Reisetagebuch #1 - vom schwersten Besuch des Jahres

Donnerstagmorgens 10 Uhr.
Abflugsbereit.
Auf dem Weg zur Mutter des verstorbenen Freundes.

Bis hinter die nächste große Nachbarstadt ist diese Fahrt gleich ein Test. Einer der Supervisoren, die mir der Oberarzt, der mittlerweile gegangen ist, noch empfohlen hatte, hat nämlich zurück geschrieben und mir einen Termin ziemlich knapp nach einem Dienst im Januar gegeben. Ob es sinnvoll ist, nach dem ersten Nachtdienst in der Psychosomatik gleich solche großen Sprünge vor zu haben, weiß ich auch noch nicht, aber wir werden sehen, wie das wird.
Das Navi sagt, dass man eine knappe Stunde fährt und mehr als anderthalb Stunden darf es auch nicht dauern, sonst komme ich zu spät. Ich schaffe es mit entspanntem Fahren und Stau zwischendurch in einer Stunde und zehn Minuten bis hinter die Stadtgrenze – das sollte also machbar sein.

Die restliche Fahrt an sich ist problemlos – nur die Parkplatzsuche, die gestaltet sich mitten in der Innenstadt, in der die Mutter des verstorbenen Freundes lebt, ein bisschen kompliziert. Fast eine dreiviertel Stunde kurve ich herum, bis ich einen Parkplatz etwa einen Kilometer weg von der Wohnung gefunden habe.

Am Nachmittag drehen sich die Gespräche um den verstorbenen Freund. Ein bisschen ist es wie ein Puzzle, das ich auch nach dreieinhalb Jahren noch zusammen puzzle. Manche Dinge hat sie sicher schon erzählt, aber sie schafft es so viel innerhalb weniger Stunden zu erzählen, dass ich manche Dinge sicher auch ein Stück vergessen habe.
Ein Aspekt war gestern, dass sie erzählt hat, dass er sich schon aktiv Gedanken gemacht hat, wie ein Zusammenleben mit mir mit der Sucht funktionieren  soll – und es somit nicht nur die ersten Corona – Tage und die mangelnde Verfügbarkeit der Tabletten waren, die ihn in den Entzug getrieben haben, sondern auch die Aussicht darauf, dass er und ich am Ende des Sommers zusammen ziehen wollte.
Auch aus seiner Kindheit erzählt sie eine Menge. Über einen Vater, der hauptsächlich desinteressiert war und ständig behauptet hat, sein Sohn würde ohnehin zu nichts taugen und der ihn nie irgendwo mit hin genommen habe, weil er sich geschämt habe für einen Sohn. Und über eine Mutter, die in ihren guten Momenten das komplette Gegenteil war und ihn richtig doll überbehütet hat. Und, die in ihren weniger guten Momenten „ein bisschen alkoholabhängig war“. Aber so ein Mal in der Woche  habe ihr Sohn – damals etwa 10 Jahre alt – seine Mutter schon betrunken vorgefunden. In der Psychosomatik habe ich gelernt, was Alkoholismus für Folgen für die Kinder hat. Dass die sehr feine Antennen entwickeln, dass die ihre Eltern hauptsächlich als unberechenbar wahrnehmen, dass die zum Teil ihren Eltern den Alkohol besorgen. Und offenbar muss es für den verstorbenen Freund so schlimm gewesen sein, dass er irgendwann zum Jugendamt gelaufen ist und gesagt hat, dass er mit seiner Mama nicht mehr leben kann. Sein Papa wollte ihn aber auch nicht, also hat ihm die Mutter versprochen, dass sie fortan nichts mehr trinkt. Geklappt hat das nicht richtig.

Und worüber ich auch nie richtig nachgedacht habe, ist die Sache mit den Wohnungen. Seine Mutter hat ihm ständig neue Wohnungen gekauft und „bis zum Löffel im Besteckkasten“ für ihn eingerichtet. Und dann sei er da entweder gar nicht, oder nur mit viel Widerwillen eingezogen.
Und sie meinte das sicher alles gut – aber wenn ich mich in seine Lage versetze? Bitte welcher erwachsene Mann möchte denn, dass die Mutter so sehr die Finger im Spiel hat? Finanziell unterstützen ist ja gut und schön, aber Wohnung aussuchen und einrichten ist etwas anderes. Am Anfang sei sie sogar oft zu ihm gekommen und habe bei ihm geputzt, weil er das manchmal nicht so ordentlich gemacht habe, bis er dann mal den Schlüssel von ihr eingefordert habe.

Sie spricht über seinen Suizidversuch in der Vergangenheit und dass das wahrscheinlich genau in dem Zeitraum war, in dem ich von ihm zwei Monate nichts gehört habe. Das war ganz kurz nachdem wir uns kennen gelernt hatten und mir hatte er damals erzählt, dass er auf Reha war, aber seine Mutter weiß nichts von einer Reha. Aber davon. Wovon ich auch weiß, aber er meinte immer, das sei Jahre her gewesen.

Ich habe mich gefragt, wie er sich gefühlt haben muss? Von klein auf vom Vater gehört, dass er nichts taugt und von der Mutter nie los gelassen. Wahrscheinlich hat er einen ständigen Autonomie – Kampf geführt und ist aber nie in die Lage gekommen sich zumindest von seiner Mutter lösen zu können, weil er die finanziellen Mittel einfach nicht hatte mit seiner ständigen Arbeitslosigkeit. Noch dazu eben tatsächlich psychisch angeschlagen durch Ängste, Depression und Sucht.

Ich war so unsicher, so traurig und wütend die letzten Tage. Und ich weiß nicht mal, auf was oder wen. Auf seine Eltern, dass die es so vergeigt haben. Und seine Mutter, die das unglaublich verharmlost. „Ein bisschen alkoholabhängig“, dafür hätte ich sie an die Wand klatschen können. Auf ihn, dass ich so wenig davon wusste. Dass er nicht geredet hat. Auf die Umstände. Dass die einfach so waren.
Bisher war da hauptsächlich Traurigkeit. Im Moment ist es ein absolutes Chaos an Gefühlen. Ich verstehe langsam mehr, aber kann es noch nicht gut sortieren.

Am Abend erkundigt sich der Kardiochirurg wie es mir geht. Das finde ich schon sehr berührend von ihm, dass er anfängt zu sehen, dass das alles nicht einfach ist. Aber ich glaube, er ist auch froh, dass ich den Termin bei dem Psychosomatiker im Januar habe und wir das nicht mehr alleine tragen müssen. „Schreib einfach, wenn etwas ist, ich schaue zwischendurch mal aufs Handy“, sagt er.

Freitag.
Ich habe erstmal lange geschlafen. Es war anstrengend gestern.
Beim Frühstück verquatscht sich seine Mutter und deshalb wird es früher Nachmittag, bis wir fertig werden. Seine Mutter war auch schon ewig nicht mehr am Grab – dadurch, dass sie fast immobil ist, ist sie immer darauf angewiesen, dass sie jemand fährt und es hat selten jemand Zeit. Deshalb testen wir heute, ob in Möhrchen ein Rollator mit Überbreite hinein passt und dann fahren wir in die Nachbarstadt in Richtung Friedhof.

Neben einem Blumengesteck stellen wir ein Solarlicht auf und ich habe aber auch eine echte Kerze mitgebracht. Ich finde ja, Solarlichter auf einem Grab wirken irgendwie etwas merkwürdig, aber ich kann die Idee schon verstehen. Wenn selten jemand kommt, hat es mit der Solarlampe auch Licht. Das Feuerzeug von der Mutter des Freundes versagt ausgerechnet auf dem Friedhof seinen Dienst und irgendwann fällt mir aber ein, dass ich doch mal eines in der Handtasche hatte. Ich weiß nicht, wie es dorthin gekommen ist, aber heute rettet es uns ein bisschen.
Aushalten kann seine Mama es dort nicht. Deshalb schicke ich sie schon mal wieder zurück, sie braucht mit dem Rollator sicher eine Weile und ich genieße noch ein bisschen Zeit alleine mit dem verstorbenen Freund. Es ist immer ein besonderer Augenblick dort zu stehen, zu wissen, dass wir uns so nah sind, wie es seit seinem Tod nur so selten passiert. Es fühlt sich ganz anders an, viel näher, viel verbundener, viel echter.
Und ich bin so froh, dass ich dort heute eine Kerze für ihn anzünden kann. Die nicht nur jetzt, sondern auch die nächsten Tage hindurch zeigt: Du bist nicht alleine. Da war jemand und hat nach Dir geschaut.

 

Fein hast Du es jetzt... 💜

Am Nachmittag passiert nicht mehr viel. Gleich essen wir noch und morgen fahre ich dann recht früh weiter in Richtung der Studienstadt, wo ich am Nachmittag erstmal mit einer Freundin verabredet bin. 

Und dann muss ich die letzten Tage erstmal sacken lassen. Ich vermisse ihn schon sehr. Auch nach dreieinhalb Jahren noch.

Mondkind


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