Weihnachtsreflexion und der Tag danach

Der Tag nach Weihnachten.
Ich sitze schon wieder auf der Arbeit.
Die Patienten sind irgendwie noch in ihrer Weihnachtsträgheit; die Gruppen gestalten sich zäh, weil niemand sprechen möchte. Weihnachten ist für die Meisten erstaunlich ruhig gewesen, große Eskalationen hat es zumindest in meiner Gruppe und denen, die ich heute vertretungsweise betreuen muss, nicht gegeben.
Und ich – ich bin auch noch in meiner Weihnachtsträgheit.
 
Die Frage ist, ob die Dinge anders hätten laufen können.
Mit dem Rufdienst des Kardiochirurgen hatten wir halt maximales Pech. An einem Wochenende im Rufdienst 14 Stunden außer Haus zu sein, ist dann eben doch nicht ganz gewöhnlich.
 
Und dass damit unser kleines „Familientreffen“ ins Wasser gefallen ist, war natürlich auch blöd. Es wäre das erste Mal seit Jahren gewesen, dass es eine Zusammenkunft zwischen Menschen gibt, deren Bindeglied Menschen aus meiner Familie gewesen wären, inklusive mir. Eigentlich wäre das eine riesen Sache gewesen. Aber die beiden konnten eben auch nur am 25.12 und an keinem anderen Tag. Und es war auch abgesprochen, dass ich zur Not alleine komme; das wussten alle Beteiligten. Aber ich habe so gehofft, dass das nicht passiert. Und – das muss ich dem Kardiochirurgen zugestehen: Er hat sich aktiv erkundigt, ob wir nicht am nächsten Tag hingehen können.
 
Aber irgendwie haben mich diese beiden Tage so sehr an die vergangenen Weihnachten erinnert, dass das einfach ein bisschen viel war. Am 24.12 sind ja schon meine Schwester und ihr Freund mehr oder weniger aus Mitleid noch eine Stunde vorbeigekommen, obwohl sie eigentlich gar keine Zeit hatten. Weil ich alleine war. Weil der Kardiochirurg bei seiner Familie war. Und dann haben sie mich am 25.12. auch noch eher aufgenommen.
Ich glaube das macht so deutlich, dass es da keinen Rückhalt gibt. Ich kann mittlerweile ziemlich gut damit leben, dass es mit der Familie schwierig ist. Meinen Papa habe ich immer noch nicht gesprochen. Seit über drei Monaten nicht; über die Psychosomatik habe ich ihm noch nicht einen Satz erzählt. Und wenn dann jeder so ein seiner Weihnachts – Bubble verschwindet, dann ist es manchmal schwer. Und von den Eltern ständig zu hören „Wir wollen ein kinderfreies Weihnachten“, bin ich zwar irgendwo gewohnt, aber ich glaube, dass es immer noch hart ist. Auch, wenn man das gar nicht mehr so wahrnimmt. Und wenn dann noch alle umliegenden Menschen zu ihren Familien fahren. Der Kardiochirurg zu seiner Familie, meine Schwester zu ihrer "Schwiegerfamilie - in - Spe", die sie quasi adoptiert hat... es ist schwer. Und das ist okay.
 
Viel ist dann dieses Weihnachten auch nicht mehr passiert.
Als der Kardiochirurg am Abend nach Hause gekommen ist, waren wir beide ziemlich fertig. Jeder so auf seine Weise. Also haben wir noch schnell aus den Vorräten des Kühlschrankes etwas Schnelles zu essen gezaubert – obwohl ich vor Magenschmerzen kaum essen konnten – und dann haben wir uns auch schnell hingelegt und erstmal bis Dienstagmittag geschlafen. So richtig gefrühstückt haben wir dann auch nicht, ehe wir eine Runde durch den Ort spaziert sind. Danach haben wir – in etwas abgespeckter Version – gekocht; das Essen musste ja nur für einen Tag reichen. Und dann bin ich auch recht früh schon wieder nach Hause gefahren. Er meinte, er muss noch seine Wohnung aufräumen und Dies und Das erledigen. Er hatte ja auch – im Gegensatz zu mir – noch keine ruhige Minute zum Atmen seit dem Beginn von Weihnachten.
 
Ich dachte eigentlich, wir können uns von Freitag auf Samstag sehen. Weil er ab Samstagabend dann Nachtdienstwoche hat, aber wir dann ja noch den Samstag miteinander verbringen können, wenn wir es nicht übertreiben. Da ist er allerdings mit irgendwelchen Freunden verabredet.
 
Ich habe heute mit dem Intensiv – Oberarzt geredet. Weil ich so unsicher war. Ich bin sehr wütend aufgrund der letzten Tage. Die Frage ist, ob das mein Ding ist. Weil Weihnachten eine Zeit mit überirdisch hohen Erwartungen ist und außerdem mit vielen negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit verknüpft ist. Oder, ob eben auch ein bisschen mehr Einsatz des Kardiochirurgen für unsere Zweisamkeit wünschenswert gewesen wäre.
Der Oberarzt sagt, er erlebt mich schon eher so als fünftes bis sechstes Rad am Wagen. Gegen viel zu tun kann man wenig machen in diesem Job. Ein Stück weit wird das zu akzeptieren sein, wenn sich zwei Menschen finden, die im Medizinerwesen arbeiten. Aber gerade dann braucht es viele Absprachen, viel Aufeinander eingehen, viel Rücksicht und Planung. Man kann sich ja zum Beispiel auch mit Freunden treffen, wenn der andere im Dienst ist. Das mache ich ja auch so. Damit wir die wenige Zeit, in der wir beide frei haben, wirklich nutzen können. Und das macht er aber alles nicht. Er kommuniziert nicht, er verlässt sich darauf, dass es schon irgendwie organisiert wird und er schaut bei seinen Planungen auch nie auf meinen Plan. Und das ist ein Problem.

Und tatsächlich glaube ich aber auch, dass mir langsam so sehr bewusst wird, dass der Kardiochirurg und ich die Rollen genau andersherum einnehmen, als der verstorbene Freund und ich das damals getan haben. Damals war er immer derjenige, der Vorschläge gemacht hat. Wann wir uns treffen könnten, was wir machen könnten. Ich weiß, dass ich manchmal etwas genervt war, weil ich mir dachte „Siehst Du nicht, dass ich nicht kann?“. Aber wie frustrierend das auch für ihn war – und dass er da quasi schlimmer dran war, weil ich immer „nein“ sagen konnte und in meiner Welt aber ganz gut gelebt habe, während er ständig mit der Enttäuschung leben musste, das habe ich nicht gesehen. Das lerne ich jetzt erst. Jahre, nachdem er gestorben ist. 

Weihnachtspräsent von meiner Schwester 😏


 
***

Gruppenträgheit.
War heute das Stichwort.
Ich musste nochmal erinnern, dass ich nur die Moderation bin. Ich werde kein Thema vorgeben. Die Einladung am Anfang der Stunde war, die Erfahrungen der Weihnachtstage zu teilen – wenn das für Jeden in drei Sätzen abgefrühstückt ist, ist das für mich okay.
 
Und trotzdem gibt es kleine Situationen, die bewegen.
Manchmal habe ich das Gefühl, wir machen ja gar nicht so viel in der Psychosomatik. Und dann höre ich eine meiner Patientinnen. Die letzte Woche noch traurig war, dass ihr Mann nicht zu Besuch kommt – aber gefragt hatte sie ihn auch nicht. Und dann hat die Gruppe sie ermuntert, ihm doch zumindest mitzuteilen, dass sie traurig darüber ist.
Und siehe da: Der Mann war da. Und die beiden haben einen langen Spaziergang gemacht. Dabei hat die Patientin sogar erwähnt, dass sie sich zu Hause nicht mehr wohl fühlt, woraufhin der Mann wohl entgegnet habe, dass sie dann beide daran arbeiten müssen, dass die eigenen vier Wände sich für alle wieder wie ein zu Hause anfühlen.
Und manchmal denke ich: Wir tun doch etwas. Das sich vielleicht gar nicht immer in dem Moment zeigt. Das noch Zeit braucht, zum Reifen. Vielleicht manchmal auch erst lange nach dem Klinikaufenthalt zum Tragen kommt. Aber wenn wir dazu beitragen können, neue Wege auszuprobieren, neue Blickwinkel einzunehmen und damit  Fühlen, Erleben und zwischenmenschliche Bindungen ein bisschen verbessern können, dann glaube ich, dass wir sehr viel Lebensqualität schaffen können. Vielleicht ist meine Sicht da auch sehr voreingenommen, weil das natürlich auch die Dinge sind, die mir viel gefehlt haben, aber zwischenmenschliche Bindungen und Heimatgefühle sind etwas so Wichtiges im Leben.
 
Einen anderen Patienten, der schon seit einiger Zeit Schwindel hat, den habe ich heute auch noch untersucht. Und was hat sich heraus gestellt? Er hat einen Lagerungsschwindel. Und hatte sich schon fast damit abgefunden, dass das eben „psychisch“ ist.
 
Und zu guter Letzt habe ich heute noch eine Patientin kurz nach einer Panikattacke gesehen. „Sie sind doch gut durchgekommen. Sie haben das doch gut gemacht. Und jetzt können Sie vielleicht auch ein bisschen sehen: Es ist lösbar. Die Angst bringt Sie nicht um. Auch, wenn sich das in der Akutsituation vielleicht so anfühlt.“ „Ja, aber ich komme ja bald wieder nach Hause. Und da muss ich wieder gut funktionieren“, entgegnet sie. „Es gibt einen Graubereich“, entgegne ich. „Zwischen „es ist alles ganz schlimm und es geht gar nichts“ und „perfekt funktionieren“. Ich kenne Ihre Familie jetzt nicht gut, aber was ich gehört habe, wird die es Ihnen nicht übel nehmen, wenn mal etwas nicht gut funktioniert. Wichtig ist nur, dass Sie nicht aufhören an sich zu arbeiten. Ansonsten dürfen Sie sich ganz langsam in diesem Graubereich in Richtung Ziel bewegen. Wobei ich mir nicht sicher bin, dass die Dinge jemals perfekt funktionieren müssen. Alltagstauglichkeit ist fürs Erste schon gut genug.“ „Darüber habe ich noch gar nicht so viel nachgedacht. Also, dass es etwas dazwischen gibt.“ „Deshalb sage ich das. Weil ich merke, dass Sie sich da wirklich Druck machen.“
 
So schlecht war ich heute gar nicht. Denke ich. 

Mondkind


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