Reisetagebuch #2 - Erkenntnisse

Ich bin wieder zu Hause.
Im Ort in der Ferne.
Mit dem Reisetagebuch hat es irgendwie nicht so gut geklappt. Es ist nicht so, dass ich nichts geschrieben hätte. Aber irgendwie passte das nicht so richtig.
Es ging diesmal eher weniger um das äußerliche Erleben, sondern um das innere Erleben.
Und das muss erstmal sortiert werden. Und auch morgen noch Bestand haben.

***
Ich bin bei der Freundin, bei der ich immer bin, wenn ich in der Studienstadt bin. Bei der mit dem Hund. Sie ist tatsächlich eine der ganz wenigen Menschen in meinem Leben, mit der man über alles reden kann.
„Mondkind, ein Kardiochirurg also… - der heilt dann gebrochene Herzen“, sagt sie an irgendeiner Stelle. Und dann lachen wir beide. „Ich glaube nicht“, entgegne ich.

***
Ich telefoniere mit meiner Oma. Die hat meine Mama angerufen und die hat sie ungefragt an mich weiter gegeben. Und ich weiß schon, warum ich das nicht wollte. „Also Mondkind, wenn Du mit einem Kardiochirurgen mithalten möchtest, dann brauchst Du schon zeitnah einen Facharzt. Und einen Doktortitel. Da geht das doch mit der Psychosomatik nicht. Da macht man doch gar nichts…“
Alles klar…

***
„Und Ihr wolltet Euch nicht um die Mama kümmern, als es ihr schlecht ging. Ich habe gefragt, ob ihr kommt und Ihr habt „nein“ gesagt.“
„Das war am Silvesterabend und ich hatte Dienst am nächsten Früh und damals noch kein Auto. Wie hätte das gehen sollen?“
Dafür, dass es zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich ein kleiner Silvesterboykott war, sie nicht alleine sein wollte.
Aber sie erzählt das heute mit voller Überzeugung und Tränen in den Augen.

***
Ambulanz.
Ich sitze und warte auf Frau Therapeutin.
Plötzlich kommt ein sehr bekanntes Gesicht um die Ecke gebogen und holt einen Patienten ab. Ein Arzt, den ich 2017 als Assistenzarzt kennen gelernt habe; damals war er Stationsarzt bei meinem Psychiatrieaufenthalt. Noch besser als ich kannte ihn allerdings der verstorbene Freund. Die haben sich ständig getroffen auf irgendwelchen Veranstaltungen von Selbsthilfegruppen und Vereinen. Und auch nochmal recht intensiv geredet, bevor der verstorbene Freund den Entzug gemacht hat.
Ich hatte immer schon mal die Idee, ob ich ihn vielleicht nochmal fragen könnte. Vielleicht kann er noch einige Puzzleteile beitragen zu diesem Rätsel. Aber eigentlich dürfte er ja auch wieder nichts erzählen. Außer vielleicht von den Dingen, die eben im Ehrenamt passiert sind. Keine Ahnung. Ich hätte ihn hier in der Tagesklinik nicht erwartet, deshalb komme ich auch gar nicht dazu, schnell genug zu schalten.
Ob ich ihm wohl mal eine Mail schreiben soll?

Ich mit dem Hund der Freundin :)


***

Ich höre meiner Mum zu. Die an einem Abend darüber berichtet, wie sie ihre Kindheit erlebt hat. Sie sei immer mit ihrer großen Schwester – also unserer Tante – verglichen worden und habe dabei immer schlechter abgeschnitten. Sie sei immer als unfähig und mit mehr Förderbedarf dargestellt worden, dabei habe sie den nicht gehabt. Und immerhin, sie hat ja auch studiert, ist dann Lehrerin geworden.
Während sie so erzählt, überlege ich, ob das nicht so eine transgenerationale Geschichte sein kann. Unsere Mutter hat es geschafft, das was sie selbst erlebt hat mit einer noch größeren Härte und Vereinnahmung an uns weiter zu geben. Wir erinnern uns alle an die Kommentare „Wenn Ihr weiterhin so schlecht seid, landet Ihr auf der Hauptschule und unter der Brücke“ und all solche Geschichten. Darüber hinaus ist das mit diesem Medizinerding wohl ein lang gehegter Wunsch in dieser Familie. Schon unsere Oma wollte Medizin studieren, dann sollte unsere Tante Medizin studieren und aus irgendwelchen Gründen war das damals in der DDR nicht möglich und jetzt ist es eben an meiner Schwester und mir hängen geblieben.

***
Ich frage mich, ob meine Mum etwas dafür kann. Es mag sein, dass das keine Absicht war. Dass sie gar nicht gemerkt hat, wie meine Schwester und ich mit der Zeit der verlängerte Arm ihrer selbst wurden. Dass sie das vielleicht gar nicht so mitbekommen hat, wie wir die Verwirklichung von dem waren, was in dieser Familie bisher scheinbar nicht erreicht wurde, aber dass es eben nicht das war, das ich gewollt hätte – meine Schwester war da glaube ich noch etwas begeisterter als ich.
Ich denke über das Verzeihen nach und dass ich vielleicht dazu bereit sein könnte, wenn ich eben ihrerseits eine Bereitschaft sehen würde.
Ich war die Erste, die irgendwie mit den Jahren gemerkt hat, dass irgendetwas gewaltig schief läuft und ich habe sie bisher immer nur mauernd oder in der Opferposition erlebt. Ich habe nie eine aktive Auseinandersetzung erlebt mit dem, was passiert ist.
Und das fehlt mir. Alle Ärzte und Therapeuten haben grundsätzlich einen Sockenschuss, sie ist nicht bereit, mehr als sich selbst zu sehen. Sie ist nicht bereit zu verstehen und selbst wenn man die Dinge natürlich nicht mehr ändern kann, aber das wäre mir an dieser Stelle wichtig. Denn so geht das einfach weiter. Jetzt kommt als Nächstes: „Ihr bösen Kinder kümmert Euch nicht um Eure arme, kranke Mutter.“ Ja, weil es eine familiäre Vorgeschichte gibt. Weil ich in die alte Heimat kann – ein paar Tage – um zu verstehen, aber nicht, um dort zu bleiben und mir ständig anzuhören, wie schlimm wir sind. Weil sich in diesem Haus in mir immer alles zusammen zieht, weil alle Städtenamen jenseits der Stadtgrenze der Studienstadt bis zu meiner alten Heimatstadt Bauchgrummeln auslösen. Weil man keine Kinder bekommt, damit die im Alter die Eltern pflegen – eben noch dazu, wenn man eh nicht auf Ärzte hört. Weil Kinder schon in der Kindheit genügend Liebe an die Eltern zurückgeben, weil Kinder immer – egal wie sie behandelt werden – ihre primären Bezugspersonen vergöttern. Geboren zu werden heißt nicht, eine Bringschuld einzugehen.

Und, weil ich es immer mehr geschafft habe. „Diese Neuro – Sache ist das Letzte, das Sie gut lösen müssen“, sagte Frau Therapeutin. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass wir nicht verantwortlich sind für die Dinge, die uns wiederfahren sind, wohl aber, wie wir damit umgehen. Dass ich im falschen Job gelandet bin – und es gibt ja einen richtigen Abzweig – konnte ich mit der Situation damals zu Hause nicht ändern. Das hat mir die Therapeutin auch nochmal gespiegelt. Aber wie ich es jetzt mit dem Facharzt mache, wie wichtig mir das ist, wie viel ich da noch investieren muss in Relation zu dem, was ich dafür auch bekomme, das muss ich jetzt abwägen. Alleinige Rebellion wäre nachvollziehbar, aber  nicht sinnvoll. Das hat sie mir auch deutlich gemacht.

Und dann habe ich mich ziemlich erfolgreich befreit. Und ziemlich viel verstanden. Und vielleicht ein Stopp gesetzt, um es für die nächste Generation mal besser zu machen. Und dafür gab es ein Lob von Frau Therapeutin.

***
Heute bin ich nach Hause gefahren. Am Donnerstag fahren der Kardiochirurg und ich weiter. Nach Süddeutschland bis in die Berge. Vier Tage. Ich bin gespannt, wie das wir mit uns. Ich freue mich auf jeden Fall riesig. Möglichkeiten hat es genug – entweder wir gehen in die Berge, oder erkunden die nahe gelegenen Städte und Dörfer – sicher gibt es den ein oder anderen hübschen Weihnachtsmarkt – oder wir nutzen den Wellnessbereich im Hotel. Und wenn wir dann wieder kommen, müssen wir den Baum fertig schmücken, der schon bei ihm in der Wohnung steht.
Und ich will mich ja nicht zu früh freuen, aber vielleicht werden die letzten Wochen des Jahres richtig, richtig schön.
Der Laptop wird übrigens hier bleiben – vermutlich werde ich ohnehin keine Gelegenheit zum Schreiben haben. Ihr bekommt also am Ende einen kleinen Reisebericht.

Mondkind


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