Drei Jahre

Mein lieber Freund,
drei Jahre.
Heute ist es genau drei Jahre her, dass morgens um kurz nach sechs Uhr das Handy geklingelt hat. Ich weiß es noch wie heute. Wie ich auf diesem Sofa, das schon längst aus der Wohnung fliegen sollte, aber immer noch hier steht, im Schneidersitz vor meinem Kaffee saß, den ich gerade vor dem Arbeitstag noch trinken wollte. Ein Freitag war das.
Ich kann mich erinnern, dass es eine unbekannte Nummer war und wie ich trotzdem wusste, dass das etwas mir Dir zu tun hat und dass sich jetzt meine Welt für immer ändern wird.
Und das ist dann auch passiert.

„Mondkind, er lebt nicht mehr“, war einer der ersten Sätze Deiner Mum.

In diesem Moment war es, als sei ich mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs gewesen und sei dann gegen eine Mauer geprallt, die plötzlich einfach vor mir aufgetaucht wäre. Es hat sich angefühlt, als wäre mein Körper innerhalb einer Millisekunde in Tausende Einzelteile zerisseen worden und als hätte sich ein minikleiner Teil der Seele aus dieser Kollision gerettet und hätte dann quasi als Geist daneben gestanden.

Und dann begann die Reise. Aufräumen von etwas, das innerhalb von dieser Millisekunde mein Leben für immer in ein Davor und ein Danach eingeteilt hat.

Ich glaube mit drei Jahren Abstand werden einem die Menschen bewusst, die damals in den ersten Tagen danach eine tragende Rolle gespielt haben. Die wenigsten davon waren erwartet.
Da war der Epilepsie – Oberarzt, der mich zur Rede gestellt hat und der dann mit dem Chef und einigen Oberärzten in den Tagen danach geredet hat. Ich weiß bis heute nicht, wo das geendet hätte, hätte ich das alleine mit meinem Chef und dem Stroke – Oberarzt klären müssen. Wahrscheinlich hätte der Stroke – Oberarzt mir schon damals eine Inszenierung der Geschichte unterstellt, vielleicht hätte er schon eher den Satz: „Ihr wart immerhin nicht 10 Jahre verheiratet und hattet fünf Kinder – also stell Dich nicht so an“ gebracht und vielleicht wäre das der Punkt gewesen, den die Seele – und damit ich – nicht mehr überlebt hätten. Aber wir hatten uns dann nicht mehr gesprochen vor meiner Abreise und das war glaube ich retrosepektiv das Beste, das mir hätte passieren können.
Dann gab es den Herrn Kliniktherapeuten, der mich wenige Tage später in der Studienstadt in Empfang genommen und mich in die Notaufnahme begleitet hat. Während der Tage, als ich noch hier war, immer mal angerufen hat, ob die ganzen Vorbereitungen laufen. Und, der mich dann irgendwie durch halb Deutschland zu sich gelotst hat. Und auch, wenn das dann in der Folge zwischen uns nicht mehr gut lief – dafür werde ich ihm für ewig dankbar sein.

Drei Jahre ändern irgendwie das Erleben ein bisschen.
Und weißt Du – das ist nicht so, dass die Sache jetzt verarbeitet wäre. Ich glaube, den größten Schritt in Sachen Verarbeitung habe ich im letzten Klinikaufenthalt und im Rahmen des Besuchs an Deinem Grab gemacht. Und ich glaube im Rahmen der Klinik war es hauptsächlich die Ruhe – ansonsten können Menschen, die das nicht erlebt haben, da gar nicht viel machen. Aber mit diesem Job hast Du so einen realen und emotionalen Workload, dass Du gar nicht wirklich zur Ruhe kommst. Und dort hatte ich die aber, habe viel gelesen, das Gelesene reflektiert und mir viele Gedanken zum Thema Vergebung gemacht, aus dem der 19 – Monate – Brief entstanden ist, an den ich immer noch oft denke und an dem ich mich festhalten möchte.

Die ehemalige Freu Therapeutin aus der Studienstadt sagte mal: „Sie werden lernen müssen, mit den offenen Fragen zu leben.“ Das war am Anfang unglaublich hart, denn ich wollte Antworten und war mit dieser Sicht auf die Dinge nicht einverstanden.
Heute weiß ich, dass man real gesehen, nicht immer so erschüttert bleiben kann, wie in den ersten Monaten nach dem Ereignis. Es ist wie mit Wellen von Gefühlen – seien das Traurige oder sehr gute Gefühle – sie alle flachen irgendwann ab.
Ich glaube, wenn man bildlich betrachten möchte, dann ist es so, dass das „Leben Danach“ tatsächlich ein ganz anderes ist, als das „Leben davor“. Es ist nicht nur so, dass ich mich geändert habe, Dinge anders sehe und anders wertschätze, Ängste entwickelt habe, die ich vorher gar nicht kannte, es ist auch so, dass die Welt um mich herum und wie ich sie wahrnehme sich verändert hat. Bis hin zu der Tatsache, dass ich manchmal das Gefühl habe, dass selbst die Farben in der Welt grundsätzlich die Gleichen geblieben sind, aber andere Nuancen haben.
Und je länger Du in dieser Welt bist, desto mehr gewöhnst Du Dich dran – auch wenn die Fragen nicht anders oder weniger werden. Ich wüsste immer noch gern, wann genau Du gestorben bist, ob es real möglich gewesen wäre, noch etwas zu retten, wenn ich an jenem Abend in die Studienstadt gedüst wäre. Ich wüsste immer noch gern, ob Du leiden musstest, weil ich so viel Angst habe, dass es so war. Ich wüsste gern, ob Du diesen Punkt erlebt hast, an dem Du wusstest, dass das jetzt unumkehrbar ist und ob Du es vielleicht am Ende bereut hast. Und ich wünsche mir für Dich, dass Du es nicht getan hast, dass Du in Frieden gegangen bist.
Ich hätte gerne gewusst, ob Du – wenn man Dich gefragt hätte – es hättest formulieren können, was genau Dich in den Suizid getrieben hat – was war dieser Gedanke oder dieses Ereignis, das das Fass zum Überlaufen gebracht hat und hätte ich Dir die Sicherheit geben können, die Du gebraucht hättest.
All die Fragen sind immer noch da. Mein Gehirn gewöhnt sich daran, sie gelegentlich mal durchzukauen, um dann frustriert festzustellen, dass ich es nie wissen werde. Und ich stelle sie nicht mehr laut in meinem Umfeld, weil drei Jahre für die meisten Menschen ein Zeitraum sind, nachdem man zumindest nicht mehr laut darüber reden sollte.
Darcy Oake hat mal gesagt: „Losing someone you love is like living with a brick in your pocket. The weight never goes away you just get used to carrying it around.“ Und genauso ist es. Du lernst irgendwie mit dieser neuen Welt und dem Schmerz darin zu leben. Weil Du ja auch keine Wahl hast. Und manchmal fühlt es sich selbst schmerzhaft an, an den Schmerz gewöhnt zu sein. Als würde das den Verlust irgendwie relativieren.

Abschiede sind ein großes Thema seitdem.
Ich lebe die meisten Abschiede, als ob sie für immer sein müssten.
Und ich weiß nicht, ob ich wirklich damit rechne, den Menschen nicht mehr wieder zu sehen, wenn es klar ist, dass wir mal einige Zeit getrennt sind, aber mir sind Abschiede im Guten wichtig. Und mir ist es eigentlich wichtig, dass man sich vorher die Dinge sagt, die gerade wichtig auf der Seele sind. Das klappt nicht immer.

„Ich würde ein Jahr meines Lebens für einen Tag mit Dir geben“, singt Florian Künstler.
Ich schwöre Dir, wenn das möglich wäre, dann würde ich das sofort, ohne auch nur eine Minute zu zögern, tun.
Wir würden uns sehen, in der Studienstadt, dort am Fluss und wir würden über die wichtigsten Dinge reden, die wir uns nicht mehr sagen konnten. Und ich glaube immer noch daran, dass wir am Ende dort stehen könnten, uns in den Arm nehmen könnten, uns gegenseitig ehrlich und aufrichtig vergeben könnten und uns verabschieden und loslassen könnten bis zu dem Moment, wo meine Zeit auf dieser Erde auf vorbei ist und wir für immer beieinander sein werden. Irgendwo auf der anderen Seite des Seins.

Ich liebe Dich
Und vielleicht sehen wir uns schneller, als ich dachte.
Mondkind


***

So – wer war in der Nacht bis nach 2 Uhr in dieser verdammten Klinik und darf heute zum Frühdienst in der Notaufnahme wieder antanzen?
Richtig – hundert Gummipunkte für den, der auf die Mondkind getippt hat.
Ich habe zu Hause mal zwei Stunden geschlafen – ein kleiner Mittagsschlaf am Rand – und jetzt geht es weiter.
Ich muss wahrscheinlich gar nicht erwähnen, wie es mir geht. Ich lebe immer noch irgendwo in eine Welt, in die mich das Gespräch mit dem Freund katapultiert hat, aber ich bin so müde, dass ich kaum noch klar denken kann. Sich so auf jemanden zu freuen und sich dann so verabschieden zu müssen ist immer sehr, sehr schlimm.

Ich weiß es nicht. Als wäre das nicht alles genug gewesen, hatten wir natürlich gestern jemanden mit Zustand nach missglückten Suizidversuch bei uns. Da war dann die Polizei mit vor Ort, hat dort sogar gewartet und als der Patient körperlich stabil genug war, ging es direkt in Richtung Psychiatrie. Das darf so halt auf gar keinen Fall passieren.
Ich weiß immer noch nicht, was ich heute mache. Ob ich irgendwen teil haben lasse an diesem Hirn, das so unter Strom ist. Oder nicht.
Ich glaube irgendwie weiß man schon, dass das keine adäquate Reaktion ist. Aber es ist gerade weiterhin nicht anders denkbar. Das ist emotional alles einfach zu viel.

Mal schauen, wie es los geht. Ich muss zumindest zur Frühbesprechung für die Übergabe und dann war ja der halbe Landkreis gestern schon da… - eigentlich müssten doch die Patienten heute leer sein…

Mondkind


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Drittes Staatsexamen - ein Erfahrungsbericht

Reise - Tagebuch #2

Von einem Gespräch mit dem Kardiochirurgen