Von Momenten im Job und Coaching

Dienstagnachmittag.
Ich habe zwei neue Patientinnen in meinen Zimmern.
Eine Dame ist Ende 70 und hat gestern Abend einen Schlaganfall erlitten. Fast die Hälfte ihres Gehirns ist dabei gestorben, die Ursache war ein großes Blutgerinnsel in einem der Hauptgefäße des Gehirns, das man auch leider nicht hatte entfernen können.
Die Pflege ruft mich an. „Mondkind, der Ehemann ist jetzt hier. Der ist außerhalb der Besuchszeiten hier und er ist so aufgelöst, wir haben ihn rein gelassen und auch ausnahmsweise schnell bei uns einen Coronatest gemacht, aber ich glaube, der braucht jetzt mal ein Gespräch.“ Ich trabe hin. Der Mann steht neben dem Bett und streicht seiner Frau über die Wange. „Ich verstehe gar nicht, was hier los ist, das müssen Sie mir erklären“, sagt er. Und dann versuche ich in einfachen Worten zu erklären, was ist ein Schlaganfall ist und was mit dem Gehirn seiner Frau los ist. „Ich bin ja froh, dass sie lebt, gestern Abend dachte ich sie stirbt“, sagt er und dann kann er seine Tränen nicht mehr verbergen. Ich warte, bis er sich ein bisschen beruhigt hat und drücke währenddessen mein Verständnis aus. „Aber die Lähmung wird doch zurück gehen, oder?“, fragt er. „Es kann sich in Teilen in der Reha, die sie brauchen wird, vielleicht verbessern. Inwieweit, kann zum jetzigen Zeitpunkt keiner sagen. Aber sie wird auf gar keinen Fall mehr die Alte. Das kann ich Ihnen jetzt schon sagen“, entgegne ich. Und während der Mann das alles nur langsam begreift, hole ich ihm erstmal schnell einen Stuhl, damit er sich setzt. „Kann ich denn jeden Tag zu Besuch kommen?“, fragt er. „Können Sie. Jeden Tag ab drei Uhr…“ Und dann erklärt er mir, dass er mit dem Zug aus der Nachbarstadt (in der auch der ehemalige Freund gewohnt hat) kommt. „Wissen Sie, das ist so kompliziert, da muss man auch noch umsteigen zwischendurch…“ „Ich weiß, ich bin dort selbst schon gelegentlich lang gefahren“, sage ich. „Ich verstehe das nicht“, legt er wieder los. „Wir waren gestern Abend beim Rommé spielen, das machen wir oft abends und dann ist sie einfach vom Stuhl gekippt.“ Ich würde gern irgendetwas Tröstendes sagen, aber mir fällt nicht viel ein.

Wenig später habe ich den Ehemann von meiner zweiten Patientin in der Leitung. Sie ist Mitte 80, hat eine Blutung erlitten und kann deshalb nicht mehr sprechen; auch das Sprachverständnis ist schwer gestört. Eigentlich wollte ich ihn wegen eines MRTs für seine Frau aufklären, aber mir wird schnell klar, dass ich das knicken kann. „Ich komme gerade vom Hausarzt, ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Ich bin doch schon 90 – wie soll ich denn nur ohne meine Frau leben…?“ Und dann weint er am Telefon. Ich sage auch ihm, dass er sich erstmal setzen soll, frage nach Kindern, die vielleicht in der Situation unterstützen können, aber  von denen fällt ihm gerade die Telefonnummer nicht ein. Auch er möchte seine Frau besuchen und ich erkläre genau, wie und wann das geht. „Schreiben Sie sich das auf, damit Sie das nicht vergessen“, sage ich und nenne ihm nochmal die Besuchszeiten und die Bedingung einen negativen Covid – Test mitzubringen, den er in der Apotheke machen kann. „Haben Sie jemanden, der Sie fährt?“, frage ich. „Ja ja, habe ich“, sagt er.

Als wir aufgelegt haben – das MRT ist noch nicht aufgeklärt – denke ich über diese beiden Frauen und ihre Ehemänner nach. Wie viele Jahrzehnte diese Menschen wahrscheinlich zusammen verbracht haben. Vielleicht ist es das erste Mal seit so vielen Jahren, dass die Paare länger als ein paar Tage voneinander getrennt sind. Ich glaube kein Mensch in meinem Alter kann sich vorstellen, was diese Menschen gerade erleben, wie sehr sie leiden, wie sehr sie lieben und wie sehr ihre Welt gerade aus den Fugen gerät.
Diese Menschen haben mich sehr bewegt heute. 





Mit etwas Verspätung bin ich selbst auf dem Weg in die Nachbarstadt. Heute steht noch ein Termin bei der Frau des Oberarztes an. Allmählich merke ich, wie ich dort mit etwas Bauchschmerzen hin fahre. Und gleichzeitig wird mir bewusst, dass der ehemalige Freund und ich keinen Frühling mehr erleben werden, auch wenn die Tage langsam länger werden. Wir werden nicht in den ersten warmen Tagen die Fahrräder wieder flott machen, wir werden nicht mehr auf dem Balkon frühstücken, wir werden nicht mehr Hand in Hand spüren, wie die Welt wieder aufsteht. Die ersten heißen Sommertage werden uns nicht mehr nostalgisch an unsere Kennlernphase erinnern und wir werden nie wieder an einem lauen Sommerabend im Restaurant im Park sitzen.
In der ersten Stunde hat die Frau des Oberarztes mich noch einigermaßen reden lassen; mittlerweile klappt das nicht mehr gut. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was die Definition von Coaching ist. Aber es ist schon sehr auffällig, dass sie mich kaum reden lässt über das, was mich bewegt. Die Frage ist immer: „Was ist der nächste Schritt?“ und „Wie soll es sein, wenn es gut ist?“ Und dann kommt sie mit Dingen um die Ecke, die grundsätzlich auch Sinn machen, aber zu einfach gedacht sind für einen komplizierten Sachverhalt. Heute wollte sie, dass ich mir eine Situation vorstelle, in der ich mich „zu Hause“ gefühlt habe – das war heute das Thema – um dieses Gefühl dann mit ins Jetzt zu nehmen, wenn ich mich gerade sehr verloren fühle. Dabei lässt sie aber nicht gelten, dass dieses „zu – Hause – Gefühl“, als es wirklich mal einige Zeit konstant war, irgendwo in der Mitte zwischen dem verstorbenen Freund und mir war. Wenn ich an zu Hause denke, dann denke ich an Nachmittage am Rhein, an die Leichtigkeit, den Optimismus, den Zusammenhalt, den ich damals gespürt habe. Die Bindung, das Gefühl nicht alleine zu sein, das tiefe Vertrauen in mich, in das Leben und in die Welt. Und dieses Gefühl lässt sich nicht entkoppelt vom verstorbenen Freund ins Jetzt zu tragen. Aber die Tatsache, dass somit auch immer ganz viel Traurigkeit mitschwingt, lässt sie nicht gelten. Dabei ist eben genau das der Punkt, der es so schwer macht. Ich vermisse es so sehr und ich weiß zum jetzigen Zeitpunkt nicht, ob ich das nochmal finden werde.
Es ist einfach nicht möglich, sich jede Woche ein essentielles Thema heraus zu picken und das unabhängig von dem was war, in irgendetwas Positives zu wenden. Wenn das so einfach wäre, hätte ich mir jahrelange Therapie sparen können.
Ich werde ihr auch nie die Geschichte vom verstorbenen Freund wirklich erzählen können. Da unterbricht sie mich immer und lässt mich nicht weiter reden. Und man merkt leider auch, dass sie von Trauerarbeit nicht wirklich Ahnung hat. Meine Ausführung, dass ich den Freund nicht loslassen kann und will, sondern dass es darum gehen muss, dass er nah bei mir und in meinem Herzen bleiben darf und dort nur ein Stück zur Seite rückt, um auch wieder Platz für etwas Neues zu machen, hält sie für eine bahnbrechende Erkenntnis. Die ich schon im Sommer 2020 hatte – nur leider habe ich das bisher noch nicht gut umsetzen können.

Auf der Heimfahrt muss ich mich wieder an einen Kommentar erinnern, den – meine ich – mal jemand aus der AGUS – Gruppe gesagt hat und der treffender nicht hätte sein können. „Man muss die Geschichte so oft im Kreis erzählt haben, bis man ein Mal das Gefühl hat, gehört worden zu sein.“ Ich würde das mittlerweile gern ergänzen mit einem „und die Person, von der man sich gehört gefühlt hat, die muss diese Geschichte zwischen ihren und meinen Schultern mittragen, damit es als geteilt gilt.“ Beim ehemaligen Freund hatte ich mal das Gefühl, dass ich bei ihm das Gefühl habe, gehört worden zu sein, aber die Trennung gibt mir das quasi zurück. Zwar kennt er die Geschichte immer noch, aber es ist unmöglich darüber mal kurz zu reden, wenn es Bedarf gibt. Es nützt nichts, wenn diese Geschichte in der Welt verstreut ist, ohne einen Bezug zu mir zu haben.

Am Ende weiß ich nicht, wie das jetzt weiter geht.
Ich war am Sonntag nochmal bei meinem Oberarzt und wir haben wirklich lange geredet. Und das hilft auch. Nur leider wird das eben weniger. Es ist blöd, weil er mein Oberarzt ist, eigentlich soll sich seine Frau darum kümmern und Zeit haben wir beide zwischen den klingelnden Telefonen auch nicht viel. Und doch ist er eben sehr viel hilfreicher. Eben weil er mir ein Ohr leiht. Und das ist glaube ich gerade alles, was es braucht.

Gerade geht es viel um Blitzlichtmomente.
Um Dinge, die mir mittlerweile mehr als ein Mal das Genick gebrochen haben.
„Weißt Du Mondkind, in einer Beziehung muss man seinen Schutzpanzer dünn machen. Akzeptieren, dass Nähe auch verwundbar machen kann. Ich weiß nicht, ob Du innerlich bereit dafür bist?“
Worte des verstorbenen Freundes.
Ich habe es mittlerweile schon zwei Mal ausprobiert. Und zwei Mal habe ich mich hinterher eher wie eine nackte Schildkröte gefühlt und da sind Wunden entstanden, von denen ich nicht glaube, dass die je vollständig heilen werden.

Und ansonsten… - habe ich die letzten Tage gespürt, wie sich der Druck in mir aufgebaut hat. Wie die Worte gefehlt haben um auszurücken, was da los ist. Ich spüre diese Welle. Die früher so oft da war. Regelmäßig. Von der ich bei den ersten Malen in denen ich sie gespürt habe noch geglaubt habe, dass die mich umbringen wird. Heute weiß ich, ich überlebe das. Aber verwundet. Geschwächt. Es dauert meist eine Weile, wieder standfest zu werden, wenn die mich ein Mal überspült hat.
Ich glaube, das Wichtigste in solchen Tagen wäre zu spüren, damit nicht alleine zu bleiben. Aber es ist eben gerade schwer. Weil ich eben ziemlich alleine bleibe.

Auf dem Heimweg von der Frau des Oberarztes fällt mir auf, dass der Weg in die Nachbarstadt nicht mehr zwingend mit dem ehemaligen Freund in meinem Kopf gekoppelt ist. Klar, ich denke immer noch viel an ihn, wenn ich auf dem Weg in die Nachbarstadt bin. Morgen habe ich Dienst, noch vor zwei Monaten wäre ich an so einem Abend auf dem Weg zu ihm gewesen. Aber das fühlt sich alles schon weit weg an. Die Zeiten, in denen ich alleine war und die so viel länger als die geteilte Zeit war, sind schnell wieder Normalität geworden. So sehr, dass es mir manchmal schon schwer fällt nachzufühlen, was das für ein Gefühl war, abends zu ihm zu düsen, mit einer langen Umarmung und einem Kuss empfangen zu werden und abends neben ihm einzuschlafen.


Mondkind

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen