Frohe Weihnachten

Zunächst mal wünsche ich allen Leserinnen und Lesern ein ruhiges und besinnliches Weihnachtsfest. Und da ich weiß, dass nicht jeder bei seiner Familie sein kann oder will und manche Leute in diesen Tagen auch arbeiten müssen hoffe ich, dass diese Menschen zwischendurch auch zumindest ein paar gute Momente finden zwischen dem, das vielleicht auch schwer ist. 


 

Samstag.
Der Kardiochirurg hatte Dienst bis morgens um acht Uhr. Ich hoffe, dass ich dann zeitnah etwas von ihm höre. Ob das nun ein „Ich bin zu Hause und wir können mit den Weihnachtsvorbereitungen starten“ ist oder ein „Ich gehe noch in die Samstag – Früh – OP“, das ist ja erstmal zweitrangig – obwohl ich natürlich lieber Ersteres hören würde, aber es wäre zumindest schön, den Tag planen zu können.
Allerdings – wie so oft – ist das eine Fehlanzeige. Zuerst finde ich das gar nicht so schlimm, weil ich noch die Wäsche machen muss, die Wohnung ein bisschen aufräumen und putzen muss, die letzten Geschenke einpacken möchte und dann auch noch eine Weihnachtskarte für den Kardiochirurgen schreiben möchte. Bis Mittag bin ich so schon mal gut beschäftigt. Irgendwie komme ich dann zu der Idee, ob ich mir nicht mal ein Bild von uns beiden aufstellen möchte. Und dann frage ich mich, warum ich dem Kardiochirurgen nicht auch eins schenke. Und obwohl ich ja schon alles zusammen habe, aber es offensichtlich noch Zeit hat, gehe ich nochmal in die Stadt, nachdem ich die besten Bilder raus gesucht habe, drucke die aus und organisiere einen Fotorahmen.

Was es zu Weihnachten zu essen gibt, habe ich übrigens gestern schon einfach so beschlossen. Ich habe irgendwie schon geahnt, dass die Kommunikation schwierig werden würde und ich fange sicher nicht an, am 23.12. um 17 Uhr das Weihnachtsessen zu planen. Also habe ich entschieden, es gibt einen vegetarischen Weihnachtsbraten. Ich habe meine Schwester gefragt, was es bei ihr und ihrem Freund gibt und nachdem sie dasselbe Rezept raus gesucht haben wie ich (das war wirklich Zufall), das natürlich ganz professionell schon ausprobiert und für gut befunden haben, habe ich gedacht, dass es dann für den Kardiochirurgen und mich schon auch passen wird. Zum Nachtisch gibt es dann gebackene und gefüllte Kaki. Und damit sind wir, denke ich, gut bedient.

Gegen 15 Uhr schreibe ich dem Kardiochirurgen mal, dass diese Situation genau das ist, was ich gemeint habe. Der Dienst ist seit mehr als einem halben Tag vorbei, wir sind eigentlich zumindest grob verabredet, haben auch – wenn man ehrlich ist – noch eine Menge zu tun und ich weiß einfach nicht, was los ist. Schläft er nach dem Dienst? Ist er immer noch im OP und muss danach erstmal schlafen? Kann ich schon irgendetwas machen?

Gegen 16 Uhr meldet er sich dann, dass er wach ist, noch duschen muss und anschließend startklar und wieder vorzeigbar ist. Einkaufen müsse er aber noch. Ich schreibe ihm, dass er dann gleich ein noch fehlendes Gewürz mitbringen kann, das ich trotz akribischer Suche nicht im Supermarkt gefunden habe. Er ist ein bisschen verwirrt, was ich jetzt mit einem Gewürz möchte und klingelt mal durch. „Hast Du irgendetwas gelesen von dem, was ich Dir geschrieben habe?, frage ich. „Nein“, entgegnet er. „Ich kam noch nicht dazu.“ „Es geht um die Weihnachtsplanung. Ich habe schon überlegt, was es zu essen gibt und das auch schon weitestgehend besorgt. Denn wenn wir jetzt anfangen zu planen und nach Rezepten zu schauen – das wird eine Katastrophe. Und da ich mir schon gedacht habe, wie der Tag heute abläuft… Ich würde vorschlagen, ich komme jetzt mal zu Dir und Du liest bis dahin mal.“
Er ist einverstanden. Sogar relativ kritiklos. Vielleicht muss ich ihn echt ein bisschen strenger anpacken.

Gegen kurz nach 17 Uhr stehe ich bei ihm auf der Matte. Er ist gerade dabei die Küche aufzuräumen. Da stehen immer noch die Sachen vom Kuchen backen vom Montag herum. Ich bin schon froh, dass wir am ersten Weihnachtsfeiertag bei meiner Schwester und ihrem Freund eingeladen sind, wenn das die Covid – Situation bis dahin erlaubt. Ihr Freund ist super ordentlich und wenn er dieses Chaos sieht… - ich schnappe mir erstmal einen Besen und fege den Boden.

Danach ist die Frage, wo denn jetzt überhaupt der Weihnachtsbaum stehen soll. Unsere Vorstellung ist eigentlich, den ans Fenster zu stellen. Und als wäre ein Baum von über zwei Metern Größe nicht groß genug, möchte der Kardiochirurg den noch auf ein kleines Sideboard stellen. Wir müssen erstmal einiges umräumen und dann den Baum durch die Wohnung hieven. Kurz nach sechs Uhr steht er auf seinem endgültigen Platz.
Als wir uns kurz setzen, fällt mein Blick auf eine Dose. „Was ist da drin?“, frage ich. „Das ist der Grund, warum ich relativ entspannt bin“, entgegnet er. Ich schaue ihn etwas fragend an. „Guck mal rein“, fordert er mich auf. Ich nehme den Deckel ab und sehe, dass sie randvoll mit verschiedensten Sorten von Keksen ist. „Da gab es noch eine Lieferung gestern von meiner Schwester, die sie im Auftrag meiner Mama vorbei gebracht hat. Plätzchen backen ist jetzt also ziemlich weit nach hinten auf unserer Prioritätenliste gerutscht. Aber Kuchen backen müssen wir noch. Mir ist nämlich aufgefallen – da hast Du mir am Montag geholfen, aber selbst gar kein Stück probiert.“

„Jetzt müssen wir erstmal einkaufen“, sagt er. „Hast Du denn jetzt mal gelesen?“, frage ich. Er nickt. „Bist du einverstanden mit der Planung?“, frage ich ihn. „Ja.“ Wir brauchen also eigentlich nur noch ein paar Standard – Dinge von ihm und werden das hoffentlich in ein paar Minuten schaffen. Und so ist es dann auch. Wir jockeln ein Mal durch den Supermarkt, sehen dabei noch ein paar Kollegen, hauptsächlich aus der Kardiologie und Anästhesie und dann wäre das auch erledigt. „Was essen wir eigentlich heute Abend?“, fragt er an irgendeiner Stelle. „Ich habe ein paar Rezepte auf Lager, aber ob wir noch schaffen, zu kochen?“, frage ich. „Dann lass uns heute einfach Pizza bestellen“, schlägt er vor.
Er kommt dann auf die Idee, wir können doch mal Burger machen. „Wann denn?“, frage ich. „Naja irgendwann nächste Woche, wenn wir uns hoffentlich mal abends sehen“, entgegnet er. „Dann müssen wir vegetarische Burger – Patties mitnehmen“, sage ich. Also für mich – nicht für ihn. Aber das ist auch eines der ersten Male, dass er für abends etwas zu essen für uns beide unter der Woche plant. Die letzten Wochen habe ich ihm immer geschrieben, dass ich gekocht habe und er ja eh noch essen muss – da kann er gern vorbei kommen. Vielleicht können wir das ja etablieren. Einfach zumindest dann und wann am Abend noch gemeinsam zu essen. Essen muss man sowieso.

„Kümmern wir uns jetzt wirklich ernsthaft um den Baum?“, fragt er, als wir wieder da sind. „Wie kann man sich denn nicht ernsthaft um den Baum kümmern?“, frage ich. „Naja, bisher haben wir immer nur gesagt, wir müssen uns um den Baum kümmern, haben ihn ein bisschen durch die Wohnung geschoben und sonst nichts gemacht“, entgegnet er. „Okay, dann kümmern wir uns jetzt ernsthaft um den Baum“, entgegne ich, stehe auf und fange an alles zusammen zu sammeln, das wir dafür gekauft haben.
Hauptsächlich rote und silberne Kugeln, aber ich habe auch noch ein paar Sterne, ein paar Kugeln mit Aufdruck und für die Nostalgie ein paar Kugeln aus den Beständen meiner Mama mitgenommen. Und Haken habe ich auch noch vorsichtshalber mal mitgebracht – weil ich nicht wusste, ob er daran gedacht hatte. War sehr gut. Anderthalb Stunden später sind alle Kugeln in Gemeinschaftsarbeit verteilt. Er stand auf der Leiter und auf dem Tisch neben dem Baum und ich hatte mehr als ein Mal Angst, dass er da runter fällt. („Wenn Dir das schon Angst macht, dann ist gut, dass wir uns noch nicht kannten, als ich die Wohnung eingerichtet habe – das war noch viel wilder“). Ich habe indes im unteren Bereich die Kugeln aufgehängt. „Was machen wir mit dem Lametta jetzt?“, fragt er. „Naja, wir können das ja mal ausprobieren. Es sieht halt nicht aus, wie das von früher von meinen Eltern. Das schaut eher aus wie Karneval.“ „Okay, testen wir das. Aber ich hänge jetzt nicht jeden Lamettafaden einzeln auf. Wir lassen das von oben so drüber rieseln. Ich weiß, das entspricht nicht Deinen Standards.“ „Lametta „rieseln“ lassen. Das darf ich meinem Papa in diesem Leben nicht erzählen, aber probieren wir es aus.“ Am Ende sieht es schon ein bisschen wild aus. Aber für unseren ersten gemeinsamen Versuch eines Weihnachtsbaumes ganz okay, da sind wir uns einig.

Es ist allerhöchste Zeit zum Pizza essen, die wir in der Pizzeria unter uns bestellt haben, aber noch abholen müssen. „Ich geh mal los“, sagt er und nimmt mich in den Arm. „Ist der Plan eigentlich, dass ich heute Nacht hier bleibe?“, frage ich. „Hatte ich so gedacht“, entgegnet er. „Kannst Du am Auto vorbei gehen und den Beutel mitbringen, der im Kofferraum ist. Da sind Übernachtungssachen drin. Ich wollte damit nicht so passiv – aggressiv auf der Matte stehen, bevor wir darüber geredet haben.“ „Ach Mondkind“, sagt er und nimmt mich noch ein bisschen fester in den Arm. „Wo ist Dein Autoschlüssel?“

Und nachdem wir dann noch den Film von letztens zu Ende geschaut haben, fallen wir müde in die Betten. Eine Decke für zwei Personen ist übrigens auch zu wenig. Ich weiß nicht, was er da gemacht hat heute Nacht, aber ich wache ständig auf, weil mir kalt ist und dann liegt er neben mir wie eine Mumie in die Decke eingerollt. Und dann drehe ich ihn vorsichtig hin und her, wickle ihn aus und nehme mir auch wieder ein Stück Decke. Ich hab ihn gefragt heute früh, er hat davon nichts gemerkt. Nur – keine Nacht ohne klingelnden Wecker. Um kurz vor sechs heute. Den haben wir beide gehört.

„War bei Euch gestern um halb 12 Uhr das Licht am Weihnachtsbaum noch an? Ich glaube, wir haben Euren Baum am Fenster gesehen, als wir von der Mutter von meinem Freund gekommen sind“, schreibt meine Schwester am Morgen. Und schiebt ein „Was machst Du heute Nachmittag?“, hinterher. „Naja, der Kardiochirurg ist bei seiner Familie, wahrscheinlich ein bisschen was schreiben oder so – warum?“, entgegne ich. „Naja wir wollen spazieren gehen und vielleicht kommen wir spontan vorbei“, entgegnet sie. „Ich kann Euch aber nicht viel anbieten. Viel mehr als Kaffee und ein paar Lebkuchen habe ich nicht hier“, sage ich. „Ist okay“, sagt sie. Hoffen wir, dass Covid bei meiner Schwester vorbei ist. Zumindest der Test ist wieder negativ. Für  mich selbst wäre es okay, aber den Kardiochirurgen anzustecken, wäre mir jetzt schon ziemlich peinlich.


***

Irgendwie bin ich sehr bewegt von diesem Dezember dieses Jahr. Es ist so viel passiert. So viel Gutes. Manchmal denke ich, vielleicht wird da in den nächsten Jahren ein lang gehegter Wunsch wahr. Meine Schwester und ich haben so viele Jahre nicht viel miteinander gesprochen.  Es war schwierig mit unseren Eltern, die uns eher instrumentalisiert haben. Ein Papa – Kind und ein Mama – Kind. Irgendwann war ich dann zu Hause weg, sie war immer noch tief in ihrer Magersucht und ich konnte ihr einfach nicht helfen. Sie konnte nicht sehen, dass es möglich ist, über den Tellerrand zu schauen, auch, wenn das auch viele Schwierigkeiten mit sich bringt. Ich weiß nicht, ob ich so oft in der Psychiatrie gewesen wäre, wenn ich zuhause geblieben wäre. Wenn ich die Diskrepanz zwischen dem was ich mir wünsche und dem, was ich für mich und mein Leben nicht auf einer Leistungsebene, sondern auch einer „Lebensebene“ real leisten konnte, nicht gespürt hätte.

Und jetzt leben wir beide unser eigenes Leben. Endlich weg von diesem destruktiven Familiensystem. Und durch ziemlich kuriose Umstände hat meine Schwester eben hier einen Freund gefunden. Sie haben sich vorerst für eine Fernbeziehung entschieden, aber sobald sie ihren Facharzt hat, möchte sie hierher kommen. Und dass es den Plan gibt, dass wir beide uns je mit unserem Freund an Weihnachten treffen, hat schon fast etwas von einem Familientreffen.
Weihnachten war immer anstrengend. All die Jahre. Wir waren meistens zu Dritt. Meine Mama, meine Schwester und ich. Das war weitestgehend „Weihnachten nach Stundenplan.“ Mit vielen Konflikten, viel Wut, die nicht gezeigt werden durfte. Es war, als würde dieser „Stundenplan“ das Fest am kompletten Auseinanderfallen hindern.

Letztes Jahr habe ich Weihnachten zum ersten Mal im Rahmen einer Großfamilie erlebt und das war eine sehr interessante Erfahrung. Aber emotional natürlich eine Katastrophe.
Ich habe den Eindruck, dieses Jahr schenken wir uns alle vor allen Dingen Zeit. Ruhe. Vielleicht auch ein bisschen eine Vision von dem, was mal werden könnte. Ich kann mir das nicht schöner vorstellen.
Es ist nicht das Weihnachten von früher, das ich kenne, das vielleicht ein Stückweit Kindheitserinnerung ist. Aber das ist vielleicht auch gut so. Neue Routinen schaffen. Mir weniger Ärger. Weil die alte Nostalgie mit Frieden nichts zu tun hat.

Auch mit dem Kardiochirurgen und mir. Ich habe den Eindruck zwischen uns beiden geht es nicht so sehr darum, die Erwartungen des anderen zu erfüllen. Wir geben Beide in diese Verbindung das, was wir haben und können. Am Wichtigsten ist die Zeit. Und irgendwie kommen wir übereinander, ohne viele Diskussionen. Da war und ist weiterhin viel Geduld gefragt. Aber jeder Schritt nach vorne ist so unendlich schön.
Heute Morgen konnte ich mich dann auch echt gut verabschieden. Die Planung ist klar. Er ist bei seiner Familie, weiß nicht, wann er wieder kommt, aber hat mir versprochen, dass wir uns in jedem Fall noch sehen. Das reicht mir. Das ist okay. Morgen hat er Rufdienst. Keine Ahnung, was da passiert – wir hoffen natürlich auf Ruhe für ihn. Aber wenn nicht, dann ist es so. Dann koche in der Zeit oder so. Nur wenn er echt den ganzen Tag weg muss, wäre das doof. Aber auch nicht zu ändern. Irgendeine OP war schon angekündigt. Aber er hofft, dass die morgen schon gemacht ist.

„Ich kann doch meine Klamotten gleich bei Dir lassen, oder?“, frage ich, bevor ich gehe. „Ja, eigentlich schon“, sagt er. Das erste Mal, dass ein bisschen was von mir bei ihm bleibt. Kleine Schritte.

Jetzt warte ich erstmal auf meine Schwester. Dann muss ich noch ein paar Weihnachts – whatsApps schreiben. Und mal am Jahresrückblick basteln – das bleibt dieses Jahr auch schon wieder auf der Strecke.


Mondkind


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