Aufrichten

Atmen.
Und weiter gehen.
Fuß vor Fuß.

Manchmal fügen sich die Dinge.
Irgendwie.
Und manchmal schaue ich nach oben und frage mich, ob Du die Strippen ziehst.

Montagmorgen.
Nach einer drei – Stunden – Nacht.
Wenn überhaupt.

Es ist noch kein Patient in der ZNA, als ich mit einem ganzen Stapel voller Zettel bewaffnet in die Frühbesprechung laufe.
Aber kaum habe ich mich gesetzt, klingelt das Telefon der ZNA Sturm. Ich telefoniere mit der Pflege aus dem Neubau und frage, was in der ZNA los ist.
Es hat kurz Zeit, heißt es. Dem Patienten geht es nicht so schlecht, ich kann erst die Übergabe machen.
Und in der Frühbesprechung gibt es auch noch eine Kaffeerunde, weil jemand Geburtstag hat. Das habe ich selten so sehr geschätzt, wie heute.
Ich rattere meine Aufnahmen aus dem Dienst von gestern runter.
„Fertig. Das war’s“, schließe ich.

Als ich wieder im Neubau bin, warten drei Patienten auf mich.
Aber es geht heute vom Workload her in der ZNA.
Rückenschmerztag ist heute.
Als ich am Mittag kurz draußen bin, ist mir die Sonne zu hell und die Stimmen der Menschen zu laut.
Ich bin erschöpft heute.
Im Kopf herrscht immer noch Krieg.

Früher Nachmittag.
Eine Kollegin in der Leitung.
„Mondkind, Du warst bis nach 1 Uhr in der Nacht da. Sag dem ZNA – Oberarzt, dass Du heute um 15 Uhr gehst.“
„Das kann ich nicht machen“, entgegne ich.
Wenig später klingelt das Telefon des Oberarztes.
Und dann bittet er die Kollegin aus dem Spätdienst zu sich.
„Ich habe gehört, Du warst bis mitten in der Nacht hier. Du gehst um 15 Uhr“, sagt sie, als sie wieder kommt.

Ich habe noch zu tun, ich würde es nicht ganz bis 15 Uhr schaffen.
Ich wähle eine Nummer, die ich mittlerweile doch auswendig kenne.
„Meinen Sie das hilft Ihnen, wenn Sie jetzt eher gehen können?“, fragt das Gegenüber in der Leitung.
„Ich glaube grundsätzlich nicht“, sage ich. „Ich bin zwar auch müde, aber…“
Langes Schweigen.
„Heute ist ein schwieriger Tag, das verstehe ich schon“, sagt der Intensiv – Oberarzt.
„Ein sehr schwieriger. Es hat ordentlich gekracht.“
„Wollen Sie rüber kommen?“, fragt er.
„Ich weiß nicht“, sage ich. Und ich weiß es wirklich nicht. „Das wird nicht schön.“
„Machen Sie Ihren Kram und dann rufen Sie mich nochmal an.“

Halb vier klingel ich nochmal durch.
„Ich bin mit meiner Visite fertig, kommen Sie rüber.“

„Was schreiben Sie eigentlich so ein seine Briefe?“, fragt er.
„Ich frag ihn – wie es ihm geht. Und dann sage ich ihm, wie es mir geht. Was ich so erlebt habe, was passiert in der Welt. Ich reflektiere manchmal ein bisschen, wie ich die Zeit so erlebt habe. Und wenn ich in der Studienstadt bin, dann schreibe ich ihm, wo ich überall gewesen bin. Ich frag ihn viel.“
„Reden Sie manchmal mit ihm?“
„Habe ich bisher eigentlich nur am Grab gemacht. War aber schon eine besondere Erfahrung.“
„Meinen Sie, Ihr Freund kommt heute Abend mal vorbei…?“
„Das ist so eine Sache… - nein, meine ich nicht.“
„Ich glaube, das wäre aber wichtig. Nur beisammen sein und Nähe zu spüren.“

Er schaut mich lange an.
„Da gab es Samstag so eine kleine Eskalation“, sage ich irgendwann (abgesehen davon, dass er sowieso kein Verständnis für solche Tage hat). „Ich möchte nicht wiederholen, was er gesagt hat.“
Ich spüre, wie sich meine Halsmuskeln anspannen, wie mein Kiefer fast steif wird.
„Versuchen Sie es mal zu erzählen“, fordert er mich auf.
„Bis Samstagnachmittag war es eigentlich so weit okay", sage ich nach einer Weile. "Und dann hatte ich die Idee, wir könnten uns noch die Füße draußen vertreten. Und dann… haben wir ein bisschen über die Beziehung geredet. Also er hat geredet.“ Und dann wiederhole ich es doch.
„Manchmal glaube ich, ich sollte doch mal anfangen mit Ihnen zu schimpfen“, sagt er. „Dass sich das wie ein Schlag ins Gesicht anfühlt, kann ich schon nachvollziehen, aber Sie dürfen eben nicht immer und immer wieder einen Schritt auf ihn zugehen und glauben, dass das irgendwo hin führt.“

Und dann spricht er davon, dass manche Menschen das Thema Beziehung und Sexualität komplett entkoppeln können. Sexualität ohne Beziehung sei für manche Menschen ein absolut gangbarer Weg und wenn es das für ihn ist, dann ist es okay und das macht ihn auch nicht zu einem schlechten Menschen, aber für mich ist es das ziemlich offensichtlich nicht.
„Frau Mondkind – Sie habe aktuell absolut keine Kapazitäten für dieses Hin und Her. Sie brauchen ein Ende von dieser Beziehung und auch wenn das hart ist – aber das geht nicht anders. Diese Dynamik zwischen Ihnen beiden wird sich immer weiter fortsetzen und ob er darunter leidet weiß ich nicht, aber Sie tun es massiv. Und das trifft Sie jedes Mal so tief, dass Sie das komplett destabilisiert.“

„Ist es nicht komisch, wo wir manchmal unser Herz verlieren? Ich glaube, manchmal geht es auch nicht nur um die Beziehung an sich, sondern um andere Dinge. Irgendwie ist es komisch zu realisieren, dass mich mein Bauchgefühl zu einem Menschen geführt hat, der offensichtlich eine Beziehung daran misst, wie gut man sich beim Thema Sex schlägt.“
„Woher sollten Sie das wissen, Frau Mondkind? Sie haben nur das von ihm gesehen, was er gezeigt hat. Und Sie haben ihn geliebt. Oder tun es immer noch.“
Und nach einer Pause.
„Und ich kann mich gut erinnern. Sie waren sehr glücklich, was Ihnen jeder hier gegönnt hat nach allem, was Sie erlebt haben. Und irgendwann haben Sie mal gesagt: „Er hat ein bisschen komische Ansichten und ich weiß nicht, ob das funktionieren wird.“ Das war die erste Unsicherheit.“
„Echt, habe ich das so gesagt?“
„Genau so, Frau Mondkind.“

„Und Glück in einer Beziehung ist glaube ich für Sie und für mich und für so viele andere Menschen Zeit mit Menschen zu teilen, die man liebt. Nicht mehr und nicht weniger. Und das haben Sie auch verdient mit einem Menschen. Und da geht es um Emotionalität. Und primär um nichts anderes.“

Am Ende landen wir beim Thema Suizidalität. Nach viel Schweigen. Vielem Suchen nach Worten. Und irgendwann ein bisschen Mut.
„Ich kann Ihnen nicht mal sagen, wie ich da so schnell hingekommen bin. Das war, als wäre eine Welle über mir zusammen geklappt und dann war das mit so einer heftigen Intensität da, dass mich das erstmal komplett umgehauen hat.“
„Ich kann Ihnen schon sagen, wie Sie dahin gekommen sind.“
Und nach einer Pause: „Was denken Sie denn gerade so darüber?“
Ich bin so dankbar, dass er das nicht verurteilt. Natürlich ist es kein Konzept auf emotionale Überforderung und Not immer mit Suizidalität zu reagieren, aber wenn es eben gerade so ist, dann ist es so. Das in den Griff zu kriegen, erfordert wahrscheinlich tatsächlich mal eine Therapie. Und Dinge zu finden, für die sich das Leben tatsächlich immer lohnt. Aber weil wir jetzt gerade Beides nicht lösen können, schaffen wir Ankerpunkte.
„Dieses Thema braucht Platz“, sagt er. 



Wir denken darüber nach, dass es im Leben so viel mehr als einen Menschen gibt, der sich jetzt eben von seiner Grundpersönlichkeit her anders entpuppt, als ich das erwartet hatte. Und das heißt nicht, dass er ein schlechter Mensch ist, er hat nur andere Werte und andere Prioritäten.
Und doch gibt es so viel mehr Menschen in meinem Leben, von denen es mir manchmal schwer fällt die zu sehen. Da gibt es gerade den Oberarzt, der Halt gibt. Die Kollegen, mit denen ich mich von Zeit zu Zeit zum Essen verabrede. Vielleicht auch einfach nur die Kollegen, mit denen ich gerne zusammen arbeite und die umgekehrt mit mir zusammen arbeiten. „Ich kenne niemanden Frau Mondkind, der Sie nicht als angenehmen Zeitgenossen empfindet. Und das müssen nicht immer super enge Bindungen sein. Das kann genau so etwas sein. Ein Netz, dessen Knotenpunkte verschieblich sind, aber das im Grunde immer da sind. Sie sind so eingebettet hier; vielleicht merken Sie das nicht mal richtig.“ Es gibt noch Freunde in der Studienstadt. Es gibt so viel, das ich noch erleben möchte. Ich möchte unbedingt mein Psychiatrie – Jahr in der Psychosomatik machen dürfen; ich möchte ausprobieren dürfen, ob mir das gefällt. Ich möchte mich noch entwickeln dürfen, ich möchte weiterhin in der ZNA arbeiten, ich möchte gute Dienste machen. Ich möchte mit den Menschen um mich herum noch ein bisschen durchs Leben gehen und die Welt entdecken.
Aber das geht eben nur, wenn ich im Leben bleibe und das Leben um mich herum auch sehe.

Obwohl ich mittlerweile völligst übermüdet bin und die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfisches habe, öffnet es glaube ich wieder etwas den Blick.
„Ich weiß nicht, wie es Ihnen jetzt zu Hause gehen wird. Ich schreibe Ihnen nochmal meine Nummer auf. Wenn etwas ist, melden Sie sich“, sagt er. „Ich verlasse mich darauf. Und wir können die Woche auch gern nochmal reden oder Sie klingeln nochmal durch.“
Ich nicke.
„Vielleicht soll ich langsam mal anfangen, auf die Großen zu hören“, sage ich.
„Vielleicht nicht per se auf die Großen“, erwidert er. „Vielleicht versuchen Sie ein bisschen was von der Lebenserfahrung mitzunehmen. Meine persönliche Meinung ist da ziemlich egal.“

Auf dem Weg heim.
Ich bin unendlich dankbar.
Am Abend spricht mich eine Kollegin an. Was ich denn am Nachmittag noch im Altbau gewollt hätte. Ich weiß nicht, wie lange diese kleinen Treffen noch fernab der Kollegen bleiben können.
Es ist irgendwie eine heiße Kiste.
Ob man sich schämen muss dafür?

Erstmal gehe ich jetzt eine Mütze Schlaf nachholen. 

Mondkind


Bildquelle: Pixabay


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