Momente aus dem Wochenende

Samstag.
Es dauert ein bisschen, bis ich an diesem Samstag aus dem Tee komme.
Die Woche hat mich doch geschlaucht. Von der Arbeit her. Und emotional.
Am Morgen bringe ich die Bude auf Vordermann, gehe kurz einkaufen und lese dann endlich mal wieder mein Buch weiter.
Gegen Mittag meldet sich der Kardiochirurg und sagt, dass er eine wilde Nacht hatte, irre müde ist und sich meldet, wenn er wieder klar denken kann.

Am Abend besuche ich meine Schwester und ihren Freund. Die waren heute wandern – ganz in der Nähe meines Lieblingsberges, zu dem ich nächste Woche auch noch möchte.
Der Abend ist entspannt. Wir quatschen, bestellen etwas zu essen und gegen Mitternacht fahre ich wieder nach Hause. Ich hatte gehofft, dass das Hoffest bei uns schon vorbei ist, aber die sitzen alle noch dort, hören Musik und quatschen und da werde ich natürlich auch sofort geködert.
Einer der Nachbarn kommt auf mich zu: „Du Mondkind, wir haben uns da so Gedanken gemacht – Du wurdest vor einigen Wochen vor dem Haus gesehen, wie Du da mit einem männlichen Wesen Händchen haltend entlang gelaufen bist. Das sah wirklich sehr niedlich und vertraut aus. Deshalb haben wir uns so gefragt: War das jetzt die Kennlernphase – oder hast Du jetzt einen Freund?“ Ai ai - ich merke schon. Der ehemalige Freund war so selten bei mir, dass das scheinbar vorher nie aufgefallen ist. Ich beschließe die Geschichte jetzt nicht großartig zu erzählen und die Steilvorlage des Nachbarn zu nutzen. „Das war die Kennlernphase und die ist jetzt beendet“, sage ich. „Schade“, entgegnet der Nachbar. „Wir hätten uns schon alle für Dich gefreut.“
Ein bisschen weh tut es schon. Wo immer der ehemalige Freund und ich herum gelaufen sind – ich habe von mehreren Seiten gehört, dass wir wie das „perfekte Paar“ gewirkt haben. Außenwirkung konnten wir scheinbar. 




Sonntag
Ich bin nochmal mit dem Intensiv – Oberarzt verabredet.
Erstmal gibt es mal wieder einen Ermahner – obwohl ich den, wie ich glaube, langsam gar nicht mehr brauche. Auf keinen Fall nochmal hin fahren – auch nicht für irgendwelchen Orga – Kram. Das kann man alles unpersönlich regeln, dafür muss man sich nicht sehen. „Sie wissen Frau Mondkind – das ist wie mit dem Drogen. Wenn Sie ein Mal wieder anfangen, fangen Sie wieder da unten an“, sagt er und deutet auf den Fußboden.

Er regt an, die Sache mit dem Kardiochirurgen etwas sportlich zu sehen. Sehr auf das Bauchgefühl zu hören. Insbesondere auch dann, wenn mich etwas stört. „Ich habe mir auch gedacht: Ich lehne mich jetzt mal entspannt zurück, schaue was passiert und was er so macht. Der Mann kann sich ja auch mal bemühen. Das muss ja nicht alles immer ich machen.“ „Genau so ist es, Frau Mondkind“, entgegnet der Intensiv – Oberarzt.
Ich reflektiere auch nochmal ein bisschen über den ehemaligen Freund. „Ich glaube das Problem zwischen uns war auch, dass wir übernatürlich viel aufgegeben haben, schon ganz im Anfangsstadium der Beziehung, und wir dann einfach dachten, dass es klappen muss. Der ehemalige Freund meinte zwar immer, ich hätte jetzt nicht so den Verlust gehabt, aber ich habe im Endeffekt eine sichere therapeutische Beziehung aufgegeben in einem Stadium, in dem eigentlich beiden Seiten klar war, dass ich weiterhin Therapie brauche und sicher bis heute bräuchte, weil die Dinge eben immer noch nicht verarbeitet sind. In Zeiten, in denen ein Therapieplatz zu bekommen ein bisschen ist, wie ein Sechser im Lotto, habe ich in meiner Situation schon viel aufgegeben. Und klar – er hat seine Ausbildung verloren. Und das finde ich gut, dass das jetzt bei dem Kardiochirurg und mir nicht so sein wird. Wir waren vorher alleine, wir können auch weiterhin alleine sein. Wir können viel gewinnen und nicht so viel verlieren. Ich glaube, das macht es um Längen entspannter. Ich glaube, dass ich in der Situation auch mehr für mich einstehen kann.“
So wie heute hatte ich ehrlich gesagt noch nicht so darüber nachgedacht. Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum ich in dieser Beziehung zum ehemaligen Freund immer super klein war und so kenne ich mich eigentlich gar nicht mehr. Für den Weg, den ich gehen musste, brauchte ich ein gewisses Standing, eine ganze Menge Mut und ich musste meine Meinung vertreten können und mit Menschen umgehen. Beim ehemaligen Freund habe ich mich manchmal gefühlt wie mein 21 – jähriges Ich vor dem Auszug von zu Hause. Ich wusste eben immer, ich verliere den aktuell wichtigsten Menschen in meinem Leben, der dann auch noch eine Doppelrolle hatte und davor hatte ich Angst und wollte ihn festhalten, aber er war wie ein Wildpferd, das sich nicht bändigen ließ und hat umso mehr aufgedreht, je mehr ich das versucht habe.  

Wenn es mal keine akuten Dinge zu besprechen gibt, dann reden wir über ein paar grundsätzliche Dinge was Beziehungen und Bezugspersonen anbelangt. Wir kommen nochmal über die Beziehung zu meinen Eltern zu sprechen. „Wahrscheinlich sollte ich, glaube ich, alles was wir besprochen haben, eigentlich mit meinen Eltern besprechen“, sage ich. „Das war meine erste Trennung von einem Freund, der noch lebt und obwohl ich 29 Jahre alt war, war ich eben überfordert damit. Aber bei meinen Eltern kommt da eben emotional nichts an, weil die sowieso der Meinung sind, dass ich an meinem Facharzt basteln soll und mich nicht mit Männern vergnügen soll.“ „Weil alles Vergnügen sowieso eine Form von Schwäche ist“, ergänzt der Intensiv – Oberarzt. „Genau“, sage ich. „Ich kann ja schon verstehen, dass unsere Definitionen von Glück etwas unterschiedlich sind. Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder glücklich werden und für unsere Eltern war Glück ja scheinbar nur über die Leistungsschiene möglich, aber spätestens, als diese Familie sich auseinander gelebt hat, als dieses ganze Familiensystem irgendwann in der fünften oder sechsten Klasse völligst gecrasht ist – da hätte man doch mal reflektieren müssen, was man da eigentlich macht. Und dass Noten wichtig sind in einer Leistungsgesellschaft, das leuchtet mir schon ein, aber das so bis ins Extremste zu treiben, das war in irgendeiner Form pathologisch. Das habe ich mit meinen 12 Jahren doch schon hinbekommen das zu sehen und recht genau analysiert, das hätten meine Eltern doch auch schaffen sollen, aber ich war da auch etwas hilflos.
Ich hatte meine Bezugspersonen immer im Außen und nie in der Familie drin und das waren natürlich höchst unsichere Situationen und Bindungen und die haben auch gewechselt über die Zeit. Am Anfang waren das mal Lehrer, zwischendurch mal die Ambulanz, die Psychiatrie, wenn nichts mehr ging, jetzt sind Sie das eben gerade mal und klar – ich wünsche mir immer, dass solche Menschen bleiben und weiß aber genau, dass das nicht geht, wenn sich das Außen ändert, weil all diese Ersatz – Bezugspersonen eben nicht die primären Bezugspersonen sind. Und ich glaube, das ist auch so ein bisschen traumatisierend über die Zeit – diese ständige Verlusterleben, einfach der Struktur wegen, das sich konstant durch mein Leben gezogen hat. Und gleichzeitig war eine zumindest kurzzeitig verfügbare Bezugsperson besser als gar keine Bezugsperson. Und meine Mama ist ja bis heute irgendwie so emotional abgestumpft. Wir telefonieren ja sehr selten, aber wenn wir dann mal reden und ich irgendwas erzähle, dann kommt nicht selten etwas wie „Mondkind ich muss jetzt die Wäsche machen“, und dann legt sie einfach auf. Was soll ich denn damit?“
Lösen können wir das natürlich nicht, aber verstehen kann der Intensiv – Oberarzt mich und es tut schon mal gut wahrzunehmen, dass meine Sicht der Dinge verstanden und nicht verurteilt wird. Der Intensiv – Oberarzt erklärt, dass manche Menschen das mit der Empathie eben einfach nicht so können, aber dass die es eben meist in ihren Ursprungsfamilien auch nicht haben lernen können. Er spricht elterlichen Narzissmus an und ich sage, dass darüber schon mal gesprochen wurde, aber man das nie wird auflösen können, weil meine Eltern nie einen Fuß in ein Therapiezimmer setzen werden. „Es geht auch gar nicht darum, sie anzuklagen. Ich möchte einfach nur verstehen, warum das so war und weiterhin ist, wie es eben gekommen ist. Diese Extreme, die es waren. Man macht sich natürlich schon Gedanken, ob das etwas mit einem selbst zu tun hat“, erkläre ich. „Das verstehe ich, aber wahrscheinlich hat es mit Ihnen weniger zu tun, als Sie denken“, sagt der Intensiv – Oberarzt.

„Wissen Sie“, setze ich nochmal an, „manchmal überlege ich mir, ob das so eine schlaue Idee ist, irgendwann mal Kinder zu bekommen. Ich möchte eben nicht, dass die mit Anfang 20 von zu Hause flüchten müssen, völligst kaputt und sozial isoliert, weil das zu Hause einfach nicht mehr geht.“ „Sie haben das ja schon gut reflektiert. Und wenn Sie soweit sind, dann können Sie es anders machen“, entgegnet der Oberarzt. „Ja schon und mir ist auch klar, dass ich meine Kinder lieben möchte unabhängig von deren Leistung oder dass sie das machen, was ich möchte, aber ich denke mir, dass es schwer ist das umzusetzen. Wie soll ich das wissen, wenn ich das selbst nicht erlebt habe, wie das geht?“ Er wiegt den Kopf hin und her. „Es finden sich sicher Möglichkeiten. Therapie, Coaching. Das Wichtigste ist das Bewusstsein.“

„Wenn man Sie jetzt so erlebt, dann würde man nicht denken, dass Sie mal so sehr isoliert waren und ein Bewegen in der Gesellschaft erst mühsam lernen mussten“, meldet er mir nochmal zurück. „Sie sind ein sehr offener, kommunikativer und sozialer Menschen geworden und allgemein zu lieb für die Welt.“ Solche Kommentare berühren mich dann schon.

Wir kommen nochmal auf den Kardiochirurgen. „Ein bisschen Sorgen mache ich mir ja hinsichtlich des Kennenlernens schon“, sage ich. „Der ehemalige Freund wusste das alles, bevor wir ein Paar geworden sind. Aber wie ich ihm jetzt die Familienumstände erklären soll, dass ich seit 2017 mindestens 10 Monate in der Psychiatrie verbracht habe und dann auch noch mein erster Freund durch einen Suizid gestorben ist – dass er da nicht schreiend weg läuft, dürfte einem Wunder gleich kommen. Und ich kann das ja nicht alles verschweigen – es prägt meinen Alltag ja schon bis Heute.“ „Sie müssen ja nicht mit der Tür ins Haus fallen. Erzählen Sie von den guten Dingen. Und ja – das wird irgendwann mal Thema zwischen Ihnen werden müssen. Und wenn Sie eine Beziehung führen wollten, dann müsste er sich eben damit auseinander setzen. Sie haben das ja alles ganz gut im Griff. Aber es wird nochmal schwierige Momente geben.“

Als ich später nach Hause komme, war der Plan eigentlich noch ein bisschen Haushalt zu machen – auch Dinge, die man nicht so häufig tut, wie zum Beispiel Kaffee – Maschine entkalken. Aber nachdem ich ein paar Seiten gelesen habe, bin ich so erschöpft, dass ich einfach einschlafe.
Ich merke schon, wie ich mich bemühen muss, nicht wieder völlig in die Lethargie zu verfallen, wenn ich Urlaub habe, nicht viel vor habe und alleine bin.

Der Kardiochirurg hat sich übrigens seit Samstag nicht gemeldet. Morgen werde ich ihn mal fragen, ob er nicht langsam wieder „klar denken“ kann. Aber ehrlich gesagt bin ich schon sehr skeptisch, wenn das schon so los geht.

Mal schauen, was der morgige Tag so bringt. Ich wollte mich mal um den Briefkastenschlüssel kümmern – mal schauen, ob man im Dorf hier irgendwo einen Schlüssel nachmachen lassen kann, damit ich wieder Zwei habe. Und ein bisschen bummeln in der Stadt wollte ich mal. Ich könnte mal noch eine Sommerhose gebrauchen und allgemein müsste ich vor der Psychosomatik, wo man dann in Privatklamotten herum läuft, meinen Kleiderschrank mal etwas auffüllen. Damit könnte ich schon mal in aller Ruhe anfangen, damit auch wirklich nur Dinge kaufe, die mir auch gefallen und die ich tragen werde.


Mondkind


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