Eine turbulente Woche vor dem Urlaub

Unruhe in der Gruppe. Habe ich letztes Wochenende geschrieben. Hätte ich mal gewusst, was das bedeutet…
Montag war die halbtags arbeitende Kollegin erstmal krank. Deshalb habe ich flott die Wochenstartgruppe übernommen und die ist mir ordentlich um die Ohren geflogen. Offensichtlich ist da ein Konflikt eskaliert über das Wochenende. Ursprünglich ging es wohl um einen Trockner, aber jetzt hängt irgendwie die ganze Gruppe mit drin und es geht um so viel mehr als einen Trockner.
Und dann stellt sich heraus: Von fünf Kollegen, die an diesem Morgen hätten da sein sollen, sind wir nur zu Zweit. Und das heißt für mich: Kopfsprung ins kalte Wasser. Selbst die Oberärztin muss heute Gruppen übernehmen, auf gar keinen Fall kann jemand diese streitende Gruppe übernehmen oder auch nur mit in der Gruppe drinsitzen, um ein Backup für mich zu sein. „Machen Sie irgendetwas aus dieser Gruppe“, sagt die Oberärztin zu mir. Puh ja… ich habe erstmal noch kurz Zeit, um mich zu sammeln und vorzubereiten und dann mache ich aus der körperbezogenen Gruppentherapie eine verbale Gruppentherapie, da es ohnehin gerade Redebedarf gibt und eine therapeutische Arbeit überhaupt nicht möglich ist. Aber trotz aller Versuche die Gruppe durch Gesprächsregeln und Anregungen zur konstruktiven Auseinandersetzung mit Konflikten zu strukturieren, kommt Niemand in der Gruppe dazu, sich zu reflektieren. Entgegen meiner Bemühungen das Gespräch immer wieder zu lenken, die Patienten darauf zu bringen eigene Anteile zu sehen, weil es auch schwer vorstellbar ist, dass das Gegenüber absolut grundlos Vorwürfe erhebt, bleibt es ein Hin und Her schmeißen von Anschuldigungen.
Am Dienstag kommt eine der beiden Patientinnen, die hauptsächlich in den Konflikt verwickelt ist, erstmal zehn Minuten zu spät in die Gruppe. Was ich zum Anlass nehme zu sagen, dass ich die Verantwortung für Pünktlichkeit eigentlich gern in die Gruppe geben würde, in Anbetracht der angespannten Situation aber beschließen würde, dass alle, die mehr als fünf Minuten zu spät sind, nicht mehr an der Gruppe teilnehmen dürfen. Zu wirklich konstruktiven Gesprächen kommt es immer noch nicht, aber ich lerne, dass man als Therapeutin auch Frust aushalten können muss. Sündenbock sein können muss. Denn die Patientin nutzt die folgende Oberarztvisite erstmal dazu sich darüber aufzuregen, dass ich sie vorgeführt habe.
Für Mittwoch ist dann doch ein Streitgespräch mit der Oberärztin zusammen geplant, aber die Gruppe ist langsam so genervt davon, dass de facto diese Woche noch nicht viel Therapie gelaufen ist  - und gerade die Neuen stehen bisschen unter Druck, weil sie ihre Themen einbringen wollen - dass die Gruppe wohl außerhalb der Therapie gearbeitet hat. Vielleicht waren auch wohlgesetzte Kommentare in der Oberarztvisite hilfreich dafür, dass sich der Konflikt in diesem Gespräch endlich klären ließ. Und zwar quasi von selbst. Nach fünf Minuten war das erledigt.
Am Mittwoch haben wir dann also endlich wieder eine konstruktive verbale Gruppe und am Donnerstag leite ich meine erste körperbezogene Gruppentherapie. Ich beschließe, mir es ein bisschen einfach in der ersten körperbezogenen Therapie zu machen und wähle eine recht einfache Übung aus; es kommen aber viele gute Rückmeldungen von den Patienten – also war es wohl gut trotz dessen, dass es für mich einfach war.
Und als wäre das noch nicht genug, muss ich dann Freitag auch die erste Gruppe vertreten. Und meine Freitagsgruppen laufen gut. In meiner eigenen Gruppe schneidet eine der noch am Montag in einen Streit verwickelten Patientinnen, die damals noch der Meinung war, sie werde in der Gruppe nie reden können, ein Thema an. Und das übermannt sie dann doch etwas, sodass sie erstmal den Trost der Gruppe braucht, und ein Gefühl von „wir sind für Dich da“, ehe wir damit arbeiten können. Und in der körperbezogenen Therapie machen wir heute eine Spiegelübung – das nehmen die Patienten auch gut an.
 
Speed – Learning. Oder so.
Aber es ist gut. Nach dem ersten Schock, der mehr der Frage galt, ob ich das schaffe. Ob ich eine streitende Gruppe leiten kann, ohne dass die Hälfte der Gruppe weinend raus rennt. Es war an beiden Tagen je nur ein Patient. Und zwar je ein anderer.
Und nach dieser Woche weiß ich wieder ml: Eigentlich ist das genau das, was ich machen möchte. Fast ist es ein bisschen schade, dass ich jetzt so lange nicht da bin, wo ich erstmal richtig „drin“ bin.

Vorbereitung für meine Gruppentherapie

Ein paar Schmankerl dazwischen:

Montag
Mum in der Leitung. Wir sprechen generell wenig, aber heute bin ich in Erzähllaune. Berichte von der Psychosomatik und, dass es mir dort gefällt. Und dann reden wir über den Psychosomatik – Facharzt und was man dafür machen muss. Unter anderem Selbsterfahrung. 220 Stunden.  Meine Mama fragt, ob ich dann einen Therapeuten brauche, wenn ich das machen wollte. „Das sieht so aus“, sage ich. (Und für Selbsterfahrung braucht man eine Zulassung, die haben dann also hoffentlich wenigstens etwas mehr Ahnung, als der Wald- und Wiesentherapeut). „Aber Mondkind, dem kannst Du nicht aus Deinem Leben erzählen“, sagt sie. „Wieso nicht?“, frage ich. „Also Mondkind, da musst Du Dir etwas ausdenken. Von der Trennung der Eltern kannst Du noch erzählen, das ist ja fast normal geworden heutzutage, aber alles andere musst Du Dir ausdenken. Du kannst doch nicht erzählen, dass Du in der Psychiatrie warst und schon Therapie hattest und vom [verstorbenen Freund] erzählen. Was soll man denn da denken?“ „Naja Mama, wenn Du eine Therapie machst, dann kannst Du Dir nichts ausdenken, dann macht das ja alles keinen Sinn. Und außerdem wirst Du Dich ohnehin in spätestens der dritten Stunde in Widersprüche verstricken.“ „Aber das kannst Du nicht erzählen Mondkind. Das geht nicht“, insistiert sie weiterhin vehement und wird langsam ärgerlich. „Überhaupt weiß ich nicht, wie Menschen dazu kommen, wildfremden Menschen etwas über ihr Leben zu erzählen.“
Ich erinnere mich, dass sie mal in einer Reha – Klinik war und dort auch ein Gespräch mit einem Psychologen auf dem Plan stand. „Was hast Du dem denn erzählt?“, frage ich forsch. Sie findet die Frage gar nicht witzig. Und Ihr wollt das nicht wissen…

Im ersten Moment weiß ich nicht, ob ich darüber lachen oder wutentbrannt das Telefon gegen die Wand schmeißen soll. Ich bin mittlerweile alt genug, ich habe das mit der Abgrenzung mittlerweile etwas besser drauf, aber wegen genau dieser Einstellung hat sich dieses Leiden so viele Jahre verlängert.
Ich habe viele Menschen erlebt in den letzten Jahren, aber ich habe Niemanden erlebt, der Psychotherapie so feindselig gegenüber stand, wie meine Mama.
Aufmerksame Ärzte wollten mich mit 15 oder 16 schon in Therapie schicken, haben das damals sogar schon so kritisch gesehen, dass ein Klinikaufenthalt als unumgänglich eingeschätzt wurde, aber ich kann mich genau erinnern, wie meine Mama damals meinte, dass eine Therapie überhaupt nicht in die Tüte kommt. Nicht mal ambulant, denn das klaut ja Lernzeit für die Schule. Und ich weiß, dass ich es damals gern versucht hätte mit der Therapie. Denn es ging mir einfach nicht gut und ich war froh um jeden, der mir helfen wollte. Und dann ist das irgendwie in die Hände von Vertrauenslehrern und bisweilen Beratungsstellen geraten, an denen ich dann war und die Schule hat mich gedeckt und behauptet, dass in dem Zeitraum Unterricht ist. Es gab sogar einen Stundenplan, den ich mit nach Hause nehmen konnte, der ausgedacht war,  aber in dem für die betreffende Zeit, die ich in der Beratungsstelle war, irgendwelche Dinge auf diesem Plan standen, sodass ich geschützt war. Aber das waren eben alles Lehrer oder Sozialarbeiter und keine Therapeuten. Ich konnte mich dort entlasten, aber ich habe nicht verstanden, was in dieser Familie überhaupt los war.
Ich kann mich auch gut daran erinnern, wie ich dann später, als ich über Uni – Kontakte die Therapeutin bekommen habe, lange versucht habe meine Besuche in der Ambulanz in der Studienstadt irgendwie geheim zu halten und immer durch irgendwelche Trampelpfade zur Ambulanz gelaufen bin, die leider ziemlich einsam am Rand der Uni lag in der Hoffnung, dass meine Schwester mich nicht sieht und die Info weiter an meine Mama gibt. Hat nicht geklappt.
Und ich kann mich auch gut erinnern, wie sie mich mit aller Gewalt aus der Psychiatrie 2017 raus holen wollte, was soweit geführt hat, dass ich die Station nicht verlassen durfte – aber nicht wegen Eigengefährdung, sondern weil die Angst hatten, dass meine Mama mich irgendwo aufgabelt und nicht mehr zurück lässt.

Und so im Nachhinein… - wirkt das eigentlich noch tragischer, als ich es damals wahrgenommen habe. Und manchmal denke ich mir: So schlecht habe ich das alles nicht gemacht, wie oft behauptet wird. Ich habe irgendwann angefangen für mich zu kämpfen. Und ich bin schon ein gutes Stück voran gekommen. Wenn auch noch nicht am Ende.

Dienstag
Ich habe den Rat des Intensiv – Oberarztes befolgt und mal die Leitung der AGUS – Gruppe der Nachbarstadt angeschrieben. Die Rückmeldung ist, dass ich in die Gruppe kommen darf. Die trifft sich praktischerweise nächste Woche, wenn ich Urlaub habe.

Donnerstag
Ich habe den Zettel, den mir der Psychosomatik – Oberarzt gegeben hat, unzählige Male in der Hand gehabt. „Ich würde mir für Sie wünschen, dass Sie Ihr Thema mit dem Freund nochmal therapeutisch angehen“, hat er mir gesagt, als wir nochmal geredet haben am letzten Tag, bevor er gegangen ist.
Die Mail an einen der Psychosomatiker, den er mir aufgeschrieben hat ist seit Tagen fertig, ich müsste nur mal auf „Senden“ drücken.
Ich sitze an diesem Morgen ewig vor dem PC und fahre im Endeffekt viel zu spät los auf die Arbeit. Aber bevor ich fahre, drücke ich endlich auf „Senden“.
Mittags flattert schon die Antwort rein und sofort schlägt mein Herz fast doppelt so schnell. So trivial ist das mit den Therapien alles immer noch nicht. Trotz unendlich viel Therapieerfahrung. Aber das mit dem Freund ist ein Thema, zu dem bis heute nicht alles gesagt ist. So sehr schäme ich mich, selbst vor den Menschen, denen ich immer noch am Meisten vertraut habe. Ich öffne die Mail. Wir können das Thema im Rahmen von Supervision besprechen, sagt er. Und ich soll ihm Termine schreiben, an denen ich kann. Habe ich jetzt gemacht, mal sehen, was er draus macht. Man muss da schon über eine Stunde hin fahren, nach einem Neuro – Dienst würde ich das nicht schaffen, aber ich denke nach einem Psychosomatik – Dienst wird es perspektivisch gehen.
Am Abend liege ich in meinem Bett und mache mir ein paar Gedanken. Wenn das jetzt wirklich zeitnah klappt – das wäre ja trotz aller Sorgen wieder nicht ernst genommen zu werden, ein ziemlicher Jackpot. Da sucht man jahrelang einen vernünftigen und erfahrenen Therapeuten und kaum ist man in der Psychosomatik und kann das unter Supervision verbuchen, läuft das so viel schneller. Muss man dann natürlich nur auch selbst bezahlen.
Aber erstmal abwarten, ob das jetzt wirklich so easy wird und ob der Typ wirklich gut ist. Die Kombi kann ich noch nicht glauben. Obwohl der Psychosomatik – Oberarzt viel von ihm hält, wie er mir gesagt hat und glaube ich auch bei ihm war.

Am Abend bin ich noch auf der Neuro – Weihnachtsfeier. Es ist schön die Kollegen wieder zu sehen. Aber – die Kollegen wieder zu sehen; nicht, Neuro machen zu müssen. Wobei die ehemalige potentielle Bezugsperson sich zwischendurch neben mich gesetzt und mich gefragt hat, ob ich weiterhin einen Dienst im Monat am Wochenende in der Neuro machen könnte. (Es haben ja auch mindestens drei Leute gekündigt…).

Freitag
Heute laufe ich mal einen Psychosomatik – Dienst mit. Um ein bisschen zu lernen.
Nach der Übergabe erledigen wir die ersten Anliegen und dann sitzen die beiden Dienstärzte, die Dienstpsychologin, ein weiterer Psychologe und eine Freundin meiner Kollegin zusammen im Büro, trinken Kaffee und quatschen.
Es geht um Lebensstil. Und Autos. Eine der Psychologinnen, die Freundin meiner Kollegin, muss ein Mal in der Woche zur Lehrtherapie. „Ich habe den Termin um 6 Uhr und bin mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zwischen 15 und 22 Uhr unterwegs. Ich brauche irgendwie ein Auto.“ „Vielleicht könnte ich Dir meins ab und an leihen“, gebe ich zu bedenken. „Letztes Jahr brauchte ich es wirklich, aber aktuell nutze ich es eigentlich nur zum Einkaufen und ich weiß nicht, wann ich es das letzte Mal an einem Montagabend wirklich brauchte.“ „Ich habe schon überlegt, ob nicht so eine Art privates Car – sharing eine Möglichkeit wäre. [Ein Kollege] hat da schon irgendwo so eine Formel gefunden, mit der man ausrechnen kann, wie man das dann finanziell macht. Mit gefahrenen Kilometern, Verschleiß und Sprit.“ Es ist kurz still. „Was ist denn das für ein Auto?“, fragt sie. „Ach nur ein kleines Toyota Aygo“, entgegne ich. „Ich habe nur zwei Kriterien für ein Auto“, sagt die Psychologin. „Es soll klein sein und es muss eine Einparkhilfe haben.“ „Es hat sogar eine Rückfahrkamera, das war mir auch wichtig“, antworte ich. „Noch besser – es erfüllt alle Kriterien.“
Wir einigen uns, wir denken mal nach. Aber ich denke in letzter Zeit sowieso schon, dass ich das Auto abgesehen von Fahrten in den Urlaub eigentlich gar nicht mehr richtig brauche. Es ist schon bequem, mit dem Auto einkaufen zu fahren, aber das habe ich früher auch mit dem Fahrrad geschafft. Also wäre es doch vielleicht eine gute Möglichkeit, dass sich mehrere Menschen das Auto teilen.

Überhaupt merke ich an diesem Abend, wie wohl ich mich unter diesen Menschen fühle. Alle nicht so abgehoben, eher bodenständig, aber irgendwie so viel offener. Das ist schon eine besondere Stimmung dort. Es geht so viel weniger um materiellen Besitz, sondern eher darum, die Menschen zu sehen. Vielleicht vergisst man das nicht ganz in diesem Job.

Nach der Sprechstunde und ein paar weiteren To Do’s schreibe ich meine Übergabe und verlasse die Klinik. Urlaub. Ganz so positiv wird der leider nicht starten. Ich kann in der Nacht kaum schlafen und wache ordentlich erkältet auf. Ich hoffe allerdings schon, dass ich jetzt im Urlaub wieder ein bisschen mehr zum Schreiben komme. Kaum zu glauben, dass in der Psychosomatik so wenig Zeit für den Blog bleibt. Aber es steht auch ein bisschen was an; Ihr werdet es sehen.

Mondkind


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