallmedikament auch nicht mehr nachweisbar sind, aber die Symptomatik hält weiterhin an. Und deshalb lysieren wir.

Den Rest des Tages steppt der Bär in der Notaufnahme. Ein Patient berichtet, dass er gestern den ganzen Tag und Schwindel gelitten habe und auch mehrfach das Gleichgewicht verloren habe; nachdem ich ihn nach Abschluss der Diagnostik auf die Station aufnehmen will, ist der Corona – Test positiv. Das erklärt den Schwindel besser. Ein anderer bekannter MS – Patient kommt mit Verdacht auf Schubereignis; auch sein Test auf Corona kommt positiv zurück; ich nehme ihn trotzdem auf, aber ohne Cortison. Ein Anfang 20 – jähriger wird mit Verdacht auf Schlaganfall angemeldet, hat aber am Ende „nur“ eine periphere Fazialisparese. Ein postoperatives Shivering wurde mal wieder mit einem epileptischen Anfall verwechselt und die Unfallchirurgen haben uns wegen Nichts terrorisiert… Nur um mal die Highlights zu nennen.
Daneben hatte ich noch zwei Stationen an den Hacken, unzählige Nadeln (Bei einer 95 – jährigen gefühlt ohne irgendeine Vene liegt nach einer halben Stunde eine Nadel im Fuß…).
Ich war drei Stunden zu lange auf der Arbeit, aber am Ende hatten wir einigermaßen aufgeräumt. Die Notaufnahme der Dienstärztin war dann auch mal leer, auf den Stationen herrschte Ruhe, Dunkelheit und Stille.

***
Donnerstag. Gestern.
Ich bin eine Stunde früher auf der Arbeit.
Ich wähle die Nummer, die mittlerweile schon tief in meiner Festplatte gespeichert ist.
„Ich wäre jetzt da“, sage ich.
„Ich komme Frau Mondkind.“
Ich warte vor der Intensivstation. Und dann verschwinden wir in einem Raum neben der Intensivstation im Keller.

Wir sitzen uns gegenüber und es geht darum, die Geschichten nach Außen zu kehren, die sonst unerzählt bleiben. Es geht um das, was hinter der Fassade, hinter dem was man von einer Mondkind kennt, verborgen bleibt. Es geht um die langen Nächte mit mir alleine, in denen ich mich umgeben von der Dunkelheit so oft nach dem Sinn frage. So oft frage, ob mich hier noch irgendwer braucht. Um die Frage, ob das okay wäre, wenn ich nicht mehr hier wäre. Weil ich doch noch ein Mal Pirouetten getanzt habe. Weil ich doch das erlebt habe, das ich immer nochmal erleben wollte. Weil ich keine großen Erwartungen mehr an die Zukunft habe.
Der Herr Oberarzt bezeichnet es als Stärke. Diese Gedanken zu teilen. Zu riskieren, dafür verurteilt zu werden. „Sie bleiben hier. Das beschließen wir jetzt einfach so. Alles andere ist nicht wirklich eine Option, auch wenn ich den Kampf zwischen Gefühl und Verstand von dem Sie erzählen, nachvollziehen kann.“

Ich berichte, es ist schon komisch hier. Dieser Wandel. Dieser Wechsel von Menschen in meinem Leben. Vor dem ehemaligen Freund gab es ja auch ein notdürftig zusammen gebasteltes Helfersystem. Die potentielle Bezugsperson, die so lange an meiner Seite war. Die AGUS – Gruppe, aber das wäre auch ohne den ehemaligen Freund nicht weiter gegangen. Eine kurze Zeit war ich mal bei einer Beratungsstelle, aber mit Trauer kannten die sich auch gar nicht aus. Und dann gab es eine Therapeutin, mit der ich nicht sonderlich gut zurecht kam. Danach hatte ich den ehemaligen Freund und war der Meinung, wir schaffen das schon, wir haben ja uns und meist braucht es nur ein Ohr und Menschlichkeit, sonst nichts.
Und jetzt ist der Intensiv – Oberarzt da. Und immer, wenn dieser verletzliche Teil meiner Seele sich irgendwo anlehnen soll, weil ich allein das manchmal nicht mehr tragen kann, dann schaut es mich jedes Mal mit noch mehr verunsicherten, großen Augen an und fragt: „Mondkind soll ich wirklich?“. Und ich spür mich langsam nicken und frag mich manchmal, ob das so richtig ist, weil ich ihm nicht noch mehr weh tun mag.

Der Intensiv – Oberarzt versteht. Versucht die zweifelnde Mondkind, die jedes Mal ein bisschen mehr verletzt war zu beruhigen. Und er sagt nicht nur, er macht auch.

Und dennoch ist es komisch dort zu sitzen, zumindest zu versuchen, die Fassade fallen zu lassen. Es tut so gut und fühlt sich gleichzeitig an, als würde ich lügen. Weil das so schwer ist zu begreifen, dass die Person, die eine Notaufnahme mit mehreren Notfällen gleichzeitig rocken kann und wichtige, teils lebensverändernde Entscheidungen treffen kann und die Person, die sich nachts still fragt, ob es okay wäre zu gehen, ein und derselbe Mensch sein sollen.




***
Freitag.
Irgendwo zwischen all den Notfällen in der ZNA.
Eine Kollegin ruft mich an. „Mondkind, Du warst doch heute Morgen nicht in der Frühbesprechung. Schau im Arztzimmer im Regal, ich habe Dir einen Kaffee hingestellt.“ Ich bedanke mich gleich mehrfach. „Du hast mich gerettet in meinen letzten Dienst“, sagt sie.

Der Intensiv – Oberarzt meldet sich auch nochmal. „Frau Mondkind, schade, dass Sie heute Morgen nicht in der Frühbesprechung waren. Man hat Ihr Engagement im Spätdienst in der ZNA gelobt.“ Wie schön… Und wie schön, dass mir das dann vor allen Dingen jemand sagt.

Später schickt er mir noch eine kleine Aufstellung über die nächsten Schritte, auf die wir uns geeinigt haben. Wieder regelmäßig laufen gehen (mit den Spätdiensten und der Erschöpfung habe ich das schleifen lassen), vielleicht Sport in einem Verein machen (ich hatte mir Volleyball spielen überlegt und tatsächlich habe ich letztens am schwarzen Brett bei uns sogar einen Aushang gesehen, vielleicht sollte ich mal telefonieren) und ich möchte endlich Klavier spielen lernen – also vielleicht ab und an mal Musikunterricht. Und weiter schreiben und kreativ sein; er findet, dass ich das gut kann.
(Ich wäre schon froh, wenn ich eines von diesen Dingen regelmäßig machen könnte).
Daneben wird es jetzt doch erstmal wieder ein bisschen medikamentöse Unterstützung geben, damit man vielleicht diese tiefen Tiefs ein bisschen auffangen kann, Ärzte unter sich kriegen das schon hin da ein geeignetes Konzept aufzustellen.

Und wie so oft am Freitagnachmittag kommt noch ein kleines Email. „Ein schönes Wochenede Ihnen. Und berichten Sie bitte einfach weiter.“ Und damit ist dann auch dieser verletzte Anteil in mir beruhigt, der mich mit so großen Augen anschaut und noch nicht wirklich weiß, was er von allem, was im Moment passiert, halten soll.
Da ist so viel Angst, doch verletzt zu werden, aber auch so viel Dankbarkeit fürs Halten, Tragen und Unterstützen. Es ist so schön, einfach mal gesehen zu werden. Und wenn dafür nicht unendlich viel Energie drauf geht, dann ist es auch umso einfacher, die Konzepte nach und nach umzusetzen.

Mondkind

Bildquelle: Pixabay


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