Von den ersten Urlaubstagen und Bedürfnissen

Urlaub.
So richtig ist das Urlaubsfeeling noch nicht angekommen.
Es mag daran liegen, dass es wieder alles ein bisschen anders läuft, als das geplant war.
Und ich eben – alles in allem – nicht so genau weiß, woran ich hier bin.

Mein naiver Plan war, dass der Kardiochirurg und ich uns mal vier Tage ganz haben. Gemeinsam in den Tag starten, gemeinsam den Tag beenden, beim anderen übernachten. Denn immerhin haben wir ja beide vier Tage Zeit und nicht sehr viel anderes zu tun.
Allerdings – wahrscheinlich wundert das hier niemanden großartig – geklappt hat das natürlich nicht.

Samstag.
Die letzten Tage waren extrem anstrengend – ich habe seit drei Wochenenden Dienste gemacht, dazu war auch noch die Fortbildung letztes Wochenende. Ich bin erschöpft und die Wohnung hat viel zu lange keinen Putzlappen mehr gesehen. Der Kardiochirurg ist an diesem Abend beschäftigt – ich frage also nur kurz nach ob er, wie er mir das mal gesagt hatte, Samstagmorgen noch in den OP muss. Muss er nicht, sagt er. Na gut, irgendwie hatte ich tatsächlich damit gerechnet. Also bedeutet das, den Wecker ganz früh zu stellen, um bevor er wach wird, die Bude geputzt zu haben und zumindest mal eine Maschine Wäsche gewaschen zu haben.
Allerdings stellt sich dann irgendwann im Verlauf des Samstages raus: Ich hätte mich entspannen können. Ich weiß nicht genau was er macht, aber er ist auf jeden Fall nicht bei mir. Irgendwann um kurz vor vier kommt er; der Plan war eigentlich in den Schnee zu fahren. Aber da fährt man auch noch eine halbe Stunde hin; da wären wir nicht mehr bei Tageslicht angekommen. Deshalb hat das keinen Sinn; wir gehen einfach eine Runde um die Stadtmauer spazieren. Während ich im Anschluss etwas für uns koche, geht er noch zum Supermarkt und kauft ein paar Dinge ein, damit wir morgen auch noch kochen können. Vom entspannt auf dem Sofa liegen am Abend hält er auch nicht ganz so viel – er kommt dann recht früh zu der Idee, dass er nach Hause möchte.

Sonntag.
Heute klappt es etwas besser; zumindest ist er am frühen Nachmittag da. Wir hatten verabredet, dass wir erst gemeinsam frühstücken und dann in den Schnee fahren.
Zumindest kommen wir so an, dass wir noch anderthalb Stunden Zeit haben, ehe es dunkel wird. Schnee scheint er wirklich ziemlich zu mögen – an diesem Nachmittag erlebe ich ihn mal einigermaßen entspannt. Und während wir dick angezogen durch den Schnee stapfen und es aufgrund des schnellen Schrittes und der teils beschwerlichen Wegverhältnisse gar nicht kalt ist, wird mir klar, dass das die Momente sind, für die diese Beziehung lebt. Er schüttet mir erstmal den Schnee von jedem dritten Ast in den Kragen, gemeinsam suchen wir die besten Orte um ein paar Fotos zu machen (auch, wenn er keine Ahnung hat, wofür ich die brauche), und irgendwann stehen wir gemeinsam auf einem Aussichtsturm, Arm in Arm und schauen über die verschneite Landschaft, die am Ende des Blickfeldes irgendwo im Nebel verschwindet.
Zwischendurch erblickt er auf dem Lieblingsberg ein paar Paraglider und da wird mir schon klar, dass er wohl morgen früh erstmal Paragliden gehen wird. Das ist immer so, wenn wir dort in der Gegend sind.
Am Abend kochen wir noch Curry, aber auch dann möchte er sich recht schnell auf den Weg nach Hause machen; um kurz nach 20 Uhr ist er schon weg. 


***

„Ich hab Dich immer kurz, aber nie ganz“. Das singt Revolverheld in „Liebe auf Distanz.“ Das war – oder ist – der Song vom verstorbenen Freund und mir. Er kam auch gerade raus, als aus dieser Beziehung erstmal eine Fernbeziehung geworden war.
Nun ist die Lage aktuell eine ganz andere, aber der Satz kam mir letztens in den Sinn, als ich an den Kardiochirurgen und mich gedacht habe. Er wirbelt hier ab und an mal so durch - ungefähr nie so, wie es in meiner Vorstellung geplant war – und ist dann auch ganz schnell wieder weg.
Ich frage mich manchmal, warum ich neben ihm nie zu Ruhe komme. Wenn ich an den ehemaligen Freund und mich denke: Sobald wir mal ein bisschen Zeit hatten – und auch, wenn es nur ein ganzes Wochenende war – dann hatte ich das Gefühl, dass die Welt einmal kurz anhält und es nur ihn und mich in meinem kleinen Kosmos gibt. Das habe ich nicht mehr erlebt seitdem und vielleicht ist dieses Unberechenbare der Grund dafür. Ich kann mir halt nie sicher sein. Ich weiß nie, was in seinem Kopf los ist und irgendwie kann er immer – auch, wenn er gerade noch noch hier ist – in fünf Minuten schon wieder weg sein. Eben auch dann, wenn wir nicht beide am nächsten Tag arbeiten müssen. Wahrscheinlich hat das Eine mit dem Anderen gar nichts zu tun und ist nur eine willkommene, logische Erklärung für die meisten Wochentage. Aber es funktioniert eben auch nicht, wenn wir beide am nächsten Tag nicht arbeiten müssen.
Manchmal macht mich das alles immer noch sehr traurig. Ich weiß immer noch nicht, ob ich zu viel von ihm will. Der Intensiv – Oberarzt sagte, es sei nicht so, aber er ist hier mit so einer Selbstverständlichkeit unterwegs, dass ich oft denke, für ihn ist das schon so.

Für den zweiten Teil unseres gemeinsamen Urlaubes – wir haben ja in zehn Tagen nochmal vier Tage frei – wobei der erste Tag davon für den Kardiochirurgen frei nach Dienst ist – ist noch nicht mal irgendetwas geplant. Wir wollten gemeinsam weg fahren, so weit waren wir schon, nur ob wir das machen…? Eigentlich wollten wir darüber gestern Abend noch sprechen, aber irgendwie wollte er dann so schnell los und dann haben wir das nicht mehr gemacht.

Und Weihnachten… - ist auch bald.
Die meiste Zeit des Jahres komme ich mittlerweile ganz gut damit zurecht, so „heimatlos“ zu sein. Eben in dem Sinn, dass es keine Familie gibt, in die ich hinein gehöre. Es gibt einen neuen Song von Florian Künstler, der heißt „Leere Stühle.“ (Naja so neu ist er nicht, der wurde schon auf Konzerten gespielt, aber jetzt ist er eben offiziell veröffentlicht). In dem Song geht es darum, dass mit den Jahren bei Familienzusammenkünften – wie eben an Weihnachten – doch der ein oder andere Stuhl leer bleibt. Weil die Personen verstorben sind. Eigentlich hat dieser Song überhaupt nichts mit mir zu tun. Außer, dass er mich sicher berührt.
Aber an irgendeiner Stelle singt er „Ich will doch einfach nur nach Hause zurück.“ Und irgendwie ist mir dazu der Gedanke gekommen, dass unsere Familie zu zerrüttet war – beziehungsweise einige Menschen auch schon vor unserer Geburt verstorben sind – als dass es so eine Konstellation überhaupt hätte geben können. Es fällt nicht auf wer alles fehlt, weil es diese Familienzusammenkünfte nie gegeben hat. Und dieses „Ich will doch einfach nur nach Hause zurück“, das berührt mich schon ganz arg. Auch, wenn ich eben nicht mal weiß, wo dieses zu Hause ist.

Ich glaube, ich habe über die letzten Jahre genug mit Menschen um dieses Thema gekämpft. Und ich hatte immer den Eindruck die Menschen erwarten diesbezüglich in einer Art „absoluten Bedürfnislosigkeit“ zu verschwinden. So nach dem Motto: „Ist bald langsam eh zu alt für Familie.“
Es gab letztens eine Teambesprechung bei uns, in der eine Psychologin meinte: „Es kann ein erschreckendes Moment in der Therapie für Patienten sein, wenn die merken, dass sie Bedürfnisse haben. So wie alle. Jeder Mensch hat Bedürfnisse. Gerade Zwischenmenschliche. Und wenn die dann realisieren, dass sie nicht so unangreifbar sind wie sie denken, nur weil sie mit aller Gewalt versucht haben, diese Bedürfnisse zu unterdrücken, dann kann das schwer werden.“
Das fand ich richtig spannend – weil es auch mir ein bisschen Ruhe gegeben hat. Ich weiß, dass von all diesen Jahren der Vergangenheit Dinge übrig geblieben sind. Ich weiß, dass Weihnachten immer so ein Thema ist, an dem die Vergangenheit doch durchdrückt. Egal, wie viele Weihnachten ich auch doch schon allein war oder eben gearbeitet habe, um es nicht so zu merken, um eine Legitimation zu haben, warum ich eben auch allein sein muss – weil ich es halt nicht schaffe, in die Heimat zu fahren, wenn ich Dienst habe – aber es ist jedes Jahr eine neue Herausforderung. Und das darf so sein.

Und der zweite Punkt ist vielleicht der, dass irgendetwas in mir immer noch einen „Ersatz“ sucht. Mit dem ich mich sicher schon oft in mehr Schmerz rein geritten habe, als nötig gewesen wäre. Ich vermisse eine Art Papa, seitdem ich 12 bin. Seitdem er von einem auf den anderen Tag nicht mehr da war, wir ihn erstmal mehr als ein halbes Jahr nicht sehen durften und das damals zu viel war, um diese Vater – Tochter – Beziehung aufrecht zu erhalten.
Irgendetwas in mir hat immer „Ersatz“ gesucht. Ganz am Anfang in der Schule war das schon mit den Lehrern so. Später, die längste Zeit glaube ich, die potentielle Bezugsperson. Jetzt sicher ein bisschen der Intensiv – Oberarzt. Und der Psychosomatik – Oberarzt, der jetzt weg ist, wäre sicher auch so ein Kandidat gewesen. Es ist einfach so, dass ich mich an solche Menschen, die ungefähr das Alter haben und nur minimale Fürsorge demonstrieren, einfach anlehne. Ohne mal mein Hirn zu fragen, ob das so schlau ist.
Und vielleicht ist das gar nicht so krass verwerflich, wenn auch die Umsetzung sicher bisweilen grenzwertig war. Und dass der Psychosomatik – Oberarzt gegangen ist, ist wahrscheinlich besser so. Auch, wenn es auf einer persönlichen Ebene echt schwer war. Aber noch so eine zwischenmenschlich schwierige Geschichte auf der Arbeit bräuchte ich jetzt eigentlich nicht.

Und manchmal denke ich nachts drüber nach, dass mein Papa mich bisher kein einziges Mal gefragt hat, wie es mir auf der Psychosomatik geht. Gestern hat er ein Bild in die Familien – whatsApp – Gruppe geschickt. Die Tochter von seiner Freundin hat geheiratet. Da wird dann irgendwie scheinbar doch an meine Schwester und mich gedacht. Was immer er uns damit sagen will.

So… - und ich schaue mal, was ich aus dem Tag heute mache… bis jetzt habe ich in Ruhe Kaffee getrunken, ein paar Dinge muss ich noch in der Stadt erledigen. Vielleicht mache ich das gleich mal; ich denke mit dem Kardiochirurgen muss ich heute nicht zu einer vernünftigen Uhrzeit rechnen… der Plan ist immerhin heute Plätzchen zu backen und einen Film zu schauen – wobei Film schauen zumindest schon mal eine minimale Einladung sein könnte, danach einfach nicht mehr nach Hause zu fahren.

Mondkind

P.S.: In der nächsten Zeit werdet Ihr dann von Schneebildern erschlagen...

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