Innere Bewegung

Dienstagmorgen.
Dort wo gestern noch eine Menge Energie war, ist heute schon wieder bleierne Müdigkeit.
Dabei wurde ich doch gestern noch von den Kollegen gefragt, was ich zwischen diesem Visitendienst am Sonntag mit viel zu tun inklusive Reanimation und dem Montagmittag gemacht habe, dass ich so gute Laune habe. Und in dem Moment fällt mir die Antwort auf die Frage ein, was ich gegen Erschöpfung tun könnte – gerade noch rechtzeitig vor der nächsten Stunde, bei der Frau des Oberarztes. Da sollte ich nämlich eine Antwort auf diese Frage haben. Schlaf, das ist es ganz sicherlich und das klappt besser, seitdem ich Spätdienste habe, weil meist eher das Einschlafen als das Durchschlafen ein Problem ist. Und Zeit mit Menschen zu verbringen, die mir wichtig sind. Die für mich wertvoll sind. Zeit zu erleben, die nicht nur vorbei geht, sondern die qualitativ gefüllt ist. In der ich die Tanks der psychischen Grundbedürfnisse wieder auffüllen kann.
Und gleichzeitig ist es erschreckend zu sehen, wie abhängig der Mensch als soziales Wesen ist. Oder ich es zumindest bin. Ich meine aber, dass jeder irgendein soziales Netz braucht, in das er gehört.
 
Wenig später düse ich über die Landstraßen in die Nachbarstadt.
Es ist merkwürdig, diesen Weg wieder im Hellen zu fahren. Und schmeißt mich zurück in eine Zeit, die eine andere war. Lange vor dem Herbst und Winter, in denen die Beziehung schon wackelte. Sondern zurück in den letzten Sommer, als ich wieder mal kurzfristig glauben wollte und konnte, dass es endlich okay wird. Nach so langer Zeit, nach so vielen gescheiterten Versuchen. Und während ich an dem Satz: „Was gut ist, wird nicht bleiben können“ hing und mehr gehofft als geglaubt habe, dass es ein einziges Mal anders wird, habe ich dennoch versucht einen Sommer zu genießen. Ich spüre nochmal ein bisschen Leichtigkeit, ein Gefühl von „ich weiß zwar noch nicht wie, aber es wird schon.“ Ich spüre nochmal den Mut, mich nochmal ans Leben zu wagen, das vorsichtige Vertrauen, dass zusammen alles besser als allein geht und dass ich es trotz all dieser schwierigen Jahre mit viel Therapie und viel Psychiatrie schaffen kann, ein ganz normales Leben zu führen. Ich spüre die Beruhigung darin, dass Sorgen ab nun zumindest teilbar sind. Dass ich sie zwar trotzdem allein tragen muss, aber dass ich auch mal sagen kann: „Hey, holst Du mich mal kurz aus meinem Katastrophendenken auf den Teppich?“ Ich spüre nochmal die Sehnsucht in mir, die ich zu jeder Zeit hatte, in der der ehemalige Freund und ich Zeit nicht miteinander verbringen konnten, was ich immer als etwas störend empfunden habe, aber wahrscheinlich war es mal an sich ein gutes Zeichen. Ich spüre die Ungeduld, weitere Schritte zu gehen. Im Psychiatriejahr endlich bei ihm zu wohnen, damit wir uns jeden Früh und jeden Abend haben. Die Vorfreude auf gemeinsame Urlaube. Das Wissen, dass wir nebeneinander einschlafen und aufwachen dürfen und dass dazwischen nichts passiert, das Angst machen muss. Den tiefen Frieden, die Verbundenheit mit der Welt, dieses Gefühl geerdet zu sein und dieses tiefe Vertrauen, dass ich keine Angst haben muss, morgen wieder am Leben zu zweifeln.
 
Mittlerweile sitze ich bei der Frau des Oberarztes. „Sie haben doch das Buch zu Hause“, sagt sie. Ich schaue sie etwas irritiert an. Ihr Mann hatte mir letztens ein Buch empfohlen, das ich mir dann auch einfach mal gekauft habe. Ist so ein Selbsthilfe – Ding, er meinte, ihm habe das viel gebracht und seine Idee war, dass es mir vielleicht auch helfen könnte. Seine Frau hatte mich letzte Woche zufällig auch gefragt, ob ich das Buch kenne. „Habe ich mal gehört“, habe ich damals geantwortet, denn rein geschaut hatte ich noch nicht – auch wenn es schon auf meinem Sofa lag. Ich wollte ihr aber nicht sagen, dass ich es nur deshalb habe, weil ihr Mann mir das empfohlen hat, nachdem er mich irgendwann die Tage nochmal angerufen und gesagt hatte, dass alles was wir beide besprechen unter uns bleiben soll. „Das haben Sie mir letzte Woche gesagt, dass Sie das Buch haben“, schiebt die Frau des Oberarztes hinterher. Okay, ich diskutiere das nicht mit ihr – so viel dann aber mal zum Thema, dass die beiden nicht miteinander über mich reden. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll…
Nachdem sie letztens auch gesagt hat, dass sie die Vergangenheit nicht so sehr interessiert, meint sie heute doch, dass das vielleicht nicht uninteressant wäre, wenn ich ihr mal erzähle, wie ich bis jetzt gelebt habe. Ich weiß nicht, ob sie selbst darauf gekommen ist, dass sich manche Dinge ein bisschen merkwürdig anhören oder ob mein Oberarzt ihr gesagt hat, dass es vielleicht nicht verkehrt wäre, mal danach zu fragen.
 
Also die ganze Geschichte nochmal. Wie war das eigentlich zu Hause? Was gab es für Hobbies, welchen Stellenwert hatte die Schule? War ich als Mensch wertvoll, eben weil ich einfach war, wie ich eben war? Durfte ich überhaupt sein, wie ich war? Wie war das mit der Trennung der Eltern und gab es einen Abschied? Und wie lief das mit dem Studium? Ich habe ein bisschen Bauchschmerzen, ihr zu erzählen, dass ich mich im Leben nicht freiwillig für ein Medizinstudium entschieden hätte. Nicht, dass das der Intensiv - Oberarzt und die gesamte Neurologie bald auch weiß. Ich habe mich arrangiert, das ja – aber gewollt hätte ich das nicht. „Was hätten Sie denn gern gemacht?“, fragt sie. „Ich wär gern Pilotin geworden. Oder hätte Psychologie studiert. Oder irgendetwas mit Sprachen.“ „Mögen Sie es ferne Länder zu bereisen?“, fragt sie „Nein“, entgegne ich. „Aber ich bin gern kreativ, ich bewege gern die Menschen mit Worten“, sage ich. Und wenig später: „Ich glaube, ich hätte gern etwas bewegt, das andere Menschen bewegt.“ Es geht um das Studium, um den Auszug von zu Hause, um diesen Befreiungsschlag, darum, dass ich das Leben an der Hand meines verstorbenen Freundes gelernt habe, dass das eine Erfahrung ist, die für immer verbindet und die niemals mehr wiederholbar ist. Es geht um diesen Tod, wieder mal kurz bevor es doch okay werden sollte. Um die zwei Jahre danach, um die neue Beziehung, die wieder viel Hoffnung war, dass es jetzt endlich gut wird.
Und langsam versteht sie glaube ich. Dass das alles nie einfach war. Und das Resultat von viel Durchhaltevermögen ist.
 
Ich zitiere meinen ersten Psychiater, den ich 2020 nochmal gesprochen habe. Der sagte, dass er sich erinnert, wie er mich kennen gelernt hatte. Noch zu Hause lebend, noch ganz tief drin in dieser ganzen Familiengeschichte, mitten in der Anorexie und irgendwie so verloren und überfordert. Er und das Team hätten mir nicht zugetraut, dass ich eines Tages das Examen bestehen werde, Ärztin sein werde und mein Leben unabhängig werde leben können, auch wenn sie mir das nicht gesagt haben damals.
Und manchmal denke ich daran zurück und muss ein bisschen weinen, weil es mich so sehr bewegt, dass irgendwer mal mehr sieht, als all die Defizite. Dass irgendwer mal sieht, dass das alles nicht von selbst kam.

Gegen Mittag gehe ich auf die Arbeit. „Möchtest Du eigentlich wieder zurück in die Notaufnahme?“, fragt mich mein Notaufnahme – Oberarzt. „Könnte ich mir schon vorstellen. Ich habe das Gefühl, ich habe etwas an Sicherheit verloren, während ich auf der Intensiv war“, entgegne ich. Der Kollege hatte am Morgen noch nicht viel zu tun, aber gerade als er mir das Telefon in die Hand drückt und sich in die Pause verabschiedet, klingelt der Stroke Alarm zwei Mal hintereinander. „Mondkind, soll ich da bleiben?“, fragt er. „Nein, geh nur, ich schaffe das“, sage ich. Der Notaufnahme – Oberarzt steckt den Kopf zur Tür herein. „Mondkind, ich überlege mir das mit Dir in der ZNA nochmal. Bei Dir ist zu viel los…“ Wir lachen beide. „Ruf mich an, wenn es Probleme gibt“, sagt er.





Am Nachmittag telefoniere ich noch mit dem Intensiv – Oberarzt. Wir hatten schon letzte Woche vereinbart, dass wir vielleicht nochmal sprechen. „Wollen Sie kommen?“, ist seine erste Frage. „Ja, ich hatte an Morgen gedacht. Vor dem Spätdienst“, sagt er. „Jederzeit“, entgegnet er. „Sie wissen, ich bin gerne für Sie da…“ Ich frage mich manchmal, ob ich das wirklich ernst nehmen soll. Er ist einer der ganz wenigen Menschen, der daraus keine Wenn – Dann – Argumentation macht. Der einfach da ist, ohne dass ich erstmal etwas leisten muss. Wobei er glaube ich auch genau das vermitteln möchte.
Die potentielle Bezugsperson meinte gestern zu mir, er redet erst wieder mit mir, wenn ich einen vernünftigen Therapeuten habe. Das hat mich geärgert, weil es einfach nicht seine Sache ist. Und wenn das die Voraussetzung ist, vielleicht reden wir einfach nicht mehr miteinander. Es ist schade, aber auch für ihn gilt, dass jeder Mensch seinen eigenen Kopf hat und ich da nichts dran ändern kann. Ich habe ihm nichts erzählt von der Frau des Intensiv – Oberarztes und ich möchte das auch nicht tun.

Am Abend höre ich noch eine Sprachnachricht des ehemaligen Freundes ab. Die das Herz seltsam verletzt. Ich hatte ihm am Mittag auch noch eine Sprachnachricht geschickt. Weil ich irgendwie ziemlich bewegt war nach dem Termin bei der Frau des Oberarztes. Es ist gar nicht so einfach ständig diese alten Kamellen wieder aufzuwärmen, den Mut nicht zu verlieren – auch wenn ich sehe, was ich alles geschafft habe. Aber es ist eben nie gut geworden. All das Kämpfen hat nie dazu geführt, dass ich heute sagen, dass ich ein gutes Leben lebe.
Er redet vier Minuten darüber, dass ich ihn nicht in einer Sprachnachricht fragen soll, wie es ihm geht und dass ihn das ärgert. Und ich verstehe das; wir hatten schon mal unsere Diskussionen darüber. Obwohl ich ihn gar nicht explizit gefragt hatte, es war eher ein Nebensatz. Ich hatte nur gesagt, dass ich ja nicht weiß wie es ihm geht, aber dass ich ihn sehr vermisse. Und da er mir solche Fragen meistens sowieso nicht beantwortet, hatte ich auch nicht erwartet, dass er darauf eingeht. Und neben der Tatsache, dass mir in dem Moment klar wird, dass ich mir gewünscht habe, dass er ein bisschen spürt, wie viel Bewegung da zwischen den Zeilen ist und darauf etwas eingeht (ich vermisse die Post – Therapie – Cafe – Dates sehr), frage ich mich auch still, ob er sich nicht ein Mal ein bisschen anpassen kann. Er meint, ich soll ihn anrufen, wenn ich solche Fragen habe, aber wie sollen wir telefonieren, wenn er die ganze Woche von früh bis Nachmittag arbeitet und ich von Nachmittag bis Abend und eigentlich nicht warten möchte bis Wochenende ist?
Und dann denke ich über Anpassung nach. Der ehemalige Freund ist kompromisslos gegen absolut jede Form von Anpassung. So sehr, dass ich mich schon oft sehr darüber geärgert habe. Ich denke an ein Kommentar der Frau vom Oberarzt von heute. „Sie haben sich ihr ganzes Leben lang also immer angepasst – Sie hat nie jemand gefragt. Es ist die Frage – was wollen Sie eigentlich?“ (Wenn ich das wüsste…) Und ich frage mich, ob ich den Menschen Unrecht tue, wenn ich mir wünsche, dass sie sich etwas mehr anpassen könnten. Für mich ist Anpassung eben kein Problem, ich bin das gewohnt. Aber vielleicht passen sich Menschen im Allgemein eher ungern an? Der ehemalige Freund jedenfalls schon. Und trotzdem frage ich mich oft, ob ein Leben ohne Kompromisse möglich ist?

Ich bleibe ein bisschen lange auf der Arbeit – die potentielle Bezugsperson hat heute Hintergrund und akquiriert grundsätzlich den Spätdienst für die ZNA, egal wie viel los ist. (Es ist nicht viel los, aber wenn ich eine Aufnahme machen soll, dann ist es so…) Und damit kommt man nicht pünktlich los, das war mir schon vorher klar.

Ich freue mich jetzt, dass ich morgen ein bisschen Raum für mich und das was mich bewegt bekomme, bevor ich wieder arbeiten muss. Das schafft schon jetzt ein bisschen Ruhe. Ich muss es nur noch etwas sortieren bis morgen.

Mondkind



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