Von einer Begegnung und ein paar Gedanken dazu

„Darf ich mal das Spätdiensttelefon haben?“, frage ich, als wir am Nachmittag alle zusammen im großen Arztzimmer sitzen.
„Wieso brauchst Du das Mondkind?“
„Ich muss wen anrufen“, entgegne ich.

Am Morgen hatte der Oberarzt der Stroke Unit nachgefragt, wie weit wir denn mit unserem kardiochirurgischen Konsil sind, das seit dem Vortag aussteht. „Gestern Nachmittag war der Kardiochirurg ewig im OP und heute Morgen habe ich ihn nicht erreicht“, hatte ich geantwortet.
Still habe ich gehofft, dass der Chirurg heute nicht im dienstfrei ist. Aber ich wollte ihn jetzt nicht das dritte Mal innerhalb von fünf Stunden mit demselben Telefon anrufen – deshalb hatte ich mir gedacht, vielleicht würde das die Sache ein bisschen besser machen, wenn ich mir das Spätdienst – Telefon leihe.

Der Kollege reicht es mir rüber und ich lasse es in meine Kitteltasche versinken.
In dem Moment klingelt mein privates Telefon und ein paar recht aufgebrachte Angehörige sind in der Leitung. Während ich gerade versuche die zu beruhigen, fegt plötzlich der Kardiochirurg ums Eck in unser Arztzimmer. „Du hattest versucht mich anzurufen heute früh“, legt er los. Ich winke ihm und deute auf mein Telefon, verspreche den Angehörigen, dass ich sie zurück rufe und lege auf.

„Ich muss dringend etwas erledigen“, sagt eine der Kolleginnen. „Gib mal dem Kollegen sein Spätdiensttelefon zurück“, sage ich und reiche es ihr schnell, ehe die Kollegin auch die beiden anderen Kollegen, die sie etwas verdutzt anschauen, aus dem Arztzimmer schiebt und die Tür hinter sich schließt.

„Also – wir haben da ja noch einen unserer kardiochirurgischen Patienten“, lege ich los. Wir besprechen kurz das recht unkomplizierte Anliegen und dann berichte ich ihm noch, dass unser letzter gemeinsamer Patient tatsächlich auch einen Schlaganfall hatte und zeigte ihm die Bilder. Ich erzähle auch, dass es ihm erfreulicherweise sehr gut geht – sogar so gut, dass die Neurologie jetzt eher ein nachrangiges Problem ist und er getrost auf kardiologische Reha gehen kann.

„Du kommst aber auch nicht von hier, oder?“, fragt er. „Nein“, entgegne ich und erzähle, wo ich studiert habe. „Darf ich mich setzen?“, fragt er und zieht sich den Stuhl der Kollegin ran. „Und wie bist Du dann hierher gekommen?“, möchte er wissen. „Ich weiß nicht, ob Du etwas davon gehört hast, aber ich war damals im kardiovaskulären Praktikum“, entgegne ich. „Klar habe ich etwas davon gehört – ich war da auch“, entgegnet er. „2015 glaube ich“, fügt er hinzu. „Ich glaube, ich war 2016“, sage ich. „Naja, das wüsste ich, wenn Du mit mir dort gewesen wärst“, merkt er an.
Wir reden eine Weile. Darüber, wo wir aufgewachsen sind, wo wir studiert haben, wie wir zu unseren jetzigen Fachrichtungen gekommen sind. Wir reden über das Dienstsystem in unseren Abteilungen, wie lang unsere Tage auf der Arbeit sind.
In der Zwischenzeit klingelt drei Mal mein Telefon. Und irgendwie habe ich auch die ganze Zeit Sorge, dass jemand ins Arztzimmer kommt – normalerweise geht es dort am Nachmittag nämlich zu wie im Taubenschlag – und unser Gespräch sehr jäh beendet. Deshalb beschließe ich irgendwann, dass es jetzt mal Zeit ist, einen kleinen Vorstoß zu wagen, nachdem das Telefon das vierte Mal geklingelt hat und ich nicht dran gegangen bin. „Wir können unser Gespräch ja auch wann anders und woanders fortsetzen“. „Ich habe auch noch viel zu tun, ich sollte ein paar Aufklärungen machen und Du bist auch sehr gefragt hier. Aber wir sehen uns bestimmt bald“, sagt er und dann ist er recht schnell weg. Das war… nicht ganz so geplant.

Kaum ist er weg, kommen die Kollegen wieder ums Eck.
„Wir haben aufgepasst, dass niemand rein kommt und Euch stört“, sagt eine der Kollegen.
„Ich habe mich schon gewundert, warum es ruhig ist“, entgegne ich und bedanke mich. 

Manchmal braucht es Mut. Sich selbst und anderen gegenüber



***

Auf einer sehr oberflächlichen Ebene ist das tatsächlich alles sehr schön.
Tatsächlich spüre ich bei ihm mein Herz, wenn er um die Ecke biegt.
Und gleichzeitig wirft es alles viele Fragen auf, viele Überlegungen, viele Gefühle, viel Sehnsucht.

Es ist ja überhaupt mal die Frage, wie ernst er das alles meint.
Kommt er zu jedem Kollegen aus einer anderen Fachabteilung einfach angeschlappt, der ihn anruft? Ich weiß nicht mal, wo man die Kardiochirurgen überhaupt findet – da ist er wesentlich weiter als ich. Auf meine kritische Nachfrage, ob mir das alles etwas sagen soll, würde der ehemaligen Freund sagen:  „Ich habe mir gar nichts dabei gedacht.“ Aber üblich ist es eben nicht, dieses Verhalten.
Am Ende war er dann recht schnell weg. Ist es ihm in dem Moment zu heiß geworden? Oder hat er gar nicht so genau verstanden, was ich ihm da durch die Blume sagen wollte? (Ich habe das Dienstmodell der Kardiochirurgen auch einfach nicht verstanden, weil zwischendurch vor Aufregung (und dem Versuch diese zu verbergen) nur Watte in meinem Hirn war).

Und selbst wenn er das ernst meint – ich habe in den letzten Tagen nachspüren dürfen, dass ich in der letzten Beziehung gelernt habe, dass es nicht einfach ist mit den Beziehungen. Vielleicht war es, weil die Erste so unkompliziert war. Weil wir uns gefunden haben und es dann einfach ein „Wir“ gab, ohne das ständig zu hinterfragen.
Aber die letzte Beziehung hat mir gezeigt, dass es bisweilen sehr anstrengend und schwierig sein kann, dass es passieren kann, dass Grenzen permanent übertreten werden, wenn man nicht genug aufpasst. Dass es richtig böse enden kann mit einem sehr verletzten Herz und einer sehr verletzten Seele und dass das dazu führen kann, dass man noch mehr an sich zweifelt als ohnehin schon. Bin ich so okay? Bin ich liebenswert? Kann ein Mann mich in seinem Leben haben wollen? Werde ich jemals – mit dem Ich das ich bin – nochmal eine feste Bindung führen können, Familie gründen können? Was waren meine Fehler in dieser Beziehung, wie kann ich vermeiden, die nochmal zu machen?

Ehrlich gesagt, obwohl ich mich sehr hingezogen fühle zu ihm, frage ich mich gerade, ob ich jetzt aktuell die Kraft hätte, all die ersten Male, die immer auch mit vielen Zweifeln verbunden sind, nochmal zu erleben. Der ehemalige Freund und ich – wir kannten uns irgendwann. Wir wussten, was beim anderen ging und was nicht. Wir kannten unseren Lebensstil. Ich wusste zum Beispiel, dass ihm meistens völlig egal war, was ich für Klamotten getragen habe – während zum Beispiel beim Freund meiner Schwester striktes Jogginghosenverbot besteht. Dafür wusste ich, dass der ehemalige Freund super umweltbewusst war und mir auch viel beigebracht hat, gerade was die Auswahl von Lebensmitteln anbelangt und ich das heute genauso handhabe wie er.
Aber man kann da am Anfang in viele Fettnäpfchen treten, muss viel ausloten, sehr aufmerksam sein.

Und tatsächlich – und auch das möchte ich mir merken – ist es von dem „sicheren Standpunkt“ aus, den ich jetzt habe einfacher, auf die letzte Beziehung zurück zu schauen. Jetzt, wo ich spüre, dass der ehemaligen Freund vielleicht nicht der einzige Menschen auf der Welt war, der ein Interesse an mir hatte, wenn ich umgekehrt auch ein Interesse habe. (Und mittlerweile hat er es eben auch einfach nicht mehr – so gern wie ich das auch hätte).
Heute kann ich sehen, dass diese vergangene Beziehung auch viel Erfahrung war. Vielleicht war das Wichtigste, dass ich mich damals getraut habe. Dass ich gesagt habe, dass ich trotz meiner Vorgeschichte wieder einen Menschen lieben kann. Und mir das auch erlauben kann. Dass es nicht einfach werden wird und ein paar Gewissensbisse dem verstorbenen Freund gegenüber immer bleiben werden, aber dass das vielleicht auch okay ist. Ich kann es aushalten, weiß ich heute. Es gehört zu mir und trotzdem kann ich die guten Zeiten genießen. Ich habe sehr viel über Intimität gelernt, konnte meine Grenzen da schon etwas verschieben. Ich habe gelernt mir zuzugestehen, dass Nähe für mich ein ganz schwieriges Thema ist, aber eines, für das es sich lohnt zu kämpfen, weil es so schön ist, diese Nähe leben zu dürfen.

Ich habe gelernt, dass Beziehung vielleicht mit Anziehung anfängt, dass das sogar eine Voraussetzung ist, aber dass es damit eben nicht aufhört. Und da haben „die Großen“ – aka mein Intensiv – Oberarzt – sicher Recht: Für eine Beziehung müssen die Lebenskonzepte zusammen passen.
Ich habe gelernt, dass es vermutlich nicht um Schnelligkeit geht. Sondern im Gegenteil – um einen intensiven Austausch, ein intensives Kennenlernen, ein intensives Abstecken von Grenzen. Die ersten vier Wochen einer Beziehung sind die Wichtigsten, sagte mal ein Kumpel. In dieser Zeit müssen die Grenzen ausgelotet werden und es muss klar sein, dass jegliches Aufeinander zugehen danach ein Kompromiss ist, der auch der Wertschätzung bedarf.
Und am Ende geht es wahrscheinlich am allerwenigsten um das, was zwei Menschen einst zusammen geführt hat: Um die Anziehung. Die Anziehung vergeht. Wahrscheinlich genau dann, wenn die rosarote – Brille – Phase vorbei ist. Und das was übrig bleibt ist wahrscheinlich das, was sich bis dahin zwischen zwei Menschen entwickelt hat. Und im besten Fall ist das wahrscheinlich Liebe. Und wahrscheinlich ist es ein Fehler Liebe und Anziehung zu verwechseln. Und so retrospektiv ist das wahrscheinlich auch beim ehemaligen Freund und mir passiert. Ich wusste es damals nicht besser und deswegen soll ich mir das vielleicht verzeihen können. Aber wenn man mal ehrlich ist: All unsere Ideen vom Leben passen eigentlich überhaupt nicht zusammen. Nicht mal unsere Definition von Freundschaft passt zusammen. Es ist traurig, aber es scheint so zu sein.

Was den Kardiochirurgen angeht, raten die Kollegen zur Geduld.
Allein eine Interessensbekundung kann viele Gedanken, viele Überlegungen nach sich ziehen.
Auch, wenn er ziemlich sicher Single ist (ein Kollege kennt seine Schwester...) – aber vielleicht dauert es tatsächlich Monate bis zum ersten Date, ich wüsste jedenfalls nicht, wo wir uns so schnell nochmal sehen sollten, wo doch morgen die letzten beiden kardiochirurgischen Patienten von der Station gehen. Vielleicht wird es dieses Date auch nie geben und dann ist das auch okay. Es gibt nicht nur den einen Menschen, den man lieben kann. Irgendwann. Vielleicht. Vielleicht darf man sich selbst und auch niemanden anderen darauf festnageln.

Ich hatte ja auch mal irgendwann gesagt, dass ich nie mit einem ärztlichen Kollegen zusammen sein möchte, weil wir uns wahrscheinlich mit all den Diensten so gut wie nicht sehen. Und trotzdem hat das natürlich auch Vorteile. Wir verstehen den anderen, ohne viel erklären zu müssen. Wir standen schon zusammen nachts um Zwei völlig übermüdet im CT – wir wissen beide, dass wir nach dem Dienst nicht mehr die Welt einreißen, dass freie Zeit zu schätzen ist, dass manche Dinge einfach unplanbar bleiben und auch die Flexibilität desjenigen erfordern, der sie in der Situation eben hat. „Die Tage fangen um 10 nach 7 an mit open end“, sagte der Kardiochirurg und hat dann aber hinzugefügt, dass er in der Regel schon um 19 Uhr fertig ist. Aber – in der Regel. Garantien gibt es nicht in diesem Job.
Und vielleicht kann dieses blinde Verständnis für den anderen an genau dieser Stelle auch unendlich wertvoll sein. Ich glaube, der ehemalige Freund hat bis zum Ende nicht genau verstanden, was ich hier teilweise mache und manchmal war es hart zum Beispiel zu hören, dass man einen 24 – Stunden – Dienst doch auch mit vier Stunden Schlaf hinbekommt. Ich glaube, über so etwas müsste man mit Partnern im selben Job nicht diskutieren.

Und trotzdem glaube ich, dass es auch darum geht, Menschen kennen zu lernen. Vielleicht sogar ohne, dass es jemals eine Beziehung wird. In zwischenmenschlichen Bindungen zu lernen. Über sich selbst, über den anderen und über Beziehungen an sich. Vielleicht geht es darum, Lebenserfahrungen zu sammeln.
Und die gibt es immer zu sammeln in solchen Dingen. Und die besten Erfahrungen, die bleiben eben. Und vielleicht findet sich ja irgendwann mal der Richtige. So schwer es mir auch fällt, aber wahrscheinlich muss man es ganz langsam angehen lassen. Nichts erzwingen, alles irgendwie fließen lassen.
Genau das haben, das ich nicht habe. Ein Urvertrauen ins Leben, in die Welt, darin, dass die richtigen Dinge zum richtigen Zeitpunkt kommen – und auch wieder gehen.

Und natürlich vermisse ich den ehemaligen Freund immer noch. Aber vielleicht ist das okay. Anziehung zu spüren und zu vermissen gleichzeitig. Sich zu wünschen, das mit dem ehemaligen Freund hätte nicht so geendet, wie es das hat und gleichzeitig zu hoffen, dass es vielleicht eine neue Chance gibt. Mit einem anderen Menschen, weil der ehemalige Freund und ich scheinbar fast nur verbrannte Erde zurück gelassen haben.
Und vielleicht ist es okay, dass es immer ein klein bisschen (oder manchmal auch gar nicht so wenig) weh tun wird, an den ehemaligen Freund zu denken. Denn wir hatten ja mal Pläne. Zumindest ich hatte mal die grobe Fantasie ihn zu heiraten, eine Familie mit ihm zu gründen. Aber jegliche zwischenmenschliche Interaktion ist eben Dynamik zwischen zwei Menschen und manchmal endet auch der sehnlichste Wunsch in der Leere. Und dann muss man das irgendwann akzeptieren. Auf welche Art auch immer. Manche können Freunde bleiben. Andere nicht.
Und manchmal denke ich - vielleicht hatte der ehemalige Freund Recht und wir hätten einfach noch ein bisschen Therapie miteinander machen sollen. Ich war sehr naiv damals, was das ganze Thema Beziehung anging. Ich wünschte, ich hätte all die Erkenntnisse gehabt, die ich heute habe. Ob uns das gerettet hätte, weiß ich nicht. Vielleicht hätte es uns aber zumindest viel erspart.

Mein Hirn ist ganz durcheinander heute. So viele Emotionen nebeneinander.
Aber es ist okay.


Mondkind


Kommentare

  1. Ach Mondkind... - das ist eine schöne Geschichte mit diesem Chirurgen. Deine Kollegen ziehen ja auch mit, wenn sie "Schmiere stehen" . Willst Du nicht mal irgendwann ein Buch schreiben...?

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