Leichter

Montagmorgen.
Ich spüre, wie sich jemand neben mich setzt.
Am Zipfel der Decke zupft.
Drunter schlüpft und sich neben mich legt.
Und ich spüre einen ganz tiefen Frieden in mir.

Wenig später, als wir aufgestanden sind, öffne ich die Fenster.
Ich komme wieder in der Welt an, merke ich.
Es riecht nach Frühling.
Es wird ein anderer Frühling, aber es wird Frühling.
Das innere Schreien wird weniger. Der Mut krabbelt wieder an die Oberfläche. Das darf jetzt gern etwas so bleiben.
Und ich bin hier.

***
Sonntagmorgen.
Ich habe Visitendienst heute. Irgendwann in der Nacht bin ich aufgewacht und habe mir gedacht, dass es mich jetzt nicht wundern würde, wenn ich heute einen Todesschein schreiben würde. Wenn man ein Mal nach dem Visitendienst etwas vorhat, was einem wirklich wichtig ist, dann gibt es meist Chaos.
Gerade als ich die Station betrete, geht der Reanimationsalarm los. Und dann reanimieren wir. Oder versuchen es zumindest. Eine betagte Dame, die eigentlich nur mit einer TIA bei uns war und nur noch auf ihre Entlassung gewartet hat. Nach 40 Minuten erst bekommen wir wieder einen Puls. Stockdement, 40 Minuten reanimiert (ob das Hirn noch mehr als Pudding ist?), noch dazu habe sie einer Freundin – die wir erreichen können – gesagt, sie möchte keine Reanimation und auch keine Intensivmaßnahmen, als sie kognitiv noch besser zurecht war. Deswegen beschließen die Kardiologen, das Intensivteam und die Neurooberärztin, dass wir aufhören.
Und ich schreibe einen Todesschein.

Dadurch ist der Tag schon arg in Verzug geraten und zudem gibt es viele kritisch kranke Patienten. Mit der Oberärztin zusammen mache ich die Stroke – Visite und dann arbeite ich alles aus. Mache Doppleruntersuchungen bei frisch gestenteten Patienten (gestern war ein Stent wieder zu gegangen bei einem Patienten, aber heute sieht das besser aus), melde CTs an, lege gefühlt der halbe Station neue Nadeln, kümmere mich um fiebernde Patienten, führe Angehörigengespräche, mache Aufklärungen, die irgendwie am Ende der Woche vergessen wurden und helfe ein bisschen in der Notaufnahme. Aber da ist heute zum Glück weniger los, als auf der Station. Die Kollegin da vorne macht ihren ersten „ersten Dienst“ und selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihr nicht viel helfen können.

Zwischendurch meldet der ehemalige Freund sich. Mein Plan ist nämlich – er war am Wochenende unterwegs – ihn vom Bahnhof abzuholen und mit ihm den Abend zu verbringen. Morgen müsste ich ihn dann auch auf die Arbeit bringen, weil er sein Fahrrad dann direkt bei der Arbeit lässt und nicht vom Bahnhof zur Arbeit spaziert, um es abzuholen. Aber wir hätten halt zumindest mal ein paar Stunden zusammen. Die letzten Tage haben wir festgestellt, dass wir ziemlich viel Sehnsucht nacheinander haben und das ist – da ich die ganze Woche Spätdienst bis mindestens 21 Uhr habe – die einzige halbwegs sinnvolle Möglichkeit, um uns zu sehen.
Von meinem Umfeld weiß niemand, dass wir uns noch sehen. Und ich denke, das soll auch erstmal so bleiben. Letzten Endes gibt es – glaube ich mittlerweile – auch kein Patentrezept für den Umgang mit einer Trennung. Und wenn wir uns noch sehen, ist es vielleicht okay, solange es uns beiden gut tut. Aber ich möchte das nicht mehr ausdiskutieren. Es bleibt bei mir und zwischen uns beiden.

Der Zug hat ein bisschen Verspätung, was mir noch 20 Minuten mehr Zeit bringt. Und gerade als ich endgültig gehen möchte, ruft die Pflege noch an. „Mondkind, da hat eine Patientin 38,6 Grad Fieber.“ Na herzlichen Glückwunsch. Ich rase noch schnell hin, nehme zumindest ein Labor und Blutkulturen ab, beauftrage die Pflege mit einer Urinprobe und hänge Paracetamol an. Dann muss der Dienstarzt eigentlich nur noch auf das Labor schauen und vielleicht ein Röntgen anmelden und dann muss man überlegen, ob es schon eine Antibiose braucht, oder nicht. 


Unterwegs... - ich muss immer wieder feststellen - so ein Auto ermöglicht schon viele fixe Ideen


Mit etwas Verspätung düse ich über die Landstraßen. Ich glaube, ich kenne keinen Weg besser, als diesen. Und mit einer Punktlandung komme ich am Bahnhof an. Gerade als ich um die Ecke biege, fährt der Zug ein, aus dem der ehemalige Freund heraus gepurzelt kommt.
Wir nehmen uns erstmal in den Arm und stehen eine kleine Weile dort. Wieder den vertrauten Geruch in der Nase zu haben, beruhigt das Herz. Und Bahnhöfe sind halt immer so ein Ort…

Viel passiert an diesem Abend nicht mehr. Wir sind beide etwas müde. Zuerst essen wir noch zusammen Abendessen und dann legen wir uns aufs Bett.
Wir haben mit dem was zwischen uns ist, bestimmt mindestens vier Gänge zurück geschalten, aber das ist okay und der aktuellen Situation sehr angemessen. Es gibt einfach nur ein aneinander kuscheln. Ich merke, dass ich eine Weile brauche, um anzukommen. Das war irgendwie alles ein bisschen kurzfristig geplant mit diesem Abend und ich bin ja wirklich den ganzen Tag im Stress gewesen, um es irgendwie zu schaffen, aber irgendwann werde ich ein bisschen ruhiger neben ihm. Es ist nicht mehr dasselbe, stelle ich irgendwann fest, aber trotzdem immer noch schön und sehr friedlich.

Ich denk ein bisschen über uns nach. Und über mich. Und mein Leben.
Ich muss niemandem Rechenschaft ablegen. Alles, was ich außerhalb meiner Arbeit mache, hat eigentlich niemanden zu interessieren, solange ich eben alle Pflichten einhalte. Ob ich jetzt zwischen Sonntagabend und Montagmorgen in der Nachbarstadt bin… - who cares?
Ich denke über das Buch nach, das mir der Oberarzt empfohlen hat und in das ich schon meine Nase gesteckt habe. Dort steht geschrieben, dass eine Trennung eigentlich alle vier psychischen Grundbedürfnisse des Menschen verletzt. Also ist es zumindest nachvollziehbar, dass mich das etwas aus der Bahn geworfen hat. Und das Ding ist eben – wenn man nicht sonderlich viele Menschen um sich herum hat – dann ist das wahrscheinlich nochmal schwieriger. Der Freund hat mir nebenbei erzählt, dass er vor Ostern zweieinhalb Wochen frei hat und in der Zeit nach Hause fährt. Meine erste innere Reaktion darauf war Traurigkeit, weil wir uns dann lange nicht sehen können, bis ich mir bewusst gemacht habe, dass das mit uns beiden sowieso so unklar ist, dass es immer wieder Zeiten geben wird, in denen wir uns eben eine Weile nicht sehen. Das ist jetzt eben so. Wir bedenken einander nicht mehr bei unserer Planung (also ich habe ihn schon immer im Hinterkopf, was ich natürlich nie sage, aber er mich nicht). Wenn kurzfristig etwas passt, dann ist schön und wenn nicht, dann ist es auch okay. Und der zweite Gedanke war, dass es eben Menschen gibt, die für ihre psychischen Grundbedürfnisse mehr Fundament haben. Eine Familie zum Beispiel. Geschwister. Verwandte. Und all das kann vielleicht „zu Hause“ sein. Dann ist es zwar trotzdem schlimm, wenn eine zwischenmenschliche Verbindung verloren geht, aber man verliert eben nicht gefühlt das komplette Fundament.
Das Leben hat sich irgendwie so ergeben, dass ich eben an den Rhein fahre, wenn ich nach Hause möchte. Und dort alleine zu sitzen ist unglaublich traurig, weil es natürlich viel schöner wäre, wen zu treffen, sich auszutauschen, die Verbundenheit im Leben zu fühlen. Aber es ist eben so und ich empfinde das trotz allem immer noch als unglaublich tragend.

Ich glaube, es wird einfacher, wenn man sich bewusst macht, dass die Seele eben gerade wieder verletzt ist und dass die aber vielleicht auch wieder ein kleines bisschen heilen wird. Und dass ich als Mensch aber trotzdem immer noch da bin und stark sein kann. Und die Seele ein bisschen stützen kann.
Revelle hat ein ganz schönes, neues Lied, in dem sie singt „Liebe kannst Du auch alleine.“ Und ob ich das hundert prozentig so sehen würde, weiß ich nicht, aber streckenweise zumindest. Und das ist das, was ich mit dem ehemaligen Freund versuchen möchte.
Es ist schön, dass er noch da ist. Es ist schön, dass zwischen uns nicht alles verloren gegangen ist. Ich würde immer noch die Welt für ihn bewegen und gleichzeitig nützt das eben nichts, wenn er das nicht möchte. Mein Herz wird immer ein bisschen friedlicher sein, wenn er in der Nähe ist. Ich werde vielleicht immer ein bisschen unbeschwerter sein, wenn ich bei ihm bin. Ich habe mal irgendwann gesagt, dass nicht viele Menschen ein Stück meines Herzens bekommen, aber diejenigen, die es bekommen sind gut gewählt und die werden es für immer behalten. Und vielleicht lehne ich mich dann einfach mal kurz zurück, schaue meinem Herz und meiner Seele zu, die gerade aufgehoben, glücklich und versorgt sind und gerne vergessen sollen, dass das nur eine Momentaufnahme und nicht mehr die Realität ist und wenn der Moment vorbei ist, dann kümmere ich mich wieder um die Beiden. Aber wenn das im Bewusstsein ist, dann tut es auch nicht mehr so weh. Dann drehen wir zwischendurch mal die Zeit zurück ins letzte Jahr in dem Wissen, dass wir auch wieder im Hier und Jetzt ankommen, in dem es das alles nicht mehr gibt. Die meisten guten Dinge in meinem Leben sind tatsächlich Erinnerungen und vielleicht wird das auch immer so sein. Die Zeiten, in denen diese Erinnerungen geschaffen werden, sind immer verhältnismäßig kurz gewesen und in dieser Zeit habe ich wie ein Schwamm alles Leben in mir und um mich herum aufgesogen.

Den Freund bringe ich Montagmorgen noch auf die Arbeit.
Zu der Klinik, in der ich auch mal Patientin war. Das fühlt sich immer noch ein bisschen komisch an und zeitgleich doch irgendwie schön. Es hat viel bewegt, dieser Aufenthalt. Zwar nicht so, wie therapeutisch intendiert, aber ich habe mir mal überlegt, dass keine Therapie mich mutmaßlich so weit gebracht hätte, wie der letzte Sommer. Da kann man nicht theoretisch  drüber reden, manche Erfahrungen muss man praktisch einfach machen.
Auf dem Weg nach Hause springe ich noch schnell beim Bäcker rein und kaufe Brötchen für den Spätdienst. „Morgen Mondkind“, ruft es von hinten. Zwei Kollegen aus der Pflege sind auch gerade einkaufen. Die haben sich in der ZNA kennen gelernt, haben eine Familie gegründet und sind heute mit dem Kind unterwegs. Die Kollegin treffe ich nachher in der ZNA, der Kollege hat heute frei. Ich werde wieder dran erinnert, dass ich mir das auch wünschen würde. Eine kleine Familie. Dass ich letzten Sommer mal dachte, vielleicht wird das noch Realität. Und es jetzt wieder sehr weit weg ist. Aber es ist okay.

Und während ich mit dem Auto über die Straßen düse, fühle ich mich doch verbunden.
Mit dieser Welt. Mit mir. Und dem Sein.
Endlich.
Nachdem das so ein Chaos war die letzte Woche.
Tatsächlich fühlt es sich an, als hätte ich ein ganzes Wochenende gehabt. Dabei waren es nur ein paar Stunden. In denen die Welt wieder okay war.


Mondkind
 

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